Sternstunde der Justiz

12.09.25 15:30 Uhr

Ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl, im September 2021, stand Brasiliens damaliger Präsident Jair Bolsonaro auf einer Tribüne in São Paulo und rief seinen Unterstützern vollmundig entgegen: „Ich gehe nur als Gefangener, Toter oder Sieger.“ Und dann fügte der ultrarechte Politiker hinzu: „Lasst euch gesagt sein, dass ich niemals ins Gefängnis gehen werde!“ Vier Jahre und eine verlorene Wahl später ist sein Albtraum wahr geworden: Bolsonaro wurde vom Obersten Gerichtshof wegen eines gescheiterten Putschversuchs vom Januar 2023 zu 27 Jahren Haft verurteilt, nachdem er schon zuvor sein passives Wahlrecht verloren hatte.Das Urteil ist ein historischer Sieg für Brasilien, ein Land, das mehr als ein Dutzend Putschversuche in seiner Geschichte erlebt und Jahrzehnte unter Diktaturen verbracht hat. Für die letzte Militärdiktatur von 1964 bis 1985 wurde – anders als in lateinamerikanischen Nachbarländern wie Chile und Argentinien – das Militär nie gerichtlich zur Verantwortung gezogen. Mit diesem Urteil, das auch drei Generäle und einen Admiral mit hohen Haftstrafen belegt, ist der Nimbus der Unantastbarkeit des Militärs gefallen.Bolsonaros Putschversuch – so ist den Protokollen zu entnehmen – spaltete die Reihen des Militärs. Während der (ebenfalls verurteilte) Marineadmiral Zustimmung signalisierte, lehnten die Kommandeure von Heer und Luftwaffe das Ansinnen ab– und wurden daraufhin von rechtsextremen Bots und Trolls in den sozialen Netzwerken angegriffen. Das zeigt: Auch das Militär ist gespalten. Das Urteil stärkt zwar den institutionellen, demokratischen Flügel, aber das muss sich nun auch in einer neuen Militärdoktrin und in einer offeneren Beziehung zu den zivilen Staatsgewalten widerspiegeln.Der Prozess ist ein wichtiges Symbol für die von Populisten und Extremisten belagerten Demokratien der Welt. Denn Brasilien, einer vergleichsweise jungen Demokratie, ist gelungen, woran die USA zuvor scheiterten: Einen Angriff auf die Demokratie und die Institutionen nicht nur abzuwehren, sondern auch exemplarisch zu bestrafen. Das ist die pädagogische Dimension des Prozesses, der im ganzen Land live im Fernsehen, Radio und auf sozialen Netzwerken übertragen wurde: Dieser zeigt der Bevölkerung, dass Regeln nicht relativiert werden dürfen, dass Demokratie kein opportunistisches Roulette ist, und dass politische Führer eine Verantwortung tragen, die proportional zu ihrer Macht ist.Der Versuch von Bolsonaros Anwälten, die Umsturzpläne als belanglose Tagebuchkritzeleien von Untergebenen darzustellen, ist damit deutlich gescheitert. Nur einer der fünf Richter folgte dieser Argumentation. Diese deutliche Mehrheit wird es auch für die Anwälte der Putschisten schwer machen, Rechtsmittel gegen das Urteil geltend zu machen.Mit der Verurteilung der Putschisten hat Brasilien Mut, Unabhängigkeit und institutionelle Stärke bewiesen.Für US-Präsident Donald Trump, der seit Januar die bedingungslose Unterwerfung Lateinamerikas unter geopolitische Interessen der USA vorantreibt, ist die Verurteilung seines Gesinnungsgenossen Bolsonaro ein Affront. Er hatte zuvor mit Brachialgewalt versucht, das südamerikanische Land davon abzuhalten, und hatte das auch noch mit einer weiteren Reihe wirtschaftlicher Bedingungen verknüpft. Brasiliens linker Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva lehnte jegliche Form von Einmischung in innere Angelegenheiten ab. Er nahm dafür harte Wirtschaftssanktionen in Kauf. Einige Minister und oberste Richter wurden zudem von Trumps Regierung mit persönlichen Sanktionen wie Visumsentzug bestraft. Weitere werden jetzt folgen, glaubt man den Drohungen von Bolsonaros Sohn. Brasilien landet damit definitiv auf Trumps „Schurkenliste“.Doch das, was andere Länder so fürchten, scheint sich für Brasilien und Präsident Lula als Glücksfall zu entpuppen. Der Frontalangriff Trumps verschaffte dem 79-jährigen ehemaligen Gewerkschaftsführer Aufwind in den Umfragen, die ihn derzeit bei den nächsten Wahlen als Favoriten ausweisen. Mit der Verurteilung der Putschisten hat Brasilien Mut, Unabhängigkeit und institutionelle Stärke bewiesen. Das steigert international Brasiliens Image und gibt dem Mitbegründer der BRIC-Staaten die Chance, sich in einer zunehmend polarisierten Welt als Brückenmacht unverzichtbar zu machen.Das Urteil ist aber kein Lorbeerkranz, auf dem sich die demokratischen Kräfte ausruhen können. Denn die Gefahr einer autoritären Regression ist keinesfalls gebannt. Die rechten Kräfte lösen sich mit der Verurteilung nicht in Luft auf, sondern sind längst Teil der politischen Landschaft Brasiliens. Sie stellen Bürgermeister, Stadträte, Abgeordnete und Gouverneure in wichtigen Bundesstaaten. Im Kongress treiben sie bereits ein Amnestiegesetz für die Putschisten voran.Einer der wichtigsten Führer der neuen Rechten, der bereits als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt wird, ist der Gouverneur des Industrie-Bundesstaates São Paulo Tarcisio de Freitas. Er präsentiert sich verbal moderater als Bolsonaro, hat aber bereits versprochen, sich für eine Amnestie einzusetzen. Das Thema dürfte also ein Dauerbrenner auf der politischen Agenda bleiben – ähnlich wie es in Peru mit den Kindern des verurteilten Exdiktators Alberto Fujimori war, die Jahrzehntelang für seine Begnadigung kämpften und dabei die Demokratisierung des Andenlandes nachhaltig beschädigten.Den rechten Propaganda-Netzwerken ist es gelungen, in Teilen der Bevölkerung das Narrativ von Bolsonaro als Opfer einer „korrupten Justizdiktatur“ zu verankern. Einer Umfrage der Meinungsforscherin Camila Rocha zufolge glauben 36 Prozent der Bevölkerung, Bolsonaro sei nicht in den Putsch verwickelt gewesen, 42 Prozent sagen, er sei Opfer korrupter Institutionen. Das Risiko einer Eskalation und weiterer Polarisierung besteht – zumal im Kontext des heraufziehenden Wahlkampfes. Allerdings weisen einige Umfragen auch darauf hin, dass sich die Gemüter beruhigen könnten. 51 Prozent sind laut einer Umfrage von Poder Data gegen eine Amnestie. Manche rechte Politiker haben sich in den vergangenen Wochen vorsichtig von Bolsonaro distanziert und sich den Zentrumsparteien angenähert.Brasiliens Demokratie hat zwar Resilienz bewiesen, aber sie schleppt auch strukturelle Probleme und Fehlentwicklungen mit sich, die korrigiert werden müssen.Der Aufstieg der Rechten ist nicht hauptsächlich das Verdienst von Jair Bolsonaro, der jahrzehntelang als schrulliger Hinterbänkler ein Dasein im Kongress fristete. Das Phänomen nährt sich von einem generellen Vertrauensverlust der Brasilianer in ihre Politiker und Institutionen. Solange dies nicht repariert wird, existiert weiterhin ein fruchtbarer Boden für autoritäre Angriffe. Brasiliens Demokratie hat zwar Resilienz bewiesen, aber sie schleppt auch strukturelle Probleme und Fehlentwicklungen mit sich, die korrigiert werden müssen.Eines davon ist die Machtfülle des Obersten Gerichts, die nicht nur von Bolsonaro-Anhängern kritisiert wird. Auch zahlreiche linke Politiker fühlten sich unfair behandelt – etwa in den Korruptionsprozessen während Lulas früherer Amtszeiten. Im Gegensatz zu anderen Ländern vereint das Gericht drei Funktionen: Es ist die letzte Instanz für Berufungen, entscheidet über alle verfassungsrechtlichen Fragen und urteilt in Strafsachen gegen Politiker. Das hat dazu geführt, dass sich alle politisch wichtigen Entscheidungen beim Obersten Gericht ballen. Im Zuge der medial ausgeschlachteten Korruptionsprozesse wurden die Richter zu Stars und die Justiz zu einem dominierenden und auch angreifbaren Akteur auf der politischen Bühne.Ein zweites Problem ist der brasilianische Kongress. In ihm sind über ein Dutzend Parteien vertreten. Die meisten haben kein wirkliches Programm, sondern werden von Lobbys finanziert oder vertreten opportunistische Eigeninteressen. Die Macht liegt im Zentrum, beim Block der bürgerlichen Partien, dem sogenannten Centrão. Wer die Wahl gewinnen und danach regieren will, ist auf ihn angewiesen. Das ist eine Herausforderung, auch für Lula, denn der Centrão hat sich immer wieder gegen ihn gestellt und aus Opportunismus mit Bolsonaro geflirtet. Angesichts schwacher Präsidenten verschaffte sich der Kongress in den vergangenen zehn Jahren mehr Kontrolle über den Bundeshaushalt und nutzte dies für eigene Lieblingsprojekte. Heute kontrollieren Parlamentarier direkt etwa ein Viertel der diskretionären Ausgaben im Bundeshaushalt. Diese Beutementalität rückgängig zu machen, ist eine enorme Herausforderung.Ein drittes Problem ist die fortbestehende soziale Ungleichheit. Brasiliens extraktivistisches und noch immer relativ protektionistisches Wirtschaftsmodell befeuert Vetternwirtschaft, bevorzugt steuerlich nationale Oligopole und hemmt damit Innovation, Wirtschaftswachstum und Aufstiegschancen für die unteren Schichten. Brasiliens Exporte machen weniger als ein Fünftel des Bruttoinlandsproduktes aus, und der Löwenanteil davon sind kaum verarbeitete Rohstoffe und Agrarprodukte. Dutzende von Branchen erhalten Steuererleichterungen oder Subventionen ohne klare wirtschaftliche Kriterien. Die Personal- und Rentenausgaben für Staatsdiener fressen einen Großteil der Budgets der jeweiligen Ministerien auf und zwingen die Regierung, hoch verzinste neue Kredite aufzunehmen. Ökonomen halten dies für einen wachstumshemmenden Teufelskreis, der wiederum die Unzufriedenheit der Wählerinnen und Wähler mit der Politik nährt und letztlich auch dem umweltzerstörerischen Extraktivismus (darunter auch die Agroindustrie) Vorschub leistet, weil so am schnellsten und einfachsten Reichtümer zu erwirtschaften sind.Die Probleme Brasiliens sind bekannt, doch die Polarisierung unter Bolsonaro hat bislang eine Reformagenda erschwert. Seine Verurteilung eröffnet nun eine neue Chance, und Politiker unterschiedlichster ideologischer Lager haben brasilianischen Medien zufolge daran auch Interesse bekundet. Gelingt es dem Staatsmann Lula, daraus eine Mehrheit zu schmieden, dann kann der Prozess gegen Bolsonaro als Wendepunkt zur Konsolidierung der brasilianischen Demokratie in die Geschichte eingehen. Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal