Am Kippunkt
Schildkröten bewegen sich meist behäbig und ziehen sich bei Gefahr gern in ihren Panzer zurück. So gesehen passen die Vereinten Nationen gut nach „Turtle Bay“, jenen kleinen Stadtteil in Manhattan, in dem sich jedes Jahr im September die Staats- und Regierungschefs zu einer Woche der Spitzendiplomatie treffen. Ein solches Treffen ist immer besonders. In diesem Jahr war es das umso mehr. Nicht nur, weil es zum symbolträchtigen 80. Gründungsjubiläum der Vereinten Nationen stattfand, sondern auch, weil in der routineverliebten UN-Welt immer lauter die Frage dringt, ob man auch den nächsten runden Geburtstag noch gemeinsam feiern wird.Während Multilateralisten mit Phantomschmerzen rätseln, wie die regelbasierte Ordnung „aufrechterhalten“ werden kann, gleitet die Welt weiter in die Regellosigkeit. Massenverbrechen in Gaza? Angriffskrieg in der Ukraine? Versenkung ziviler Boote vor Venezuela? Alles ist erlaubt. Ein handlungsfähiger UN-Sicherheitsrat? Fehlanzeige. Ein UN-Generalsekretär als Konfliktvermittler? Lange nicht gesehen. UN-Friedenseinsätze? Im Insolvenzverfahren. Klimakrise, Schuldenkrise, Handelskrieg? Stimmt, da war noch was. Wenn in immer mehr Staaten Außenpolitik von faschistischen, bellizistischen und nationalistischen Akteuren geprägt wird, verwundert es nicht, dass internationale Verständigung inzwischen zum diplomatischen Hochleistungssport geworden ist. Die Rückbesinnung auf die eigene Sicherheit und die nationalen Interessen gehört dabei zum täglichen Aufwärmtraining.Und doch: Die überwältigende Mehrheit der 193 Staaten, die sich vergangene Woche trafen, weiß, dass eine Welt, die nach Regeln funktioniert, besser für die eigene Sicherheit ist. Und dass es im nationalen Interesse liegt, bei grenzüberschreitenden Problemen den Schulterschluss mit anderen zu suchen. Nur weiß derzeit niemand so genau, wie das in einer Welt ohne Gleichgewicht und ohne Hegemon funktionieren soll. Die UN-Generalversammlung ist nicht dafür ausgelegt, solche Antworten zu liefern. Aber sie ist Pulsmesser für den Zustand der internationalen Ordnung und sendet Signale, inwieweit Multilateralismus in einer multipolaren Welt gelingen kann. Wer zu dieser wohl wichtigsten Generalversammlung des Jahrzehnts ohne Regierungschef anreiste, setzte damit ebenfalls ein Signal. Deutschlands Kanzler blieb in Berlin.Nie gab es in den vergangenen 80 Jahren mehr Konflikte als heute.In einer zerfallenden Ordnung entstehen Machtvakua und in diesen gedeihen Kriege. Nie gab es in den vergangenen 80 Jahren mehr Konflikte als heute. Sie hingen wie eine dunkle Wolke über dem Treffen und spiegelten sich in fast allen Reden wider. Sudan, Ukraine und an erster Stelle: Gaza. Die UN-Mitglieder sind in der Gaza-Frage enger zusammengerückt. Zum Auftakt des Spitzentreffens erkannten Frankreich, Kanada, Portugal, Großbritannien und viele andere Länder Palästina als eigenständigen Staat an. Die Generalversammlung forderte die Entwaffnung der Hamas und unumkehrbare Schritte hin zu einer Zwei-Staaten-Lösung. Eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats veröffentlichte kurz zuvor ihre Rechtsauffassung, wonach Israel Völkermord begehe.Derweil zerfällt die UN-Architektur im Nahen Osten. Auf Drängen der USA wurde das Mandat der UN-Friedensmission im Libanon beendet. Die Infrastruktur des UN-Palästinenserhilfswerks in Gaza liegt in Trümmern. Palästinenserinnen und Palästinenser, die sich stattdessen zu den Lebensmittelverteilstationen der von den USA und Israel eingesetzten Gaza Humanitarian Foundation begeben, riskieren ihr Leben. Immer wieder werden Hilfsbedürftige dort beschossen. Aus Sicht der großen Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten sind sämtliche roten Linien überschritten. Während des Gipfeltreffens zur Zwei-Staaten-Lösung schöpfte Deutschlands Außenminister die politischen Spielräume, die ihm die Regierungskoalition daheim derzeit zugesteht, zumindest rhetorisch aus. Bei vielen UN-Mitgliedsstaaten bleibt dennoch Kopfschütteln über Deutschlands Nahostpolitik.Als weitere dunkle Wolke sorgte die akute Finanzkrise der UN für Gesprächsstoff. Sie wurde durch den Rückzug der USA deutlich verschärft. In der Folge fehlt wichtigen Projekten das Geld, tausende UN-Mitarbeitende verlieren ihre Jobs. Die finanzielle Krise ist zugleich Ausdruck der politischen Lähmung der UN. Wer von der Leistungsfähigkeit einer Organisation überzeugt ist, lässt sie nicht pleitegehen. Der UN-Generalsekretär reagierte auf die Finanzkrise mit einem hastig zusammengestellten, „UN80“ getauften Reformprozess und legte Vorschläge vor, wie Mandate verschlankt, Doppelstrukturen abgebaut und Arbeitsabläufe verbessert werden können.Eine tiefgreifende Reform der UN wird maßgeblich in den Händen der neuen Führung liegen.Viele Stimmen auf der Generalversammlung forderten, dass Reformen von einer Diskussion über das künftige Leitbild der UN begleitet werden müssen. Die kommenden Monate bieten sich dafür an, denn die 80. Generalversammlung läutet zugleich den Prozess für die Suche nach einer Nachfolge für Antonio Guterres ein, dessen Amtszeit Ende 2026 ausläuft. Längst haben die Kampagnen potenzieller Kandidatinnen und Kandidaten begonnen. Eine tiefgreifende Reform der UN wird maßgeblich in den Händen der neuen Führung liegen.Aber selbst die effizientesten Institutionen funktionieren nur so gut, wie es der politische Wille ihrer Mitgliedsstaaten zulässt. Und an diesem scheitert die wichtigste und seit Jahrzehnten überfällige Reform: die des UN-Sicherheitsrats. Sie ist unerlässlich, um die UN sicherheitspolitisch wieder handlungsfähig zu machen. An Vorschlägen dafür mangelt es ebenso wenig wie an den Fähigkeiten der fünf ständigen Veto-Mächte, diese zu durchkreuzen. Diese ansonsten zerstrittene Gruppe zeigt sich bei der Verteidigung ihrer antiquierten Privilegien einig.Doch da sich die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mit den Institutionen des 20. Jahrhunderts lösen lassen, gibt es inzwischen erste Initiativen, die eine umfassende Charta-Reform vorantreiben wollen. In dieser Situation erfährt die Generalversammlung eine Aufwertung. Sie hat es immer wieder geschafft, bei Blockaden im Sicherheitsrat das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Und nachdem Annalena Baerbock als neue Präsidentin der Generalversammlung die Staaten überzeugend durch die vergangene Woche geführt hat, dürfte nun auch in deutschen Kommentarspalten erkennbar werden, dass eine ehemalige Außenministerin in einem solchen Amt zu einer solchen Zeit ein wichtiges politisches Pfund ist.Die Woche brachte auch Treffen zu vielen weiteren Themen, darunter zur Klimapolitik. US-Präsident Trump bezeichnete den Klimawandel vor der Generalversammlung als Betrug und forderte die Weltgemeinschaft auf, mehr Öl und Gas zu verbrennen. Einen Tag später zeigte ein UN-Klimagipfel, dass die USA mit dieser Haltung in der Staatengemeinschaft vollständig isoliert sind. Brasiliens Präsident Lula und andere Vertreter des Globalen Südens sprachen in ihren Reden neben sicherheits-, klima- und umweltpolitischen Fragen auch brennende soziale und wirtschaftliche Probleme an – darunter die immer obszöner werdende private Vermögens- und Machtkonzentration. Richtig so.Will man dem grassierenden Nationalismus entgegentreten, muss internationale Kooperation erkennbar die Lebensbedingungen der Menschen verbessern.Das laufende Jahrzehnt wird vermutlich den ersten Trillionär der Welt hervorbringen. Wer an einem funktionierenden Multilateralismus interessiert ist, sollte sich klarmachen, dass Trump & Co. auch ein Resultat einer globalen Wirtschaftsordnung sind, die zu oft die Profite weniger privater Akteure über das Gemeinwohl von Gesellschaften und über die Belastungsgrenzen des Planeten gestellt hat. Will man dem grassierenden Nationalismus entgegentreten, muss internationale Kooperation erkennbar die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Vierzig Jahre neoliberale Globalisierung haben in vielen Regionen und Gesellschaftsschichten jedoch den gegenteiligen Eindruck hinterlassen.Die 193 UN-Mitgliedsstaaten werden auf absehbare Zeit immer wieder an gefährliche Kipppunkte geraten, bevor sie hoffentlich ein neues Gleichgewicht finden. In dieser Übergangsphase ist es realistisch anzunehmen, dass Regeln brüchiger, Partnerschaften widersprüchlicher, Diplomatie komplexer und Kompromisse schwieriger werden. Für multilateral gesinnte Staaten empfiehlt sich daher eine Doppelstrategie aus Bewahren und Verändern.Bewahrt werden muss die UN-Charta als gemeinsamer Bezugspunkt der auseinanderdriftenden Pole. Bewahrt werden müssen Institutionen, die den Staaten bewährte Mechanismen zur Problembewältigung bieten. Erneuert werden müssen Vertrauen und Konsense. Verändert werden müssen Wirtschaftsweisen, Machtverhältnisse, Prioritäten, Leitbilder und anachronistische Gebilde wie der Sicherheitsrat. Das ist möglich. Die UN-Mitgliedsstaaten haben auch während des Kalten Krieges ähnlich schwierige Phasen erlebt – und gemeistert.Angesichts der abschüssigen Bahn, auf der sich die Welt bewegt, bedarf es dafür jedoch mehr multilateralen Gestaltungswillens, als die Hauptstädte derzeit aufbringen. Trotz aller berechtigten Kritik an den in über acht Jahrzehnten gewachsenen Strukturen bietet die UN den Staaten dafür eingespielte Verfahren und wiederkehrende Foren – darunter die jährliche Generalversammlung in Turtle Bay. Schildkröten kehren im Übrigen in großer Regelmäßigkeit an ihren Geburtsort zurück, damit dort Neues entstehen kann. Es zahlt sich aus: Viele werden deutlich über 80 Jahre alt.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal