Frieden mit Fragezeichen

13.10.25 17:15 Uhr

IsraelDie Stimmung in Israel in den Tagen vor der glücklichen Rückkehr der überlebenden Geiseln war elektrisiert. In Hoffnung und Vorfreude, fast genau zwei Jahre nach der Katastrophe des 7. Oktober 2023, mischte sich bis zuletzt das Bangen, ob auf den letzten Metern doch noch etwas schiefgehen könnte. Und dann, an diesem historischen 13. Oktober 2025, verband sich der Jubel über die Befreiung der 20 überlebenden Geiseln mit der Trauer um jene, die nur tot oder womöglich gar nicht heimkehren werden.Dass es zu der indirekt vermittelten Vereinbarung zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas kam, lag an dem massiven Druck, den US-Präsident Trump auf beide Seiten ausübte. Das ist zweifellos Trumps Verdienst – auch wenn die einzelnen Bestandteile des 20-Punkte-Plans nicht seine Erfindung sind, sondern bereits länger diskutiert wurden. Bemerkenswert ist der Plan nicht nur, weil er tatsächlich substanziell ist, sondern auch, weil er eine 180-Grad-Wende gegenüber den früheren Vorstellungen des US-Präsidenten („Riviera-Plan“) darstellt und eine Perspektive auf einen palästinensischen Staat eröffnet.So groß die Freude in Israel über die Rückkehr der Geiseln ist, so deutlich bleibt die politische Spaltung bestehen. Sichtbar wurde das nicht nur, als sich kurz vor Waffenruhe und Geiselfreilassung während der Rede von Trumps Sondergesandtem Steve Witkoff vor Hunderttausenden Israelis in Tel Aviv in den Jubel über den US-Präsidenten Pfiffe und Buhrufe gegen Netanjahu mischten. Wie fragil die Umsetzung des 20-Punkte-Plans ist, zeigte sich auch an seiner Ablehnung durch die beiden rechtsradikalen Minister Smotrich und Ben-Gvir in der entscheidenden Kabinettssitzung. Ihre Gegenstimmen konnten zwar die erste Phase der Vereinbarung nicht verhindern, doch es ist durchaus möglich, dass Netanjahus Koalition über die weiteren Schritte in der zweiten Phase der Umsetzung zerbricht und es zu vorgezogenen Parlamentswahlen kommt – etwas, das ohnehin rund die Hälfte der israelischen Bevölkerung seit Langem fordert.Ob die symbolische Friedenszeremonie, zu der Trump gemeinsam mit Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi für den Montagnachmittag nach Scharm El-Scheich eingeladen hat, zur Konkretisierung der nächsten Schritte beitragen oder sich in erster Linie als Selbstinszenierung Trumps erweisen wird, bleibt abzuwarten. Denn der 20-Punkte-Plan ist in vielen Punkten unscharf: Welche Staaten werden sich an der internationalen Stabilisierungstruppe zur Absicherung des Prozesses beteiligen? Wird es für diese Mission ein UN-Mandat geben? Wer wird der (technokratischen) palästinensischen Übergangsverwaltung angehören? Wie soll das internationale Board of Peace funktionieren, dem Trump selbst vorsitzen will? Welche Rolle wird die Palästinensische Autonomiebehörde spielen? Und vor allem: Wird sich die Hamas wirklich entwaffnen lassen und wird es gelingen, sie aus dem politischen Nachkriegsprozess auszuschließen?Die Erleichterung in Israel über das Ende der Kampfhandlungen und die Aussicht auf eine schnelle Verbesserung der humanitären Lage im Gazastreifen ist groß. Bis zum Montag dieser Woche jedoch dominierte die Geiselfrage das öffentliche Bewusstsein. Wie sich die Stimmung in der Bevölkerung in den kommenden Monaten entwickeln wird, ist schwer vorherzusagen, zumal der Preis, gemessen an den 2 000 entlassenen palästinensischen Gefangenen, aus israelischer Sicht sehr hoch war. Aktuelle Umfragen sehen die derzeitige Koalition ohne Mehrheit. Ob es jedoch zu einem Politikwechsel und einer Abkehr vom Kurs der Netanjahu-Regierung kommt, hängt letztlich von der konkreten Zusammensetzung der nächsten Knesset ab. Die Chance für einen international unterstützten und regional eingebetteten politischen Prozess in Richtung Zwei-Staaten-Lösung ist jedoch gegeben.Ralf Melzer, FES Israel Palästinensische GebieteIn den Stunden nach der Verkündung der Einigung über das Kriegsende zeigten Videos aus dem Gazastreifen tanzende Kinder, feiernde Menschen auf den Straßen, und die ersten Vertriebenen machten sich auf den Weg zurück zu ihrem Zuhause – oder zu dem, was davon noch übrig ist.Die Erleichterung in ganz Palästina ist groß: über das Ende der Bombardierungen, die erwartete und dringend benötigte Einfuhr humanitärer Hilfe in den Gazastreifen sowie über die Freilassung von fast 2 000 palästinensischen Gefangenen, von denen die meisten während des israelischen Feldzugs unter unklaren Umständen festgenommen worden waren.Die systematischen Verhaftungen unter israelischer Besatzung sind für alle Palästinenserinnen und Palästinenser ein Dauerthema. Fast jede Familie hat Angehörige in Haft. Über 11 000 Palästinenserinnen und Palästinenser befinden sich weiterhin in israelischen Gefängnissen, darunter 400 Kinder und 3 500 Menschen ohne Gerichtsverfahren. Die Haftbedingungen gelten unter Menschenrechtsorganisationen insbesondere seit dem 7. Oktober 2023 als katastrophal.Daher gleicht die Freude über den Deal eher einem kurzen Aufatmen – getrübt vom anhaltenden Leid und den Zweifeln an einer nachhaltigen Friedenslösung. 20 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens wurden getötet oder verletzt, fast die Hälfte der über 67 000 Toten sind Frauen und Kinder. Eine Hungersnot wurde ausgerufen, und mehr als 55 000 Kinder unter sechs Jahren sind mangelernährt – eine direkte Folge der israelischen Blockade.Die Sorgen unter Palästinenserinnen und Palästinensern sind groß, dass der „Frieden“ nicht von Dauer sein wird. Die Erfahrung mit dem letzten Waffenstillstand im Januar dieses Jahres bietet wenig Anlass zur Hoffnung. Damals entschied sich die israelische Regierung, den Deal zu brechen, eine vollständige Blockade zu verhängen und Gaza-Stadt anzugreifen. Die große Frage lautet nun: Was passiert, nachdem die Fotos mit Donald Trump gemacht sind? Die Palästinenserinnen und Palästinenser wünschen sich mehr als nur ein Ende der Bombardierungen – sie fordern eine politische Lösung, die ihre Rechte garantiert.Eine technokratische Übergangsregierung im Gazastreifen, wie sie der Plan vorsieht, überwacht von einem Gremium ohne internationale Legitimation, bietet keine ausreichende Perspektive. Das erinnert an das Osloer Abkommen von 1993: Auch damals wurde in Palästina eine technokratische Übergangsregierung eingesetzt – die Palästinensische Autonomiebehörde. Doch zur Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser hat das nicht geführt. Zwar erkennen immer mehr Staaten Palästina als Staat an, doch die israelische Besatzung dauert an. Zudem hat die israelische Regierung mehrfach betont, dass sie einen palästinensischen Staat niemals zulassen werde.Daher greift ein deutsches und europäisches Engagement, das sich allein auf den Wiederaufbau im Gazastreifen konzentriert, zu kurz. Vielmehr sollte das derzeitige Momentum genutzt werden, um international Kräfte zu mobilisieren, die eine politische Perspektive mit palästinensischer Souveränität und garantierten Rechten mit konkreten Schritten vorantreiben.Maria Dellasega, FES Palästina ÄgyptenDer 13. Oktober 2025 markiert für Ägypten einen historischen Tag – im positiven wie im negativen Sinne. Die Unterzeichnung des Friedensabkommens in Scharm El-Scheich, in Anwesenheit von Donald Trump, Friedrich Merz, Keir Starmer und Emmanuel Macron, aber in Abwesenheit von Hamas und Israel, rückt Ägypten erneut in die Rolle des zentralen Vermittlers. Doch die internationale Anerkennung der ägyptischen Vermittlungsleistung in den vergangenen Tagen überdeckt den bitteren Beigeschmack des Abkommens. Denn bereits im März hatte Kairo einen deutlich detaillierteren und in der Region viel populäreren Plan vorgestellt, der jedoch nicht die nötige internationale Unterstützung fand.Der sogenannte Kairo-Plan, gebilligt von der Arabischen Liga, setzte auf regionale Lösungsansätze – etwa eine technokratische palästinensische Übergangsregierung und eine stärkere Verantwortung arabischer Staaten, allen voran Ägyptens, abgesichert durch internationale Unterstützung. Der Trump-Plan bedeutet für Kairo daher eine Herabstufung der eigenen Rolle. Dennoch nutzt die ägyptische Regierung die Gelegenheit, als letzter verbliebener Vermittler – nach dem israelischen Angriff auf Hamas in Katar – direkte Gespräche mit der Hamas zu führen und sich hinter den US-Plan zu stellen. Nach dem Motto: Besser Teil einer problematischen Vermittlung sein als gar kein Teil davon. Denn selbst ein Teilerfolg ist für Ägypten als Gastgeberland von Bedeutung.Ägypten bereitet sich seit Monaten auf den Wiederaufbau des Gazastreifens vor und steht bereit: Hilfslieferungen über den Grenzübergang Rafah, der Aufbau temporärer Unterkünfte, die Beseitigung von Trümmern und der Wiederaufbau von Infrastruktur – Ägypten ist das zentrale Transitland. Zugleich weckt die Aussicht auf lukrative Aufträge für staatliche Unternehmen wirtschaftliche Hoffnungen.In der ägyptischen Bevölkerung dominiert hingegen der Wunsch, dass das Leid in Gaza endlich enden möge. Die täglichen Bilder von Zerstörung, unermesslichem menschlichem Leid und gezielten israelischen Angriffen auf Schutzzonen haben viele in den vergangenen zwei Jahren in einen Zustand dauerhafter Erschütterung versetzt. Das vorsichtige Hoffen auf ein Ende der Gewalt zieht sich durch zahlreiche Teegespräche in Kairos Straßencafés – begleitet von der bangen Frage: Was, wenn Hamas die Geiseln freilässt und Israel trotzdem erneut angreift? Das Vertrauen in die Einhaltung des Abkommens ist fragil. Viele fürchten, dass die Zwangsverdrängung der Palästinenser in den Sinai doch noch Realität werden könnte. In den Köpfen bleiben die Fragen: Kann der amerikanische Plan wirklich Sicherheit bringen? Werden sich alle Konfliktparteien an die Vereinbarungen halten – und was geschieht, wenn nicht? Kann Ägypten auch nach der Unterschrift ein entscheidender Akteur bleiben – und zu welchem Preis? Und schließlich: Was, wenn Israel die Gewalt dennoch fortsetzt – werden die arabischen Staaten und die USA dann Konsequenzen ziehen?Am Gaza-Abkommen hängt für Ägypten nicht nur die regionale Stabilität, sondern auch ein Stück eigene Zukunft. Ob das Land von seiner Rolle in der zweiten Phase der Verhandlungen und beim geplanten Wiederaufbau wirtschaftlich und politisch profitieren kann, wird sich bald zeigen. Sicherheitspolitisch bleibt die enge ägyptische Involvierung als Hauptkontakt ein Risiko – denn die Koordination mit dem israelischen Militär und die zahlreichen komplexen Aufgaben bei der Umsetzung des Plans werden für Kairo umso schwieriger, wenn der internationale Fokus nachlässt.Ronja Schiffer, FES Kairo JordanienWie vielerorts blickt man auch in Jordanien mit gemischten Gefühlen auf die Umsetzung des 20-Punkte-Prinzipienkatalogs zur Befriedung Gazas. Allgemein begrüßt wird die Aussicht auf eine Feuerpause sowie die Zusage, die humanitäre Hilfe für die Bevölkerung in Gaza wiederaufzunehmen. Doch es überwiegt die Skepsis, wie dauerhaft das Ganze sein wird. Zum einen bestehen erhebliche Zweifel an der Bereitschaft der Hamas, einer vollständigen Entwaffnung zuzustimmen. Dabei wird betont, dass unklar sei, wie viel Kontrolle die politische Führung über den militärischen Arm tatsächlich hat – oder wie einheitlich dieser überhaupt noch agiert.Zum anderen verweist man auf frühere gebrochene Feuerpausen, für die man in Amman die israelische Regierung verantwortlich macht. Es herrschen große Zweifel, dass die politische Führung Israels – trotz des Drucks aus Washington – von ihren Plänen einer Annexion Gazas und des Westjordanlands abrückt. Hinzu kommt die weitverbreitete Einschätzung, der israelische Regierungschef werde die Krise bewusst am Köcheln halten, um sein politisches Überleben im eigenen Land zu sichern.Diese Bedenken werden durch die zahlreichen Lücken im Prinzipienkatalog noch verstärkt. Viele Formulierungen bleiben vage und interpretationsbedürftig. Unklar ist insbesondere, wie die Übergänge zwischen der ersten und der zweiten Phase gestaltet werden sollen. Vor allem bereiten die offenen Fragen zu einer künftigen Sicherheits- und Verwaltungsordnung sowie die darin nur nachgeordnete Rolle Jordaniens Sorgen.Hinzu kommt die Tatsache, dass die Rückgabe Gazas an eine palästinensische Verwaltung von einer Reform der Palästinensischen Autonomiebehörde abhängig gemacht wird – ohne dass diese Reform in irgendeinen Zusammenhang mit der Beendigung oder gar mit dem Rückbau der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland gestellt würde. Das weckt erhebliche Zweifel an der Nachhaltigkeit des gesamten Ansatzes.Und dennoch wirkte Jordanien an der Ausarbeitung des Prinzipienkatalogs mit und gehörte zu dessen ersten Befürwortern. Neben dem vorrangigen Wunsch nach einem Ende des Krieges und nach der Wiederaufnahme humanitärer Hilfe spielte dabei auch eine andere Überlegung eine Rolle: Trotz aller aufgezeigten Lücken wurden die Angelegenheiten Gazas in der Region aus historischen Gründen stets vor allem als Frage der Beziehungen zwischen Ägypten und Israel betrachtet. Als entschiedener Befürworter einer Zwei-Staaten-Lösung hat Jordanien jedoch ein übergeordnetes Interesse an einem tragfähigen und realistischen Weg, der eine Befriedung des Gaza-Krieges ermöglicht, ohne diese Perspektive zu verbauen.Sven Schwersensky, FES Amman Libanon Auch im Libanon herrscht seit zwei Jahren Krieg. Nach dem Angriff der Hisbollah auf Nordisrael am 8. Oktober 2023 befindet sich die pro-iranische Miliz im Konflikt mit Israel. Als führende Kraft der sogenannten „Achse des Widerstands“ versuchte die Hisbollah mit Raketenangriffen auf Israel, eine Eröffnung der Nordfront zu erzwingen, um Israel zu einem Waffenstillstand zu bewegen und die Hamas vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Doch keines dieser Ziele wurde erreicht. Im Gegenteil: Der israelische Krieg gegen den Libanon forderte mehr als 4 000 Todesopfer, darunter 316 Kinder, und vertrieb über eine Million Menschen. Viele Libanesinnen und Libanesen zweifeln bis heute an der Umsetzung des Friedensabkommens – auch weil die fragile libanesische Regierung kaum Einflussmöglichkeiten besitzt und Verstöße der israelischen Armee weitgehend unbeachtet bleiben.Obwohl viele Libanesinnen und Libanesen auf Frieden hoffen, ist die Skepsis gegenüber dem Gaza-Deal groß – aus guten Gründen. Im November 2024 wurde eine Waffenruhe mit Israel vereinbart, die Frieden bringen sollte. Doch der Alltag sieht anders aus: Die israelische Armee hat seither über 5 000 Mal gegen das Abkommen verstoßen, hält weiterhin Stellungen auf libanesischem Staatsgebiet südlich des Flusses Litani und verletzt wiederholt die Souveränität des Landes. Seit dem Ende des Waffenstillstands wurden zudem mehr als 300 gezielte Tötungen durch Drohnen verübt. An deren ständiges Brummen, selbst über der Hauptstadt Beirut, hat man sich längst gewöhnt.Ein zentraler Bestandteil des Abkommens ist der Rückzug der Hisbollah und anderer bewaffneter Gruppen hinter den Litani – 30 Kilometer nördlich der israelisch-libanesischen Grenze – sowie die vollständige Entwaffnung der Miliz. Zwar haben sich die Hisbollah-Kämpfer zurückgezogen, doch die Entwaffnung kommt nur schleppend voran.Anfang August 2025 genehmigte das libanesische Kabinett einen Schritt in diese Richtung: Die Libanesische Armee soll bis Ende des Jahres einen Plan erarbeiten, um sämtliche Waffen unter staatliche Kontrolle zu stellen. Die Entscheidung stieß jedoch auf heftige Kritik: Während die Hisbollah sich weiterhin weigert, haben bereits einige palästinensische Gruppen in den Flüchtlingslagern ihre Waffen an die Armee übergeben. Solange die Hisbollah die Waffen aber nicht abgibt, wird die israelische Armee die Dörfer im Süden und Osten des Landes weiter angreifen und die gezielten Tötungen fortsetzen.Führende Vertreter der Hisbollah betonen, dass ein Waffenstillstand in Gaza Voraussetzung für Ruhe an der libanesisch-israelischen Grenze sei. Sollte das Abkommen in Gaza halten, hätte die Miliz keinen Grund mehr, einen Krieg gegen Israel zu führen – vorausgesetzt, die israelische Armee beendet ihre Angriffe auf libanesischem Boden. Eine stabile Gaza-Front könnte damit einen wichtigen Auslöser für eine regionale Eskalation beseitigen und dem Libanon die Möglichkeit eröffnen, über stärkeren Schutz im Rahmen des Völkerrechts oder bestehender UN-Resolutionen zu verhandeln.Die Libanesinnen und Libanesen blicken gespannt auf die kommenden Tage. Sie könnten entscheidend sein für Gaza, den Libanon und den gesamten Nahen Osten. Die Menschen dort wollen endlich in Frieden und Würde leben.Merin Abbass, FES BeirutWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal