Raus aus dem Hinterhof

12.05.25 13:23 Uhr

In den vergangenen 100 Tagen wurde eine alte, tief verankerte – und zunehmend realitätsferne – Vorstellung auf eine harte Probe gestellt. Sie besagt, dass Lateinamerika und die Karibik eine natürliche Einflusssphäre der Vereinigten Staaten darstellen. Die fehlgeleitete, auf Zwang und Konfrontation setzende Außenpolitik von Präsident Donald Trump dürfte sich als der finale Schlag gegen die Idee erweisen, dass diese Region unumstößlich unter der exklusiven Kontrolle Washingtons stehe. Wenn der Begriff der Einflusssphäre bedeutet, dass eine Großmacht nahezu vollständige Kontrolle über ein geografisches Gebiet ausübt – politisch, wirtschaftlich, kulturell und militärisch –, dann ist Washington im Begriff, diesen Anspruch auf Lateinamerika und die Karibik unwiderruflich zu verlieren.Seit dem Beginn von Trumps zweiter Amtszeit wird die Region von der US-Regierung nicht wie ein gleichwertiger Partner, sondern wie ein kontrollierbares Versuchsfeld behandelt – wie ein Ort, an dem Macht demonstriert, Grenzen getestet und politische Muskelspiele aufgeführt werden. Eine wahre Lawine einschüchternder Maßnahmen wurde entfesselt: Migrantinnen und Migranten werden kriminalisiert, Abgeschobene entmenschlicht, territoriale Drohungen ausgesprochen, Handelsinstrumente zu Waffen umfunktioniert, militärische Interventionen angedeutet, ganze Nationen beleidigt und ihre demokratisch gewählten Führungen herabgewürdigt. Solche Praktiken mögen dem innenpolitischen Kalkül der MAGA-Koalition dienen – doch sie hinterlassen international vor allem verbrannte Erde. Während die Demokraten im Kongress überwiegend schweigen, bedeutet das Schweigen der lateinamerikanischen Staaten keineswegs Zustimmung. Es ist ein stilles Zeichen wachsender Einsicht: Die Welt ist deutlich größer sowie vielfältiger, und bietet mehr alternative Optionen, als die selbstbezogene, verklärte Verheißung eines neuen US-amerikanischen Goldenen Zeitalters suggeriert.Die Vereinigten Staaten agieren zunehmend wie eine revisionistische Macht – jedoch in einer bizarren, widersprüchlichen Form.Die Vereinigten Staaten agieren zunehmend wie eine revisionistische Macht – jedoch in einer bizarren, widersprüchlichen Form: Nicht als aufstrebende Kraft mit visionärem Anspruch, sondern als absteigende Großmacht, getrieben von Frustration, nostalgischem Expansionsdrang und aggressiver Ungeduld. Statt zur Ordnung beizutragen, stiften sie gezielt Unordnung, reißen multilaterale Konsense ein und säen globale Unsicherheit. Die außenpolitischen Entscheidungsträger der MAGA-Bewegung sind keine strategischen Falken, sondern vielmehr politische Wölfe: Sie operieren rücksichtslos, fördern Instabilität und besitzen einen gefährlichen Hang zur Eskalation. In ihrer Rücksichtslosigkeit überschreiten sie immer wieder rote Linien, die für die Region von zentraler Bedeutung sind – sei es mit Drohungen, den Panamakanal erneut unter US-Kontrolle zu bringen, oder mit unverhohlenen Andeutungen über mögliche militärische Operationen in Mexiko. Solche Äußerungen machen Washington zunehmend zu einem unzuverlässigen Partner – sowohl für Regierungen als auch für private und zivilgesellschaftliche Akteure in Lateinamerika. Lediglich einige wenige autoritär-populistische Staatschefs – wie Nayib Bukele in El Salvador, Javier Milei in Argentinien oder Daniel Noboa in Ecuador – orientieren sich öffentlich und in positivem Maße an den Ideen des Trumpismus.Die toxische Kombination aus kompromisslosem Unilateralismus und radikalem Bilateralismus, wie sie von den USA derzeit praktiziert wird, droht jede Form regionaler und globaler Zusammenarbeit zu zerstören. Besonders alarmierend ist, dass manche Hardliner in Washington sogar bereit sind, zentrale Bestandteile des interamerikanischen Systems – wie die Organisation Amerikanischer Staaten oder die Interamerikanische Entwicklungsbank – gezielt zu demontieren. Auch werden die für viele Länder der Region wichtigen Entwicklungsprojekte von USAID eingestellt oder massiv unterfinanziert. In dieser Logik scheint es nur eine tatsächlich akzeptable Präsenz der USA in der Region zu geben: das Southern Command in Miami – eine militärische Struktur, die ohnehin mit der zunehmenden Tendenz der Versicherheitlichung zivil-militärischer Beziehungen in Lateinamerika in Verbindung steht. Anti-Terror-Rhetorik und die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit, insbesondere im Kampf gegen organisierte Kriminalität, werden zum bevorzugten Instrumentarium, um diesen sicherheitspolitischen Kurs durchzusetzen.Das radikale Abrücken vom Multilateralismus öffnet Räume für andere Akteure, die bereit sind, mit der Region auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten.Doch was die strategischen Planer in Washington zu übersehen scheinen: Zwang, Wut und Konfrontation können zwar kurzfristig verunsichern – doch sie schaffen keine nachhaltige Wirkung. Im Gegenteil: Das radikale Abrücken vom Multilateralismus öffnet Räume für andere Akteure, die bereit sind, mit der Region auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Für viele Länder des Globalen Südens – und für Lateinamerika im Besonderen – öffnet sich jetzt ein historisches Fenster: die Gelegenheit, sich von der Umklammerung einer alternden Großmacht zu lösen und neue Partnerschaften einzugehen – in den Bereichen Handel, Technologie, Investitionen, Umwelt, Sicherheit, Bildung und Kultur. Und diese neuen Horizonte beschränken sich längst nicht mehr nur auf China. Auch die Europäische Union, Indien, Südostasien und die arabischen Golfstaaten gewinnen an Bedeutung.Vor diesem Hintergrund wird wirtschaftliche Diversifizierung zu einer geopolitischen Notwendigkeit. Die Region strebt verstärkt Handelsabkommen mit Europa, dem Indo-Pazifik und den ASEAN-Staaten an, testet alternative Währungen im Rahmen von BRICS-Kooperationen und treibt die Süd-Süd-Zusammenarbeit energisch voran. Pragmatismus wird zum Markenzeichen der lateinamerikanischen Außenpolitik – ohne ideologische Scheuklappen, aber mit strategischem Kalkül. Gleichzeitig erlebt die Bürgerdiplomatie mit nichtstaatlichen Akteuren aus Nord und Süd eine Renaissance – getragen von neuen normativen und praktischen Impulsen in Fragen der Menschenrechte, des Umweltschutzes, der Energiewende, internationaler Gerichtsbarkeit, Gleichstellung, Wissenschaft und friedlicher Konfliktlösung.Insgesamt zeigt die Region heute mehr Widerstandskraft als je zuvor – und sie sendet ein deutliches Signal: Lateinamerika wird nicht stillschweigend „in den Ozean zurücksinken“, wie es in einer in Sphären aufgeteilten Welt früher oft suggeriert wurde. Ja, die Außenpolitik der MAGA-Bewegung stiftet Unordnung. Ja, sie treibt die Welt an den Rand eines Abgrunds. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass die Welt auch bereit ist, sich in diesen Abgrund stoßen zu lassen.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal