Testfall für die NATO

11.09.25 13:30 Uhr

In der Nacht zum 10. September erhielt der russische Luftangriff auf die Ukraine eine neue Dimension. Russische Drohnen griffen nicht nur ukrainisches Territorium an, sondern drangen auch in den polnischen Luftraum ein. Aufgrund der Bedrohung durch die Drohnen wurde der Luftraum über vier polnischen Flughäfen vorübergehend gesperrt – über dem in Rzeszów, in Lublin sowie den beiden Warschauer Airports.Russische Drohnen über NATO-Ländern sind nichts Neues. Bereits im März 2022 stürzte eine Drohne sowjetischer Bauart des Typs „Mauersegler“ nahe Zagreb in Kroatien ab – nachdem sie Rumänien und Ungarn überflogen hatte. In den Jahren 2023 und 2024 wurden russische Drohnen, teils auch Flugzeuge, mehrfach im Luftraum Lettlands registriert, die meist über Belarus eingedrungen waren. Auch über Rumänien tauchten sie in den letzten Jahren regelmäßig auf. Das veranlasste Bukarest in diesem Jahr sogar zu Gesetzesänderungen, die schnellere Entscheidungen zum Abschuss unbekannter Drohnen ermöglichen.In Litauen wurde 2025 eine russische Drohne rund 100 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt nahe des Truppenübungsplatzes Gaižiūnai entdeckt. Selbst Deutschland geht davon aus, dass Russland 2024 und 2025 Aufklärungsdrohnen zur Spionage gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sowie im Umfeld des NATO-Stützpunkts Geilenkirchen und des Luftwaffenstützpunkts Manching in Bayern eingesetzt hat. Auch über Polen wurden seit 2023 immer wieder russische Drohnen und Raketen gesichtet.Warum also war die Nacht vom 9. auf den 10. September so ein wichtiger Präzedenzfall? Vor allem deshalb, weil Warschau nicht nur die Verletzung seines Luftraums öffentlich einräumte und versuchte, die Drohnen abzufangen, sondern zudem Artikel 4 des Nordatlantikvertrags aktivierte. Dieser sieht Konsultationen unter den Mitgliedstaaten vor, sobald eines von ihnen seine territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit als bedroht betrachtet.Dieser Schritt eröffnet auch anderen von russischen Provokationen betroffenen NATO-Staaten neue Handlungsmöglichkeiten – und durchbricht das Tabu, über Maßnahmen gegen Drohnenangriffe zu sprechen. Diese sind nur ein Teil der hybriden Kriegsführung Moskaus gegen Europa. Die Anerkennung des Problems und das Bewusstsein, dass kein Mitgliedstaat alleinsteht, sind ein erster – wenn auch verspäteter – Schritt zu einer gemeinsamen Lösung. Vor allem die NATO-Staaten am östlichen Flügel können nun kollektive Anstrengungen zum Schutz ihres Himmels fordern. Dass die Initiative ausgerechnet von Warschau kam, ist wichtig: Polen ist die größte Wirtschafts- und Militärmacht der Region und wird von seinen Nachbarn als Führungsmacht wahrgenommen.Doch selbst innerhalb der Region fehlt es an Geschlossenheit.Polens Vorgehen bedeutet freilich noch nicht die Anwendung von Artikel 5, der eine kollektive Antwort vorsieht. Auf diesen zu hoffen, wäre ohnehin unrealistisch. Er setzt den Konsens aller Mitgliedstaaten voraus. Doch selbst innerhalb der Region fehlt es an Geschlossenheit. Ungarn etwa unterstützte Polen zwar, nutzte den Vorfall aber, um erneut für eine Aussöhnung mit Russland zu werben. Auch die Slowakei reagierte zurückhaltend: Ihr Außenminister vermutete, die Drohnen könnten „vom Kurs abgekommen“ sein oder „eigentlich auf die Rückkehr in die Ukraine programmiert gewesen sein“.Diese Differenzen zeigen, dass Moskau zumindest teilweise sein Ziel erreicht hat. Der Test der Reaktionsfähigkeit der Allianz machte deutlich: Mit der Solidarität ist es nicht weit her. Wenn schon regional Uneinigkeit herrscht, ist es schwer vorstellbar, dass auf transatlantischer Ebene gemeinsame Entscheidungen getroffen werden.Gleichwohl gibt es auch positive Aspekte. Erstens ist die Gefahr, die bisher als hypothetisch oder spekulativ galt, nun offensichtlich. Diplomatische Beschönigungen sind passé – ein Signal, das auch für die Bürgerinnen und Bürger Mitteleuropas greifbarer sein könnte. Damit steigt die Chance, dass Regierungen in der Region wie auch in der gesamten EU Unterstützung für unpopuläre, aber notwendige Maßnahmen wie höhere Verteidigungsausgaben erhalten.Zweitens hat sich die große Effektivität der Ukraine bei der Abwehr von Drohnenangriffen gezeigt. Kiew gelingt es regelmäßig, massive Attacken abzuwehren – und das oft mit kostengünstigeren Mitteln als Polen, das Medienberichten zufolge vor allem niederländische F-35-Jets einsetzte. Für die NATO ist das eine Gelegenheit von den ukrainischen Erfahrungen zu lernen und die Ukraine nicht nur als Empfänger, sondern als Mitgestalter europäischer und transatlantischer Sicherheit zu sehen.Drittens wurde deutlich, wie wichtig es ist, den ukrainischen Luftraum gemeinsam zu schützen – zumindest über der Westukraine. Würde dies geschehen, hätten russische Drohnen kaum eine Chance, die polnische Grenze zu überfliegen. Gleichzeitig könnten dadurch ukrainische Luftabwehrsysteme frei werden, um im Osten und Süden des Landes eingesetzt zu werden.Auch in Mitteleuropa wird Russland Zwietracht säen.Moskau wiederum weiß, dass der polnische Präzedenzfall den NATO-Ostflügel stärken und die Debatte über den Schutz des ukrainischen Himmels befeuern könnte – und wird versuchen, dies zu konterkarieren. Die Drohnenangriffe werden daher mit Desinformation und psychologischen Operationen flankiert. Russische Propagandisten werden die Reaktion Polens und der NATO als Schwäche darstellen, um bei den Ukrainern Enttäuschung und Ressentiments zu schüren. Das schwächt schon jetzt die Moral – und könnte nach dem Krieg gezielt instrumentalisiert werden, um Ziele zu erreichen, die Moskau mit Panzern, Raketen und Drohnen nicht durchsetzen konnte.Auch in Mitteleuropa wird Russland Zwietracht säen. Die Reaktionen aus Ungarn und der Slowakei offenbaren die fehlende Geschlossenheit. Nach den Parlamentswahlen in Tschechien im Herbst könnte auch Prag weniger pro-ukrainisch auftreten und stärker auf Isolationismus setzen. Das wiederum schwächt die ohnehin unter hohem Druck stehenden pro-europäischen Regierungen in Bulgarien, Rumänien und im Baltikum.In Polen selbst ging die Drohnenattacke mit einer massiven Welle anti-ukrainischer Botschaften in den sozialen Medien einher. Ganze Trollfabriken versuchten, die Schuld an den Angriffen den Ukrainern zuzuschieben. Offene Lügen über eine „ukrainische Provokation“ wurden mit anderen anti-ukrainischen Narrativen verknüpft.Die Luftattacke war somit auch eine Informationsattacke: Russische Drohnen flogen nach Polen, begleitet von einer orchestrierten Desinformationskampagne gegen die NATO und die Ukraine. Damit steht Polen – und mit ihm Europa und die NATO – erneut an einem Scheidepunkt. Möglich ist eine Stärkung des östlichen Bündnisflügels, ein wirksamerer Schutz des ukrainischen Luftraums, eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Kiew und eine konsequentere Eindämmung russischer Propaganda. Ebenso denkbar ist jedoch, dass es bei markigen Worten ohne konkrete Schritte bleibt. In diesem Fall dürfte Moskau weiter Drohnen und Raketen einsetzen – und das nicht nur gegen ukrainische Städte.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal