Geschenk für den Kreml
Als ich vor wenigen Wochen mit russischer Begleitung, die in Deutschland lebt, ins Baltikum reiste, warnte deren Verwandtschaft aus der russischen Provinz eindringlich: Dort solle man bloß kein Russisch sprechen. Wegen der angeblichen „Nazis“ unter den Balten drohten sonst massive Probleme mit den Behörden. In Wirklichkeit zeigt sich auf den Straßen von Riga oder Tallinn jedoch ein anderes Bild: Fast die Hälfte der Beschäftigten im Handel, in der Gastronomie oder im Transport sind russische Muttersprachler. Russisch ist im öffentlichen Leben allgegenwärtig.Wer jedoch in der russischen Provinz lebt, wo alternative Nachrichtenkanäle abseits der Kreml-Medien aufgrund von Netzsperren nach und nach versiegen, erhält aus dem verbliebenen Informationsangebot ein völlig anderes Bild. Die Machthaber in Moskau arbeiten mit Nachdruck daran, den Westen – und Europa im Besonderen – in den düstersten Farben erscheinen zu lassen.Einige Meldungen, wonach russische Reisende aus dem Schengenraum weitgehend verdrängt werden sollen, sind jedoch real und nicht das Produkt der Kreml-Propaganda. Deutschland unterstützt nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur auf EU-Ebene eine restriktivere Vergabe von Visa an russische Staatsbürger – ein Schritt, den auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fordert. Die Maßnahme sollte ursprünglich Teil eines neuen Sanktionspakets werden. Als Begründung wird auf die angeblich hohe Zahl von Visa für Russen und von Kurzaufenthalten im Schengenraum verwiesen: Im vergangenen Jahr waren es insgesamt 542 000 Visa für alle Schengen-Staaten. Fünf Länder – Griechenland, Italien, Spanien, Frankreich und Ungarn – haben jedoch Widerstand gegen ein strengeres Visaregime angekündigt. Die Verabschiedung des Sanktionspakets wurde daher zunächst verschoben.Dass diese Zahl einem Rückgang um 86 Prozent gegenüber dem letzten Vor-Corona- und Vorkriegsjahr 2019 entspricht, wird in den meisten mitteleuropäischen Veröffentlichungen unterschlagen. Bei den von Deutschland vergebenen Schengen-Visa lag das Minus im gleichen Zeitraum sogar bei mehr als 90 Prozent – von 325 840 auf 27 300. Stattdessen addieren viele Presseartikel die Zahlen aller EU-Staaten oder auch noch mehrerer Jahrgänge seit Kriegsbeginn, um den Eindruck einer Flut russischer Shoppingtouristen durch Europa zu erwecken.Direkte Flüge zwischen der EU und Russland gibt es nicht, fast alle Grenzübergänge sind geschlossen.Tatsächlich spielt dieser Reisezweck unter russischen Besuchern Europas kaum eine Rolle. Direkte Flüge zwischen der EU und Russland gibt es nicht, fast alle Grenzübergänge sind geschlossen. Reisen sind nur über aufwendige und strapaziöse Umwege möglich, etwa über die Türkei oder zentralasiatische Staaten, da osteuropäische Nachbarn Russen die Einreise weitgehend verweigern. Wer in Russland über das nötige Geld für internationales Shopping verfügt – eine kleine Minderheit im Establishment –, findet in Dubai oder Istanbul deutlich leichter erreichbare und ebenso attraktive Ziele, ganz ohne Visumpflicht. Im deutschen Diskurs ist diese zahlenmäßig kleine Schicht vor allem deshalb so präsent, weil Boulevardmedien früher ausführlich über sie berichteten. Für die Masse der Visavergaben war sie jedoch nie ausschlaggebend.Linientreue Russen oder jene, die stark von Kreml-Medien geprägt sind – wie die eingangs erwähnten Verwandten –, meiden derzeit ebenfalls Reisen in den Westen. Nach offizieller Lesart der russischen Regierung gilt er als „unfreundliches Ausland“, das den überfallenen Kriegsgegner unterstützt. In den Staatsmedien ist über diesen Gegner ausreichend „Erschreckendes“ zu hören, um jene, die der Propaganda glauben, von Reisen abzuhalten. Beschäftigte im öffentlichen Dienst wiederum dürfen den Westen ohnehin nicht mehr besuchen.Wer heute trotz langer Anreise und aufwendiger Visabeschaffung nach Europa kommt, hat meist tiefere Gründe: Verwandte unter den vielen Russlandstämmigen in Deutschland, enge Freunde oder echtes Interesse und Sympathie für Europa – trotz der Negativpropaganda der Kreml-Medien. Auch russische Fachkräfte nutzen Schengen-Visa, um Beschäftigungsverhältnisse in der EU anzubahnen, was ohne persönlichen Kontakt kaum möglich ist. Nur aus triftigem Grund nimmt man die Reise nach Westen noch auf sich. Seit Kriegsbeginn haben sich die Bedingungen jedoch verschärft: Schengen-Visa sind für Russen teurer, aufwendiger und zeitintensiver geworden, werden strenger geprüft, gelten kürzer und die Bearbeitung dauert länger. Der Begriff „Touristenvisum“ ist ohnehin irreführend – das reguläre Schengen-Visum war stets vor allem der einfachste Weg in die EU und wurde für ganz unterschiedliche Zwecke genutzt.Das zeigt sich auch daran, dass exilrussische, oppositionelle Medien jede noch so kleine Einschränkung der Visavergabe sofort zur Hauptschlagzeile machen. So etwa kürzlich bei der befristeten Aussetzung der Visaausstellung durch die spanische Botschaft in Moskau, die den Abschottungskurs nicht vollständig mitträgt. Diese Medien erreichen nicht nur im Ausland lebende Russen, sondern auch technisch versiertere, jüngere und keineswegs linientreue Leserinnen und Leser in Russland – trotz Verboten und Websperren. Viele von ihnen fühlen sich, obwohl sie sich persönlich und unter Gefahr im eigenen Land gegen den Krieg stellen, durch den zunehmend restriktiven EU-Kurs ausgeschlossen.In Wirklichkeit ist die russische Regierung Nutznießer des von Deutschland mitgetragenen Kurses pauschaler Restriktionen.Ein häufig vorgebrachtes Argument gegen in der EU reisende Russen ist die Angst vor Spionage. Damit wird jedoch nicht nur ein Generalverdacht gegen ganz unterschiedliche Reisende ausgesprochen, sondern auch die aktuelle Strategie der russischen Geheimdienste übersehen. Diese setzen in Deutschland vor allem auf sogenannte Low Level-Agenten oder „Wegwerfagenten“ mit bereits dauerhaftem Wohnsitz, die aus ideologischer Nähe oder finanziellem Interesse Spionagetätigkeiten übernehmen. Angesichts der engen Verbindungen zwischen russischen und rechtsextremen Akteuren in Deutschland und Mitteleuropa mangelt es dem Kreml dabei nicht an willigen Helfern.In Wirklichkeit ist die russische Regierung Nutznießer des von Deutschland mitgetragenen Kurses pauschaler Restriktionen. Jede Reisebeschränkung dient den Kreml-Medien als Beleg dafür, dass nicht nur der Angriffskrieg gegen die Ukraine, sondern das russische Volk insgesamt vom Westen als verachtenswert betrachtet werde. Jede verhinderte Reise nimmt einem Russen die Möglichkeit, westliche Länder und deren freies Leben selbst zu erleben – und damit der staatlichen Propaganda eigene Eindrücke entgegenzusetzen. So unterstützt Europa unfreiwillig die von Moskau aktiv betriebene Abschottung der eigenen Bevölkerung, die dem Feindbild Westen zusätzliche Glaubwürdigkeit verleiht.Wie stark sich das Bild vom Westen bereits verschärft hat, zeigen exemplarisch die eingangs erwähnten Warnungen der Verwandten aus der russischen Provinz vor Reisen ins Baltikum. Vor dem Ukrainekrieg waren russische Touristen dort allgegenwärtig. Viele konnten der schon damals in den Staatsmedien allgegenwärtigen Kritik an Estland, Lettland und Litauen eigene Erfahrungen und Eindrücke entgegensetzen. Ausgerechnet diese Staaten haben inzwischen ihre Grenzen für Russen geschlossen – mit dem Ergebnis, dass ein Bild, das eher einem Schauermärchen gleicht, in Russland unwidersprochen verbreitet werden kann.Jede weitere pauschale Abschottung Europas gegenüber russischen Staatsbürgern stärkt diesen Effekt und festigt die Wagenburg-Mentalität, in die der Kreml auch den nicht einverstandenen Teil seiner Bevölkerung einbeziehen will. Damit wachsen die Spielräume für einen noch aggressiveren Regierungskurs – ein Szenario, das kaum im Interesse Europas liegen kann. Gerade Deutschland sollte deshalb angesichts seiner historischen Verantwortung vermeiden, durch eine Politik der Kollektivbestrafung unfreiwillig zum Helfer des Kreml zu werden.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal