Comeback des Altstars

16.10.25 09:35 Uhr

Der ehemalige griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras scheint keine Lust mehr zu haben, eine Nebenrolle auf der politischen Bühne des Landes zu spielen. Am 6. Oktober erklärte er nach 14 Jahren im Parlament seinen Austritt aus der linken Partei Syriza. Offiziell begründete er den Schritt mit dem Wunsch, sich ins private Leben zurückzuziehen und den Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern zu vertiefen. Doch vieles spricht dafür, dass es sich weniger um einen endgültigen Rückzug als vielmehr um eine taktische Pause handelt – um einen sorgfältig inszenierten Zwischenschritt auf dem Weg, sein angekratztes Image zu reparieren, bevor Tsipras erneut versucht, die Führungsrolle im progressiven Lager Griechenlands zu übernehmen.Nach zwei schweren Wahlniederlagen 2023 hatte Tsipras bereits zuvor die Syriza-Führung abgegeben. Seither arbeitet er an einem Imagewandel: vom polarisierenden Ex-Premier, der 2015 mit seinem Wahlkampf gegen Austeritätspolitik an die Macht kam, kurz später aber ein drittes Rettungsabkommen mit den Gläubigern Griechenlands unterzeichnete, hin zu einem nachdenklichen, strategisch agierenden progressiven Politiker, der in der Lage ist, die zersplitterte Linke wieder zu einen. Syriza liegt in den Umfragen derzeit bei unter zehn Prozent und droht damit in die politische Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Die Partei rangiert hinter der sozialdemokratischen PASOK, der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), der rechtsradikalen „Griechischen Lösung“ sowie der linkspopulistischen Plefsi Eleftherias („Kurs der Freiheit“).Plefsi Eleftherias wird von der ehemaligen Syriza-Funktionärin Zoe Konstantopoulou geführt. Sie ist eine von vier Parteien, die in den vergangenen Jahren von Abgeordneten gegründet wurden, die Syriza aus Unzufriedenheit mit Politik oder Führungsstil verlassen haben. Insofern würde Tsipras keinen neuen Weg einschlagen, sollte er sich ebenfalls dazu entschließen, eine eigene politische Initiative zu starten.In seinem Rücktrittsvideo und in einem anschließenden Zeitungsinterview äußerte sich Tsipras nicht zu seinen Zukunftsplänen. Stattdessen erläuterte er die Gründe für seinen Austritt aus Syriza: Das Parlament, so Tsipras, versage gegenüber der griechischen Bevölkerung. Während die konservative Regierungspartei Nea Dimokratia die Rechtsstaatlichkeit aushöhle, sei es der zersplitterten Opposition nicht gelungen, die Regierung wirksam zur Rechenschaft zu ziehen. Seine Diagnose der Probleme der griechischen Demokratie ist nicht von der Hand zu weisen: Enthüllungen über illegale Abhörmaßnahmen, die unzureichende Aufklärung eines tödlichen Zugunglücks und weitere Skandale während der sechsjährigen Amtszeit der konservativen Regierung haben zu einer tiefen Skepsis gegenüber der Kompetenz und Aufrichtigkeit der Politik geführt.Laut einer aktuellen Umfrage des Pew Research Center sind 83 Prozent der Griechinnen und Griechen der Meinung, ihr politisches System brauche eine umfassende Reform oder gar eine vollständige Neugestaltung – einer der höchsten Werte unter den 25 untersuchten Ländern. Auch das Vertrauen in die gewählten Vertreter ist erschreckend gering: 78 Prozent glauben, dass nur wenige oder gar keine Abgeordneten ehrlich sind, und 73 Prozent sind überzeugt, dass die Bedürfnisse der einfachen Bevölkerung weder gehört noch verstanden werden. Diese Werte liegen weit über dem globalen Durchschnitt und deuten auf eine handfeste Legitimitätskrise hin.Nur wenn es einer Führungspersönlichkeit gelingt, das progressive Lager wieder zu vereinen, bestünde eine realistische Chance auf einen Machtwechsel.Das griechische Wahlsystem spielt der konservativen Regierung derzeit in die Hände. Zwar hat die Unterstützung für die Nea Dimokratia in den vergangenen zwölf Monaten deutlich abgenommen – nur noch rund 30 Prozent der Wahlberechtigten können sich vorstellen, die Konservativen zu wählen. Unter diesen Voraussetzungen dürfte es Ministerpräsident Mitsotakis schwerfallen, bei den nächsten Wahlen 2027 Geschichte zu schreiben und zum dritten Mal in Folge eine absolute Mehrheit zu erringen. Doch selbst dann könnte er über Koalitionen an der Macht bleiben: Das Wahlsystem sieht für die stärkste Partei einen Bonus von bis zu 50 Parlamentssitzen vor. Die größte Oppositionspartei PASOK liegt derzeit bei weniger als 15 Prozent, während alle anderen linken Parteien im einstelligen Bereich verharren.Diese Zersplitterung stellt ein enormes Hindernis für die Opposition dar, wenn es darum geht, Mitsotakis abzulösen. Nur wenn es einer Führungspersönlichkeit gelingt, das progressive Lager wieder zu vereinen, bestünde eine realistische Chance auf einen Machtwechsel. Die entscheidende Frage ist daher nicht nur, ob Tsipras dieser Einiger sein kann, sondern auch, ob er den Wählerinnen und Wählern tatsächlich etwas Neues und Überzeugendes anzubieten hat.Der Ex-Premier betont selbst, dass eine auf einzelne Persönlichkeiten zugeschnittene Politik nicht ausreiche, um die gegenwärtige Lage zu verbessern. Auch laut Pew Research sehnen sich die Griechinnen und Griechen zwar nach Veränderung, doch fast 70 Prozent bezweifeln, dass diese überhaupt möglich ist. Dieses griechische „Verlangen ohne Zuversicht“ zählt zu den am stärksten ausgeprägten weltweit. Es herrscht ein tiefes Gefühl politischer Lähmung und es braucht überzeugende politische Konzepte, statt lediglich einzelnen, gut vorgetragenen Statements.Zu seinen künftigen Plänen und Visionen hat sich Tsipras bislang nur vage geäußert. In einem Zeitungsinterview nach seinem Rücktritt sprach er erneut seine Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit an: Griechenland brauche einen „Schock der Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Demokratie“. Auf einer Konferenz im September präsentierte er zudem einen „Nationalen Wiederaufbauplan“ mit neun Säulen, darunter ein staatlich gelenktes Wachstumsmodell, „demografische Resilienz“ sowie einen „patriotischen Beitrag“ wohlhabender Bürgerinnen und Bürger zur Finanzierung von Jugendbildung, Forschung und Wohnraum.In der Wirtschaftspolitik plädiert Tsipras für eine klassisch sozialdemokratische Agenda, die auf Umverteilung und gezielte öffentliche Investitionen setzt.In der Wirtschaftspolitik plädiert Tsipras für eine klassisch sozialdemokratische Agenda, die auf Umverteilung und gezielte öffentliche Investitionen setzt. Damit grenzt er sich zwar klar von der marktorientierten Strategie von Mitsotakis ab, doch dürfte das allein kaum ausreichen, um eine ausreichende Anzahl griechischer Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren.Ob ein Comeback von Tsipras gelingt, wird davon abhängen, ob es ihm gelingt, mit konkreten politischen Maßnahmen glaubwürdige Antworten auf die zahlreichen Probleme der griechischen Bevölkerung zu geben. Dazu zählen der marode Zustand staatlicher Institutionen, weitverbreitete Korruption, ungleich verteilte Gewinne im Zuge des griechischen Bailouts, steigende Lebenshaltungskosten und eine der niedrigsten Kaufkräfte in der gesamten Europäischen Union.Tsipras könnte versuchen, eine neue Partei zu gründen oder als einigender Kopf einer progressiven Allianz aufzutreten. Unabhängig davon, welchen Weg er wählt, wird seine zentrale Aufgabe darin bestehen, den Griechinnen und Griechen den Glauben zurückzugeben, dass ein grundlegender Wandel tatsächlich möglich ist. Auch wenn er in letzter Zeit bemüht war, einen Schlussstrich unter seine politische Vergangenheit zu ziehen, könnte gerade diese als Inspirationsquelle dienen. Denn die schwierigen Verhandlungen mit der „Troika“ im Jahr 2015 und die Austeritätsmaßnahmen, zu denen seine Regierung damals gezwungen war, haben zweifellos tiefe Spuren hinterlassen.Ein Erbe, das Tsipras’ Kritiker bis heute ausschlachten können. Dennoch hat seine Regierung auch Reformen umgesetzt, die oft unterschätzt werden – und die den Kern einer neuen politischen Kraft bilden könnten: etwa Rentenanpassungen mit dem Ziel größerer Beitragsgerechtigkeit, die Einrichtung einer unabhängigen Steuerbehörde, der Ausbau des Zugangs zur Gesundheitsversorgung für Nichtversicherte, die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften sowie die Beilegung des jahrzehntelangen Namensstreits mit Nordmazedonien.All diese Reformen hatten eines gemeinsam: Sie waren mit erheblichen politischen Kosten verbunden, führten jedoch zu institutionellen Verbesserungen oder mehr sozialer Gerechtigkeit. Sie sind Beispiele für eine Art progressiven Reformismus, der eine neue politische Kraft in der linken Mitte hervorbringen könnte.Tsipras bewies einst bemerkenswerten politischen Instinkt, als er in den Krisenjahren die Unzufriedenheit der Bevölkerung erkannte, mobilisierte und in erfolgreiche Wahlergebnisse verwandelte. Diese Fähigkeit bleibt wichtig, doch der Kontext hat sich verändert. Heute ist die griechische Wählerschaft von diffuseren Ängsten geprägt: Die wirtschaftliche Erholung hat sich nicht als Allheilmittel erwiesen, und das Vertrauen in Politik und Institutionen ist weiter geschwunden.Für Tsipras wird es nicht genügen, jene Leistungen zu wiederholen, die ihn vor einem Jahrzehnt zum politischen Shootingstar machten. Eine zutiefst unzufriedene und misstrauische Wählerschaft dürfte wenig Interesse daran haben, nur eine Neuauflage der Performance eines verblassten Idols zu sehen.Aus dem Englischen von Tim SteinsWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal