Das Ende des Wilden Westens
Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass Desinformation das Vertrauen in Politik und Medien untergräbt und zu einer Polarisierung der öffentlichen Meinung beiträgt. Noch ist in der Forschung jedoch unklar, ob und in welchem Ausmaß bewusst verbreitete Falschinformationen tatsächlich das individuelle Wahlverhalten beeinflussen – und ob sie den Ausgang von Wahlen signifikant verändern. In einem im Januar 2025 in diesem Journal erschienenen Beitrag argumentiert der Autor, dass bisherige, insbesondere experimentelle Studien keine kausale Verbindung zwischen der Nutzung sozialer Medien und dem Wahlverhalten nachweisen konnten. Diese Einschätzung mag für die zitierten Studien zutreffen. Doch die Schlussfolgerung, die der Autor daraus zieht, greift zu kurz: Allein, weil direkte individuelle Effekte bislang kaum nachweisbar sind, bedeutet dies nicht, dass Desinformation insgesamt keinen Einfluss auf die politische Stimmung und den Ausgang von Wahlen haben kann. Oder einfacher ausgedrückt: Nur weil eine Person ein Video mit gefälschten Informationen sieht, ändert sie nicht komplett ihre Meinung. Wenn jedoch die Öffentlichkeit dauerhaft mit aus dem Zusammenhang gerissenen, verzerrten oder komplett erlogenen Informationen konfrontiert ist, hat dies durchaus Folgen für den politischen Diskurs und die Meinungsbildung.Fast jede Wahl im Superwahljahr 2024 war von Desinformation betroffen – in mehr als der Hälfte der Fälle kamen dabei KI-generierte Inhalte zum Einsatz.Fast jede Wahl im Superwahljahr 2024 war von Desinformation betroffen – in mehr als der Hälfte der Fälle kamen dabei KI-generierte Inhalte zum Einsatz. Nur weil es noch Zweifel am Einfluss solcher Kampagnen gibt, sollte man sie keinesfalls verharmlosen. Im Gegenteil: Dies muss ein Weckruf für demokratische Regierungen sein, sich dieser Gefahr entschlossen zu stellen. Dafür braucht es endlich eine Strategie. Lange Zeit zögerten demokratische Regierungen, aktiv darüber zu reden, wie sie Desinformation bekämpfen wollen. Die Sorge, in der öffentlichen Wahrnehmung als orwellsches „Wahrheitsministerium“ zu gelten, schien zu groß. Gänzlich unbegründet war diese Sorge nicht: Denn zum Repertoire anti-demokratischer Akteure gehörte stets, staatliche Maßnahmen zum Schutz des öffentlichen Diskurses als Eingriff in die Meinungsfreiheit zu diffamieren. Diese Rhetorik wird mittlerweile nicht nur von Russland angewandt, sondern auch von den USA – prominent vorgetragen vom Vizepräsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Regierungen demokratischer Staaten täten gut daran, diesem Vorwurf vehement entgegenzutreten, und gleichzeitig entschieden gegen Desinformation vorzugehen. Um dies selbstbewusst tun zu können, wäre eine nationale Strategie gegen Desinformation ein wichtiger Baustein. Übrigens ein Weg, den einige EU-Länder wie Frankreich, die Niederlande oder Schweden längst gegangen sind.In Europa gibt es mittlerweile die strengsten Regulierungsbestimmungen für Social-Media-Plattformen, mit dem Digital Services Act (DSA) als zentralem Instrument. Der frühere EU-Kommissar Thierry Breton sah mit der Einführung dieser Verordnung das „Ende des Wilden Westens“ im digitalen Raum gekommen. Und Europa hat in der Tat Recht damit, nun auch online die gleichen Rechte und Pflichten durchzusetzen, die schon lange und unumstritten in der analogen Öffentlichkeit gelten. In einer Demokratie ist es zentral ist, dass sich Menschen frei informieren, Meinungen bilden, Argumente austauschen und politischen Druck aufbauen können. Dies kann aber nur funktionieren, solange alle beteiligten Akteure sich auf ein Bündel fairer Spielregeln einigen und daran festhalten. Wenn den Informationen nicht mehr getraut werden kann, wenn Stimmungen durch Bots simuliert werden, wenn unterschiedliche Positionen und Personen systematisch niedergebrüllt, bedroht oder aus dem Diskurs herausgedrängt werden, dann entstehen gefährliche Dynamiken, die politische Prozesse verzerren. Analysen aus dem letzten Jahr zeigen: Weltweit wurden Desinformationskampagnen gezielt eingesetzt, um Wahlen zu beeinflussen. Deshalb fordern wir: Der Staat muss aktiv werden, um eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit zu schützen. Dabei wandelt er auf einem schmalen Grat zwischen der Verteidigung freier Meinungsäußerung und dem Schutz der demokratischen Öffentlichkeit. Ein systematischer Ansatz wäre die Entwicklung einer übergreifenden Strategie: eine gemeinsame Definition des Problems, klare politische Maßnahmen und eine Einigung über die zuständigen staatlichen Instanzen.Bislang haben lediglich sechs EU-Mitgliedstaaten eine eigene Strategie zum Umgang mit Desinformation und zur Stärkung der digitalen Öffentlichkeit vorgelegt – mit teils sehr unterschiedlichem Umfang und Tiefgang. Während einige Länder bereits umfassende Maßnahmenpakete vorweisen, die Bildung, Medienkompetenz, Technologieeinsatz und Monitoring verknüpfen, bleiben andere Konzepte vage oder beschränken sich auf einzelne Teilbereiche wie etwa die Regulierung von Social-Media-Plattformen. Angesichts der gesellschaftlichen Tragweite und der politischen Brisanz des Themas ist ein abgestimmtes, kohärentes Vorgehen auf nationaler wie europäischer Ebene unerlässlich. Unsere Forschung zeigt: Wirksame Strategien basieren auf einem gesamtgesellschaftlichen Ansatz, der Bildung, unabhängigen Journalismus, technologische Innovationen und kontinuierliches Monitoring von Social-Media-Plattformen gleichermaßen einbezieht – und dabei auf Langfristigkeit setzt. Nur so kann eine widerstandsfähige, plurale und informierte Öffentlichkeit dauerhaft gewährleistet werden.Die oft bemühte Metapher vom „Marktplatz der Ideen“ verkennt die Realität algorithmisch verstärkter Aufmerksamkeitsökonomien auf Plattformen wie Facebook, TikTok oder X.Die Tatsache, dass inzwischen auch aus den USA offene Kritik an solchen Maßnahmen kommt, unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit, sich als Regierung strategisch und kommunikativ besser aufzustellen. Dies umfasst neben einer Strategieentwicklung auch, proaktiver darüber zu kommunizieren, welche Maßnahmen ergriffen werden – und wo die Grenzen staatlicher Verantwortung liegen. Auf der anderen Seite des Atlantiks erleben wir gerade einen Kurswechsel, auch im Umgang mit Desinformation: Die neue US-Regierung und ihre engen Verbündeten in der Tech-Industrie propagieren ein Recht auf freie Meinungsäußerung, das keine Begrenzung zu kennen scheint. Besonders im Fokus stehen dabei die großen Social-Media-Plattformen. Die Art und Weise, wie diese Plattformen technisch aufgebaut sind – also wie ihre Algorithmen Hass, Hetze und Desinformation fördern, weil solche Inhalte lukrativ sind –, hat letztlich zu digitalen Maßnahmen wie dem DSA geführt. Während die EU zumindest einen Sheriff im digitalen „Wilden Westen“ haben möchte, scheint für die neue US-Regierung ein solcher Wilder Westen das Idealbild der absoluten Meinungsfreiheit zu sein. Die oft bemühte Metapher vom „Marktplatz der Ideen“, auf dem sich die Wahrheit im freien Wettbewerb der Meinungen durchsetze, verkennt die Realität algorithmisch verstärkter Aufmerksamkeitsökonomien auf Plattformen wie Facebook, TikTok oder X.Denn absolute Meinungsfreiheit und keinerlei Regeln bedeuten hier das Recht des Stärkeren oder des Lauteren. Konstruktive und differenzierte Beiträge gehen unter, leise Stimmen finden kein Gehör, marginalisierte Perspektiven werden aus dem Diskurs verdrängt. Dies ist das Gegenteil von demokratischer Willensbildung und einem pluralen Diskurs. Versuche, diesen Diskurs vor gezielter Manipulation zu schützen, werden in den USA jetzt offen als Angriffe auf die Meinungsfreiheit verunglimpft. Demokratische Regierungen sollten dem entschieden entgegentreten – kommunikativ wie politisch. Denn Maßnahmen gegen Desinformation sind kein Angriff auf Freiheitsrechte, sondern ein notwendiger Schutz für die demokratische Öffentlichkeit. Hoffnung macht, dass die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag dem Thema Desinformation deutlich mehr Gewicht beimisst. Entscheidend ist nun, diesen Ankündigungen Taten folgen zu lassen und das Thema ganzheitlich strategisch anzugehen.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal