Realistisch und pragmatisch
Die neue Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag „dem strategischen Stellenwert Afrikas gerecht werden“. Das ergibt Sinn. Wer einen regelbasierten Multilateralismus verteidigen und damit auch den wirtschaftlichen Wohlstand Deutschlands absichern will, wird dies kaum ohne afrikanische Länder tun können. Wer Fachkräfte für ein alterndes Land anwerben will, wird dafür attraktive Angebote an afrikanische Gesellschaften entwickeln müssen. Und wer den Frieden in Europa schützen will, muss gemeinsam mit afrikanischen Partnern auch für Stabilität an der Südflanke der NATO sorgen, wo sich derzeit vom Horn von Afrika bis nach Westafrika bewaffnete Konflikte ausbreiten. Als starke Mittelmacht wird Deutschland nun eine ungewohnte afrikapolitische Führungsrolle in der EU übernehmen müssen, auch weil Frankreich aufgrund seines jahrzehntelangen Paternalismus in Afrika diskreditiert ist. Die neue Bundesregierung hat dabei kaum Zeit zum Aufwärmen: Der nächste Gipfel der Afrikanischen und der Europäischen Union wird voraussichtlich schon in der zweiten Jahreshälfte 2025 stattfinden.Umso besorgniserregender ist der derzeitige europäische Kurs gegenüber Afrika. Die EU vermittelt derzeit eher den Eindruck, sie wolle sich lieber vor afrikanischen Menschen schützen, als Partnerschaften mit afrikanischen Ländern voranzutreiben. Dementsprechend ist Europa zwar weiterhin der größte Handelspartner, aber laut Umfragen in Afrika unbeliebter als China. Es ist kurzsichtig, den Kontinent lediglich als geopolitisches Schachbrett zu betrachten. Der Wettbewerb um Einflusssphären ist auch 140 Jahre nach der Berliner Kongokonferenz (1884/1885) Gift für die Festigung von Partnerschaften in Afrika. Wer afrikanische Erfahrungen mit Imperialismus, Kolonialismus und Stellvertreterkonflikten verkennt, wer die eigene Verantwortung dafür nicht aktiv aufarbeitet und wer sein afrikapolitisches Engagement lediglich mit Chinas und Russlands Einfluss begründet, der wird kaum Partner auf dem Kontinent finden.Während die Sahel-Region schon länger im Fokus steht, fehlte es bisher an einem strategischen Vorgehen am Horn von Afrika.Was kann die neue Bundesregierung nun afrikapolitisch priorisieren? Vergleichsweise konkret ist das Bekenntnis im Koalitionsvertrag, dass man einen „besonderen Fokus auf die Stabilisierung des Sahel und des Horns von Afrika“ legen will. Während die Sahel-Region im Schulterschluss von Entwicklungs- und Verteidigungsministerium schon länger im Fokus steht, fehlte es bisher an einem strategischen Vorgehen am Horn von Afrika. Ohne Stabilität dieser Region bleibt der Außenhandel der EU direkt gefährdet, was das Exportland Deutschland ganz besonders hart trifft. Jeder dritte in die EU importierte Schiffscontainer fährt am Horn von Afrika vorbei durch das Rote Meer. Nach den geleakten Nachrichten von US-Vize Vance weiß man, dass sich auch die USA der besonderen Bedeutung der Region für Europa bewusst sind und ihr eigenes Engagement hinterfragen.Die Region ist instabiler denn je. Im Sudan herrschen Krieg und die größte humanitäre Katastrophe weltweit. Die jüngste Sudan-Konferenz in London ist gescheitert. In Somalia stoppt nur eine Friedenstruppe der Afrikanischen Union (AU) die Übernahme der Hauptstadt durch den Al-Qaida-Ableger Al-Shabaab, während sich einzelne Landesteile abspalten wollen. Äthiopien sucht immer offensiver einen Zugang zum Roten Meer. Es droht ein neuer Krieg mit Eritrea. Im Südsudan droht ebenfalls Krieg, weil die Gewalt im Sudan die Grenze überquert hat und kaum noch Öl exportiert werden kann. Deutsche Diplomaten mussten das Land verlassen. Hinzu kommt, dass Kenia die vom Westen zugeschriebene Rolle als neue Ordnungsmacht der Region nicht ausfüllen kann. Die Regierung Ruto agiert nach einer Protestwelle im Jahr 2024 innenpolitisch paranoid und wirkt außenpolitisch gleichermaßen ambitioniert wie überfordert.Die Konflikte am Horn von Afrika sind schon lange regionalisiert. Nachbarländer wollen sich bei Friedensverhandlungen Mitsprache sichern, nun kommen neue Mittelmächte mit Finanzkraft hinzu. Hierbei handelt es sich um die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Russland und den Iran. Hinzu kommen das internationale Terrornetzwerk IS sowie die Kooperation der somalischen Miliz Al-Shabaab mit den Huthi-Rebellen im Jemen auf der anderen Seite des Roten Meeres. Die zunehmende Zahl externer Akteure führt zu konkurrierenden Foren in der Region, die vorgeblich über Frieden verhandeln, die Suche danach jedoch eher erschweren – eine typische Begleiterscheinung von Multipolarität. AU und Vereinte Nationen (UN) wirken überfordert. Es braucht daher abgestimmte Ansätze in neuen Zweckbündnissen; vermutlich auch besonders ungewöhnliche, kurzfristige und pragmatische, die es aber vermögen, destabilisierende Einflüsse von externen Akteuren zu reduzieren. Bedingung für Stabilität bleibt, dass alle Mechanismen in der Region Ownership entwickeln können. Funktionieren wird nur, was eng mit der AU abgestimmt ist. Es braucht also einen Ansatz, der das regionale Konfliktsystem in den Blick nimmt, die Rolle der AU stärkt, durch regionale Diplomatie Vertrauen schafft und genügend Abschreckungswirkung auf Spoiler von außerhalb der Region entfacht.Trotz berechtigter Kritik an der Innenpolitik und trotz konfligierender Interessen: Die Türkei und China verbindet mit Deutschland das gemeinsame Interesse an mehr Stabilität am Horn von Afrika.Ein solcher Ansatz könnte ein von der neuen Bundesregierung initiiertes Kooperationsformat der EU mit China und der Türkei zur Stärkung der Friedensbemühungen der AU am Horn von Afrika sein. Trotz konfligierender Interessen in anderen Teilen der Welt und offensichtlicher Unterschiede der jeweiligen politischen Systeme verbindet die Türkei und China mit Deutschland das gemeinsame Interesse an mehr Stabilität am Horn von Afrika. Warum ausgerechnet diese drei Länder? Deutschland ist weiterhin in UN-Missionen in der Region engagiert, gilt als ehrlicher Vermittler, der auch die Zivilgesellschaft einbezieht, der die AU finanzstark unterstützt, und ist inzwischen das einflussreichste EU-Mitglied am Horn von Afrika. In der Region wird Deutschland zudem immer offener gefragt, welche seine Interessen und erreichbaren Ziele sind. Darauf braucht es weniger abstrakte Antworten. Die Türkei hat ihren Einfluss in der Region stark ausgebaut und konnte zuletzt überraschende Erfolge bei der Vermittlung zwischen Somalia und Äthiopien erzielen. Im Sudan-Krieg wird Ankara hingegen als zu einseitig auf Seiten der Regierung in Port Sudan angesehen. Dennoch: Derzeit ist die Türkei wohl das einflussreichste NATO-Mitglied in Afrika. China, mit dem es sich am Horn von Afrika niemand verscherzen will, ist weiterhin an UN-Friedensmissionen in der Region beteiligt, unterhält einen Militärstützpunkt in Dschibuti, finanziert Infrastruktur und interessiert sich für Bodenschätze in der Region. Die Volksrepublik will sich zukünftig bei der Stärkung afrikanischer Sicherheitskräfte im Rahmen der Globalen Sicherheitsinitiative engagieren, wovon auch die AU profitieren soll.Die EU hat mit ihrer Horn-von-Afrika-Initiative bereits einen finanzstarken Rahmen geschaffen, durch den schon heute grenzübergreifende Infrastrukturvorhaben in der Region realisiert werden. Der chinesische Außenminister Wang Yi bot auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine bessere Verzahnung der Belt and Road Initiative mit der Global Gateway Initiative der EU an. Dies ließe sich am Horn von Afrika konkretisieren. Auch die Türkei finanziert derzeit ambitionierte Infrastrukturvorhaben in der Region, die von den bewaffneten Konflikten gefährdet werden. Die Summe dieser Anreize bedeutet erhebliche Druckmittel für Friedensbemühungen und humanitäre Zugänge, die man abgestimmter nutzen sollte. Vor diesem Hintergrund sollte die Bundesregierung eine solche trilaterale Koordination am Horn von Afrika zumindest versuchen oder konkrete alternative Formate vorschlagen, die einflussreiche, nicht-westliche Länder nicht nur einlädt, sondern in deren Konzeption von Anfang an einbezieht.Klar ist, dass China gleichzeitig Wettbewerber und Rivale Deutschlands bleiben wird. Am Horn von Afrika kann der inzwischen wohl wichtigste Partner des Kontinents aber auch Europas vorübergehender Partner in einem solchen Zweckbündnis werden. Das gleiche gilt für die Türkei, deren Einfluss in Afrika absehbar weiter zunehmen wird. Die unangenehme Erkenntnis der letzten Jahre ist: Weder die G7, noch die EU, aber auch nicht die AU oder die UN haben noch ausreichenden Einfluss, um die entscheidenden Akteure aus der Region und interessierte Mittelmächte von außerhalb an einen Tisch zu bringen. Dafür braucht es neue und besser abgestimmte Formate mit anderen. Außenpolitik ausschließlich in Freund-Feind-Kategorien zu denken, führt bei der Suche nach Frieden am Horn von Afrika jedenfalls nicht weiter, in der Sahel-Region ist es ähnlich. Wir werden uns wohl daran gewöhnen müssen. Denn die Suche nach ungewöhnlichen Koalitionen und Formaten jenseits des „alten Westens“ wird ein immer notwendigerer außenpolitischer Modus in einer multipolaren Welt.Dieser Beitrag ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung der Analyse „Afrikapolitik nach der Bundestagswahl: 5 Ideen“.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal