„Eine neue Arbeiterklasse entsteht“
Die Fragen stellte David Müller.Brasiliens Präsident Lula wird diesen Monat 80. Wird er wirklich bei der Präsidentschaftswahl 2026 wieder als Kandidat der Linken antreten?Ja, Lula wird tatsächlich kandidieren. Physisch geht es ihm sehr gut, er ist in perfekter Gesundheit. Ich denke sogar, dass Lula heute in besserer körperlicher Verfassung ist als mit 50. Er hat eine feste Routine körperlicher Aktivitäten. Vor zwei Wochen hat er an einem Laufevent zum Tag des Bildungsministeriums teilgenommen – und die Minister, die mitgelaufen sind, hatten viel größere Schwierigkeiten als er. Es geht ihm also wirklich gut.Ich denke, dass er heute die einzige Führungspersönlichkeit ist, die die extreme Rechte besiegen kann. In Brasilien gibt es eine faschistisch inspirierte ultrarechte Bewegung. Lula ist der Einzige, der wirklich ein Entwicklungsprojekt verteidigen kann, das ein Steuergleichgewicht garantiert und gleichzeitig Wirtschaftswachstum sicherstellt.Wir haben die niedrigste Arbeitslosenquote in der Geschichte Brasiliens. Während der Bolsonaro-Regierung wurden viele soziale Programme gestoppt oder durcheinandergebracht. Deshalb ist es sehr wichtig, diese Wahl zu gewinnen. Und es ist entscheidend, dass in einem Land von der Größe Brasiliens demokratische Kräfte regieren. Für die Welt ist es wichtig, dass Brasilien die extreme Rechte besiegt und der Faschismus sich nicht weiter ausbreitet.Wie stellt sich die Arbeiterpartei PT insgesamt auf, um verschiedene Bevölkerungsgruppen zu erreichen? Welche Allianzen plant sie für die Wahl?Die PT verfolgt eine klare Strategie: 2026 müssen wir gewinnen. Es ist sehr wichtig, dass wir verhindern, dass die faschistische Rechte im Nationalkongress – vor allem im Senat – weiter wächst. Das ist entscheidend für die politische Stabilität, denn der Senat kontrolliert die Justiz, prüft die Richter des Obersten Gerichtshofs sowie die Führung staatlicher Unternehmen.Wir brauchen eine Strategie, die über nationale Allianzen hinausgeht. Brasilien besteht aus 27 Bundesstaaten, die politisch sehr unterschiedlich sind – wir sind sozusagen ein Kontinent für sich, mit vielfältigen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Besonderheiten. Daher muss Politik nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in jedem Bundesstaat betrieben werden.Was sehen sie als die größten Herausforderungen Brasiliens und wie will die PT darauf reagieren?Wir haben intensiv über die soziale und wirtschaftliche Lage Brasiliens und unsere Herausforderungen diskutiert. Wir sehen, dass wir es mit einer langanhaltenden Krise des Kapitalismus zu tun haben, die 2008 begann – und weltweit gibt es bis heute keine befriedigenden Antworten darauf. Wir haben es geschafft, ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu erreichen, denn ohne das leidet vor allem die Mittelschicht. Aber wir erleben immer noch die Folgen der Krise von 2008. Diese strukturelle Krise führt zu einer Verarmung der Mittelschicht – nicht nur in Brasilien, sondern auch in den USA und in Europa. In Asien gibt es andere Faktoren, das Wirtschaftswachstum ist stärker.Dass die Bedürfnisse der Mittelschicht nicht erfüllt werden, hat ein starkes Anti-Establishment-Gefühl hervorgerufen. Viele gehen wählen, doch wirklich verändert hat sich wenig. Dieses Gefühl wird von der Rechten kanalisiert und genutzt. Die Rechte präsentiert sich als Alternative zum Establishment, während die Linke die bestehenden Institutionen verteidigt – sie kann daher gar keine echte Anti-Establishment-Kraft sein. Wenn die Rechte diesen Anti-Establishment-Diskurs führt, wird sie oft populistisch, inkonsequent und unverantwortlich. Wo die Rechte regiert, kehren jedoch viele Wählerinnen und Wähler zurück zu Parteien, die sich stärker an Demokratie orientieren.Dass die Bedürfnisse der Mittelschicht nicht erfüllt werden, hat ein starkes Anti-Establishment-Gefühl hervorgerufen.Diese langanhaltende Kapitalismuskrise hat auch die politische Mobilisierung weltweit verändert. Dazu kommt die Herausforderung der Modernisierung unserer Industrie: neue Technologien, Robotik. Wir wissen noch nicht, was Künstliche Intelligenz bewirken wird. Viele Berufe verschwinden, neue entstehen. Eine neue Arbeiterklasse entsteht – mit Berufen, die früher nicht existierten. Diese Menschen arbeiten oft im Homeoffice, kontrollieren ihre Arbeitszeit selbst, fühlen sich eher als Unternehmerinnen und Unternehmer – nicht mehr als klassische Arbeiter. Für die Linke ist das eine große Herausforderung: Wie können wir diese neue Arbeiterklasse verstehen, sie politisch ansprechen und organisieren, wenn sie keine Verbindung zu Gewerkschaften oder traditioneller linker Politik hat?Diese Diskussion führen wir in der PT intensiv. Im April haben wir unseren Parteitag, dort werden wir über diese Fragen sprechen – ebenso wie über unsere programmatische Neuorientierung. Wir sind die einzige Partei, die fünfmal die Präsidentschaft in Brasilien gewonnen hat. Dieses Erbe ist sehr wichtig. Gleichzeitig müssen wir neue Themen integrieren – etwa Energiewende und Klimawandel. Und für mich ist die Frage nach der Selbstbestimmung der Arbeitszeit zentral im Dialog mit der neuen Arbeiterklasse. Homeoffice-Arbeiter, Content Creator im Internet, Fahrer bei Uber oder bei Lieferdiensten – sie können ihre Zeit flexibel gestalten. Wenn sie an einem Tag weniger arbeiten, gleichen sie das oft an einem anderen Tag aus. Auch bei familiären Bedürfnissen können sie Pausen einlegen. Die Selbstbestimmung der Arbeitszeit ist eine wichtige Frage des 21. Jahrhunderts.Ich glaube, dass dadurch die Arbeiterklasse die Demokratie wieder positiver bewertet. Viele haben das Vertrauen in die liberale Demokratie verloren, weil sie sich von den politischen Institutionen nicht mehr vertreten fühlen. Direkte Demokratie – etwa Volksbefragungen – könnte helfen, aus dieser Krise herauszukommen. Die Gesellschaft müsste direkter über Prioritäten, zum Beispiel bei der Haushaltspolitik, mitentscheiden. Daneben diskutieren wir viel über die Wiederbelebung unserer Basis. In den 80er und 90er Jahren hatten wir stärkere lokale Gruppen – in Nachbarschaften, am Arbeitsplatz, mit klaren Interessen. Diese Basisarbeit wird auch auf unserem Parteitag eine wichtige Rolle spielen.Auf welche Themen wird die PT im Wahlkampf setzen, um die Rechte zu schlagen?Die Regierung von Präsident Lula hat viele Erfolge erzielt: Soziale Programme, Infrastruktur, sozialen Wohnungsbau – auch für die Mittelschicht –, sozialpolitische Maßnahmen und den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit. Die Wirtschaft hat sich positiv entwickelt, die Arbeitslosenquote ist gesunken. Ich bin überzeugt, dass die zentrale Debatte im Wahlkampf ideologisch geführt wird: Um welche Gesellschaft wollen wir kämpfen? Wenn man Umfragen liest, ist die Gesundheitsversorgung das wichtigste Thema für die Bevölkerung. Brasilien hat das größte öffentliche Gesundheitssystem der Welt, das 150 Millionen Menschen versorgt. Die Frage der Finanzierung dieses Systems wird entscheidend sein.Auch die öffentliche Sicherheit steht ganz oben auf der Agenda. Dazu muss die PT klare Vorschläge machen, die im Dialog mit der Bevölkerung stehen. Die extreme Rechte sieht Sicherheit vor allem als verstärkte Polizeipräsenz. Diese ist allerdings häufig mit Gewalt und Tötungen verbunden. Wir vertreten eine andere Sicht: Wir setzen auf neue Technologien wie Videoüberwachung, Prävention, Programme gegen die Verstrickung Jugendlicher in die organisierte Kriminalität und die Wiedereingliederung Straffälliger. Es ist wichtig, dass Betroffene nicht zu leichten Opfern für Kriminalität werden. Die Diskussion um Bildung wird dabei ebenfalls eine große Rolle spielen. Brasilien muss das gesamte Bildungssystem organisieren – von der Kita bis zur Schule. Wir fordern ein Recht auf frühkindliche Betreuung.Natürlich müssen wir auch die Demokratie verteidigen, über Energiewende und den Klimawandel sprechen. So können wir uns klar von der Rechten und der Ultrarechten absetzen. Wir werden die Wahl nicht gewinnen, wenn wir nicht deutlich machen, in welchem Brasilien wir leben wollen – und wenn wir nicht zeigen, was wir konkret liefern können. Aber vor allem müssen wir den Diskurs führen: Welches Brasilien wollen wir gemeinsam konstruieren?Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal