Macht der Worte
Auch zwei Wochen nach dem Attentat stehen die USA noch immer im Bann des Mordes an dem konservativen Aktivisten und Campusredner Charlie Kirk. Mäßige Arbeitsmarktzahlen, transatlantische Spannungen, selbst die mittlerweile geradezu mythisch aufgeladenen Epstein Files als mediales True-Crime-Dauerobjekt – all das verblasst vor dem Hintergrund des wohl denkwürdigsten politischen Mordes seit Jahrzehnten. Zu eindringlich war und ist die Szenenfolge: der stets jugendlich wirkende Familienvater Kirk am Mikrofon, die Blutfontäne, die ihm wie in einem schlechten Splatterfilm aus dem Hals schießt, das Gedränge und Geschrei der Auseinanderstiebenden, der verklärte Blick der Witwe am Sarg.Der Umstand, dass das Opfer im Moment des Schusses gerade die Frage eines Studenten beantwortete, verlieh dem Geschehen zusätzlich einen ernsten symbolischen Gehalt. Hier die Kraft der freien Rede, das unbequeme Ringen um das bessere Argument; dort die kinetische Gewalt der Kugel, die sich nicht im Geringsten um die Güte von Argumenten schert. Wollte man einen Hochglanz-Politthriller inszenieren, man könnte die Botschaft wohl kaum eindrücklicher an den Mann bringen.In der Vergangenheit wäre ein derart gravierender Vorfall womöglich ein willkommener Anlass für Gefühle nationaler Einheit und betonter Bipartisanship gewesen. Als John Hinckley Jr. 1981 auf den frisch gewählten Ronald Reagan schoss, um die Schauspielerin Jodie Foster zu beeindrucken, soll dieser noch vor der Notoperation gescherzt haben, er hoffe, die behandelnden Ärzte seien Republikaner. Die Antwort des Chirurgen und bekennenden Demokraten Joseph Giordano: „Herr Präsident, heute sind wir alle Republikaner!“ Im Zeitalter umfassender Polarisierung jedoch ist an ein solch joviales Abschütteln aller Parteilichkeit kaum zu denken.Vielmehr erscheint es heute schon erwähnenswert, wenn sich die Gegenseite einigermaßen würdevoll verhält; so wie in diesem Fall das demokratische Establishment, das Kirk zu Lebzeiten zwar nicht zugeneigt, nun aber situationsintelligent genug war, sich auf Beileidsbekundungen und die Verurteilung politischer Gewalt zu beschränken. Selbst für eine Ehrbezeugung wie die Proklamation eines National Day of Remembrance ließen sich zahlreiche Abgeordnete der Opposition gewinnen. Offenbar hatte man dort die Losung ausgegeben, den politischen Sturm, in den man unversehens geraten war, nach Möglichkeit auszusitzen.Wohin man in den Tagen nach dem Attentat auch sah, stets stieß man in den einschlägigen Kreisen auf Unversöhnlichkeit und vor allem einen eklatanten Mangel an Empathie.Anders die zwischen Ignoranz, Süffisanz und unverhohlener Freude changierenden Reaktionen auf dem linken Flügel der Demokraten und unter progressiven Social-Media-Nutzern. Sinnbildlich ist hier etwa die auch innerparteilich umstrittene Abgeordnete Ilhan Omar, die Kirk einen „verabscheuungswürdigen und hasserfüllten Menschen“ nannte, der „wie Doktor Frankenstein“ nun seiner eigenen Schöpfung zum Opfer gefallen sei. Selbst im Gespräch mit der CNN-Reporterin Kaitlan Collins wich sie kein Stück von dieser Linie ab, wollte das Erbe des Ermordeten gar auf dem „Müllhaufen der Geschichte“ entsorgen und gab auch sonst eine beklagenswerte Figur ab. Damit stand sie in einer Reihe mit jener Professorin aus Toronto, die auf X schrieb, erschossen zu werden sei „ehrlich gesagt noch viel zu gut für viele von euch faschistischen Fotzen“ (sic!). Oder mit dem Lehrer aus Oskaloosa, der schlicht kommentierte: „ein Nazi weniger“. Wohin man in den Tagen nach dem Attentat auch sah, stets stieß man in den einschlägigen Kreisen auf Unversöhnlichkeit und vor allem einen eklatanten Mangel an Empathie.Zumindest Letztgenanntes gilt auch für den hiesigen Pressekosmos, in dem man sich gleichfalls nicht zu schade war, den Konservativen Kirk mit aus dem Kontext gerissenen Zitaten zum Rechtsradikalen abzustempeln und sein breitgefächertes Engagement auf eine Handvoll Polemiken zu reduzieren. Gewiss: Dass Donald Trump und seine Verbündeten in Deutschland nicht wohlgelitten sind und daher nicht immer mit der nötigen professionellen Distanz betrachtet werden, ist nichts Neues. Dass man in dem Land, in dem Angela Merkel einst unter publizistisches Feuer geriet, weil sie sich über den Tod des Terrorführers Osama bin Laden gefreut hatte, nun aber versucht, das Andenken eines gerade Ermordeten derart in den Schmutz zu ziehen, ist bemerkenswert. Das hat er nun davon, ist der Geist, der vielerorts durch die Kommentarspalten zu wehen scheint. Natürlich stets verbunden mit der Beteuerung, man sei als guter Demokrat selbstverständlich gegen Gewalt, keine Frage. Aber irgendwie träfe es in diesem Falle ja doch den Richtigen. Karma eben.Nun erzeugt Druck naturgemäß Gegendruck, und so verwundert es kaum, dass auf der anderen Seite die Heldenverehrung allerlei bunte Blüten treibt. Statuen und postum verliehene Medaillen sind dabei das eine, doch dürfte auch so mancher Kirk-Sympathisant die Stirn über den von Timothy Kardinal Dolan bemühten Vergleich mit dem Apostel Paulus gerunzelt haben. Zwar wollte der New Yorker Erzbischof hier auf die missionarische Arbeit des Heiligen und nicht etwa auf dessen Märtyrertod anspielen, doch gilt: Solche Worte aus dem Mund eines der gewieftesten Kirchenmänner des Landes kommen nicht von ungefähr. Sie haben Gewicht und zeigen, dass viele in Kirk längst mehr sehen als nur einen tragisch verschiedenen Politaktivisten – für sie ist er Symbolfigur und Blutzeuge, dessen Werk weitergeführt werden müsse und dessen Tod Verpflichtung sei.Entsprechend kämpferisch war der Tonfall auf der von Zehntausenden besuchten Gedenkveranstaltung in Glendale vergangenen Sonntag, bei der neben konservativen Größen auch das halbe Kabinett mit Wortbeiträgen vertreten war. Kirks Witwe Erika vergab mit schmerzerfüllter Miene dem Mörder ihres Mannes, musste sich bald darauf aber der Bühnenpräsenz Trumps beugen, der in einer so scharfen wie zügellosen Volte die Dialogbereitschaft des Geehrten ins Gegenteil verkehrte. „Er hasste seine Gegner nicht, er wollte das Beste für sie“, begann der Präsident sanft. Dann merklich lauter: „Doch hier unterscheiden sich Charlie und ich. Ich hasse meine Gegner. Und ich will nicht das Beste für sie. Tut mir leid!“Kirks Witwe Erika vergab mit schmerzerfüllter Miene dem Mörder ihres Mannes, musste sich bald darauf aber der Bühnenpräsenz Trumps beugen.Dreierlei lässt sich aus dieser Frontverhärtung ableiten. Zum einen nimmt der Verfall politischer Kultur im Social-Media-Zeitalter immer erschreckendere Züge an und strahlt inzwischen offenbar selbst auf die Bewertung schwerster Verbrechen aus. Dass Menschen aller Alters- und Berufsgruppen sich nicht scheuen, die Ermordung eines Debattenredners zu goutieren, der nie ein politisches Amt bekleidet hatte noch ihnen je etwas Böses wollte, kann dabei durchaus als neue Qualität gelten. Zum Vergleich: Als nach dem Tod Margaret Thatchers der Zauberer-von-Oz-Titel „Ding-Dong! The Witch Is Dead!“ die britischen Charts stürmte, konnte man die Wucht dieser Geschmacklosigkeit noch mit dem Argument mildern, dass Thatcher nun einmal eine eisenharte Politikerin gewesen sei, die diversen Milieus schwer zugesetzt habe. Gleiches lässt sich von Kirk kaum sagen. Was man ihm vorwerfen kann, sind allein seine Überzeugungen, die zweifellos nicht jedem gefallen, denen aber in nahezu keinem Fall ein besonderer Schockwert zukam. Und anders als die unerbitterliche Iron Lady, die streikende Bergarbeiter auch schon einmal polizeilich in die Mangel nehmen ließ, war der Einunddreißigjährige stets um Waffengleichheit mit seinen Kontrahenten bemüht. Für ihn galt das gesprochene Wort, nichts anderes.Zweitens zeigt sich dieses Aufreißen der Anstandskruste auch über den Fall Kirk und die Plattformwirtschaft hinaus in einer wachsenden Akzeptanz politischer Gewalt. So stimmen laut einer neuen YouGov-Umfrage vor allem junge und progressive Amerikaner vermehrt der Aussage zu, dass der Griff zur Waffe aus politischen Gründen gerechtfertigt sein kann: Ganze 19 Prozent der 18- bis 29-Jährigen teilen diese Ansicht, aber nur drei Prozent der über 65-Jährigen; zudem 24 Prozent der ganz linken Kategorie („very liberal“) gegenüber lediglich drei Prozent der ganz rechten („very conservative“). Nicht minder frappierende Ergebnisse förderte eine Studie von NCRI und Rutgers University im Hinblick auf die Normalisierung von Gewalt gegen Trump und Tesla-CEO Elon Musk zutage. Gewiss bleibt es ein weiter Weg vom Gedanken zur Bluttat, und die Prognose mancher Beobachter, die USA stünden vor einer Neuauflage der anni di piombo, mag überzogen sein. Doch gilt zugleich zu bedenken, dass erst ein Jahr vergangen ist, seit der Präsident nur um Haaresbreite dem Tod entging und der Vorstandsvorsitzende von UnitedHealth auf offener Straße niedergeschossen wurde. In beiden Fällen erfuhren die Täter ein bedrückendes Maß an öffentlichem Zuspruch.Drittens erhält der Versuch, gesellschaftliche Gräben zuzuschütten, vor dem Hintergrund einer immer ungnädigeren Streitkultur einen bleiernen Beigeschmack. Mehr und mehr drängt sich der Gedanke auf, dass die Forderung nach sprachlicher Abrüstung, die man gerne an die Trumps dieser Welt richtet, in gleichem Maße von ihren sich radikalisierenden Gegnern gehört werden müsste. Wer beispielsweise den Mann im Weißen Haus nicht als die schillernd-erratische Figur zeichnet, die er offensichtlich ist, sondern unentwegt als genozidalen Faschisten und Todesengel der Demokratie karikiert, muss sich nicht wundern, wenn die Hemmschwellen sinken und wilde Tyrannenmord-Fantasien Einzug in den Köpfen halten.Auch der Tatverdächtige im Falle Kirks, ein nach eigenen Aussagen vom Hass getriebener 22-Jähriger, hatte auf einige seiner Patronen anti-faschistische Botschaften und einen Verweis auf das Partisanenlied Bella Ciao eingeritzt. Das mag man einerseits als bloße Memefication von Gewalt und apolitisches Spiel mit der Kultur des Internets lesen. Oder eben andererseits als Referenz auf ein Vokabular, das in seinem Alarmismus, seiner Maßlosigkeit und Hysterielust dabei ist, den demokratischen Diskurs weiter zu vergiften.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal