„Probleme ernst nehmen, ohne unanständig zu werden“

14.10.25 15:13 Uhr

Die Fragen stellte Philipp Kauppert.In Norwegen hat die Arbeiterpartei kürzlich die Wahlen gewonnen. In Schweden und Finnland sind die sozialdemokratischen Parteien zwar in der Opposition, sie liegen aber derzeit in den Umfragen jeweils deutlich vorn. Warum sind Sozialdemokraten in Ihren Ländern erfolgreicher als in Mitteleuropa?Maria Arkeby: Das ist eine berechtigte Frage. Unsere Stärke in Schweden liegt darin, den Übergang von der Industriegesellschaft besser überstanden zu haben als viele andere. Wir haben noch immer eine starke Gewerkschaftsbewegung, und der Wohlfahrtsstaat trägt weiterhin. Zudem haben wir – zumindest teilweise – auf Migration und Kriminalität reagiert. Politik ist allerdings schnelllebig, Entwicklungen können sich rasch drehen.Zum Thema Migration – es gibt ja eine anhaltende Debatte darüber, ob die nordischen Länder, insbesondere Dänemark, erfolgreicher waren, weil sie eine strengere Migrationspolitik verfolgen. Die SPD hat im letzten Wahlkampf etwas Ähnliches versucht. Aber sie hat dann die städtische Mittelschicht an die Linke und die Grünen verloren, während die Arbeiterklasse trotzdem nicht zurückgekehrt ist – sie glauben wohl nicht mehr daran, dass solche Maßnahmen Wirkung haben. Ein Dilemma also. Doch in den nordischen Ländern scheint es gelungen zu sein, die extreme Rechte schwächer zu halten als in Mitteleuropa.Maria Arkeby: In Schweden ist es uns gelungen, die progressive Mittelschicht zu halten und gleichzeitig einige traditionelle Arbeiterinnen und Arbeiter zurückzugewinnen. Diese Mittelschicht lehnt den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit der rechtspopulistischen Schwedendemokraten entschieden ab. Die Sozialdemokratie ist diesen Weg nie gegangen. Wir sagen: Migration muss unter Kontrolle sein – ja, sie war zu hoch –, aber wir sind nicht rassistisch, nicht migrationsfeindlich. Dieses Gleichgewicht hat uns geholfen. Einige alte Wählerinnen und Wähler sind zurückgekommen, und wir haben kaum Stimmen an die Linke oder die Grünen verloren. Unsere Zugewinne kamen vor allem von rechts. Vielleicht ist es uns gelungen zu zeigen, dass man Probleme ernst nehmen kann, ohne unanständig zu werden.Axel Fjeldavli: Die Frage ist komplex und hat mehrere Ebenen. Langfristig stellt sich die paradoxe Frage: Warum gibt es in Gesellschaften, die ohnehin relativ egalitär sind, eine starke Nachfrage nach einer Partei der Gleichheit? Aber genau das ist der Punkt: Eine egalitäre Gesellschaft erzeugt den Wunsch nach noch mehr Gleichheit, weil Menschen sehen, dass Fortschritt möglich ist. Das ist die langfristige Erklärung.Wenn bestimmte Positionen als Tabu gelten, wird eine offene Debatte darüber, welche Maßnahmen tatsächlich die besten wären, erheblich erschwert.Kurzfristig lassen sich die Erfahrungen aber nicht einfach auf Deutschland übertragen. Die politischen Kontexte unterscheiden sich erheblich. In ganz Westeuropa wandeln sich die politischen Systeme – rechtsradikale Parteien werden zunehmend Teil der politischen Elite. Wie ein Land darauf reagiert, hängt davon ab, wo es in diesem Prozess steht. In manchen Ländern ist die radikale Rechte bereits normalisiert; in anderen, wie in Deutschland, bleibt sie tabu. Das macht es für die anderen Parteien, einschließlich der Sozialdemokraten, schwierig. Wenn bestimmte politische Positionen aufgrund ihrer Assoziation mit der radikalen Rechten als Tabu gelten, wird eine offene Debatte darüber, welche Maßnahmen tatsächlich die besten wären, erheblich erschwert.In Deutschland diskutieren wir seit zehn Jahren darüber, wie wir die extreme Rechte strategisch bekämpfen können. Wir haben eine sogenannte „Brandmauer“ errichtet. Aber sie funktioniert nicht. Wir sind stolz darauf, moralisch „auf der guten Seite“ zu stehen – historisch antifaschistisch – und doch wächst die Zustimmung zur Rechten weiter. Sie steht auf Rekordhöhen, die SPD auf Rekordtiefs.Lauri Finér: In Finnland gab es drei entscheidende Wendepunkte in den letzten 15 Jahren. Um 2010 war die Lage schlecht: geringe Unterstützung, überalterte Wählerschaft, interne Konflikte. Als Antti Rinne 2014 Parteivorsitzender wurde, startete er ein großes inhaltliches Projekt – Hunderte Mitglieder entwickelten neue Ideen. Diese wurden zur Parteiprogrammatik für die sozialdemokratische SDP. Vor den Wahlen 2019 verschob sich die politische Debatte von Sparpolitik hin zu sozialdemokratischen Themen wie Wohlfahrt und Bildung. Wir gewannen die Wahl und übernahmen die Regierung. Sanna Marin prägte diese Zeit mit einer klar progressiven Politik und großer Anziehungskraft auf junge Wählergruppen. Zum ersten Mal wurde unsere Basis sichtbar jünger. Heute, unter Antti Lindtman und in der Opposition, stehen wir bei 25 Prozent – dem besten Wert seit 20 Jahren. Viele Menschen lehnen die unfaire Sparpolitik der aktuellen Regierung ab.Maria Arkeby: Ein Rat für Deutschland: Es ist gefährlich, wenn sich eine Partei vor allem über die Ablehnung anderer definiert – also als „Anti-AfD“-Partei. Man braucht eine eigene Agenda, eine eigene Vision, wie man das Leben der Menschen verbessern will. In Schweden sind wir selbst in diese Falle getappt: Die letzte Regierungskoalition bestand im Wesentlichen aus dem Zweck, die Schwedendemokraten auszuschließen. Das ist riskant. Eine Partei muss für etwas stehen, nicht nur gegen jemanden.Aufgrund unserer Geschichte haben wir in Deutschland ein tief sitzendes moralisches Problem damit, die AfD als legitime politische Partei zu normalisieren. In anderen Ländern mögen die Menschen die Ideen und Vorschläge der extremen Rechten durchaus auch ablehnen, sie sehen sie aber gleichzeitig als legitime Akteure an.Lauri Finér: In Finnland sitzt unsere rechtspopulistische Partei aktuell in der Regierung. Sie gehört seit 2011 zu den vier größten Parteien und ist relativ stabil. Bei der letzten Wahl kam sie auf über 20 Prozent und ist nun die zweitgrößte Regierungspartei. Rhetorisch sind sie weniger radikal als anderswo. Aber derzeit verlieren sie an Rückhalt, weil sie in der Wirtschaftspolitik schlicht die Linie der Mitte-rechts-Parteien übernommen haben.Axel Fjeldavli: Ich bin ebenso der Meinung: Eine Partei muss ihre eigene Agenda haben. Nur gegen die radikale Rechte zu kämpfen, reicht nicht. Natürlich muss man Unterschiede deutlich machen – aber auf den eigenen Themenfeldern. In Norwegen hat die sozialdemokratische Arbeiterpartei während der Wahlkampagne in diesem Jahr die rechtsextreme Fortschrittspartei als Hauptgegner benannt. Aber die Auseinandersetzung drehte sich um Sozialabbau, Steuern und Schulen – um materielle Fragen, bei denen die extremen und die moderaten Rechten zusammenliegen. Die Sozialdemokraten können den Kampf gegen die radikale Rechte auch in Fragen von Identität, Kultur und Migration sehr wohl gewinnen – aber nicht, wenn die radikale Rechte bestimmt, worüber und wie gesprochen wird. In diesem Fall verstärkt man am Ende lediglich ihre Botschaft.Der Fokus der radikalen Rechten liegt in vielen Ländern auf kulturellen Fragen, auf Identitätspolitik – dort gewinnen sie. Sie haben auch die Mitte-rechts-Parteien in diese Kulturkämpfe mit hineingezogen. Es ist schwer, die öffentliche Debatte wieder erfolgreich auf soziale und wirtschaftliche Themen zu lenken – dorthin, wo die Sozialdemokratie eigentlich am stärksten ist.Maria Arkeby: Genau das ist die Herausforderung. Deshalb versuchen wir, eine klare, realistische Migrations- und Integrationspolitik zu formulieren. Wir haben Verantwortung gegenüber Menschen, die vor Krieg fliehen, aber es muss auch für Schweden funktionieren. Ich glaube nicht, dass wir je eine Wahl mit Migrationspolitik gewinnen werden – aber wir können damit glaubwürdig umgehen und dabei auf Themen wie Wohlfahrt, Arbeit und soziale Rechte setzen. Das ist unsere Stärke.Axel Fjeldavli: Noch ein Punkt: Der Niedergang der Sozialdemokratie hat nicht überall zwangsläufig der radikalen Rechten genutzt. In vielen Fällen gingen Stimmen an die radikale Linke oder die Grünen. Sozialdemokraten suchen nun also nach Strategien, um auch innerhalb des linken Spektrums zu wachsen – nicht nur zur Abwehr der Rechten. Das sind unterschiedliche Herausforderungen, die unterschiedliche Antworten erfordern. In Norwegen erzielt die Arbeiterpartei sowohl in den Städten als auch in ländlichen Regionen ähnliche Ergebnisse. Andere Parteien sind stärker auf bestimmte Milieus beschränkt. In vielen europäischen Ländern hingegen ist die Sozialdemokratie urban und überaltert.Vielen Dank für den Austausch. Auch in Deutschland gibt es die Diskussion um die Idee der „Volkspartei“ – aber was bedeutet das in einer fragmentierten Gesellschaft? Die Gesellschaft ist so vielfältig geworden, dass Zusammenhalt über Gruppenzugehörigkeiten hinweg nur schwer zu schaffen ist. Und doch brauchen wir ihn mehr denn je, gerade aus sozialdemokratischer Perspektive.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal