Trügerischer Erfolg
Wenn eine Partei eine Wahl verliert, folgt meist eine Phase der Selbstreflexion: Man diskutiert, was schiefgelaufen ist, und setzt sich mit jenen Schwächen auseinander, die im Wahlkampf unter den Teppich gekehrt wurden. So war es auch bei den US-Demokraten nach ihrer Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen 2024. Doch nur wenige Monate später ist die Bereitschaft, über neue Wege für die Partei nachzudenken, bereits wieder verblasst. Stattdessen steht nun der Widerstand gegen Trumps zweite Amtszeit im Vordergrund.Im US-Wahlsystem folgen auf die Präsidentschaftswahlen zeitlich versetzt die sogenannten Zwischenwahlen zum Kongress. Das Problem: Diese Midterms blenden abweichende Meinungen aus und zwingen die Parteien faktisch dazu, an ihren bestehenden Positionen festzuhalten. Kaum ist eine Wahl vorbei, beginnt wenige Monate später bereits wieder der Wahlkampf. Für die unterlegene Partei bedeutet das, ihre Spendeneinnahmen so schnell wie möglich zu maximieren und die oppositionelle Stimmung in der eigenen Basis auszuschöpfen – eine Stimmung, die in den ersten Monaten einer neuen Amtszeit erfahrungsgemäß am stärksten ist.Da die jeweilige Oppositionspartei bei den Midterms meist im Vorteil ist und diese Wahlen häufig gewinnt, werden unangenehme Fragen, die sich aus der letzten Niederlage ergeben, oft verdrängt. Dieser trügerische Optimismus hält in der Regel bis zur nächsten Präsidentschaftswahl an.Sollten die Demokraten bei den Halbzeitwahlen im November 2026 gut abschneiden, dürfte etwa die Frage, wie sie die hispanische Wählerschaft oder junge Männer besser erreichen könnten, erneut in den Hintergrund treten. Befürworter der bisherigen Strategie werden dann argumentieren, der aktuelle Kurs gehe durchaus auf.Dabei lohnt sich ein Blick zurück auf das Jahr 2022: Nach einem respektablen Ergebnis bei den Zwischenwahlen redeten sich die Demokraten ein, Joe Biden sei weiterhin ein aussichtsreicher Kandidat für die Wiederwahl. Schließlich war er der Einzige, der Trump bereits besiegt hatte – also müsse er es auch ein zweites Mal schaffen. Doch die Präsidentschaftswahl 2024 fand auf einem völlig anderen politischen Terrain statt als die Midterms 2022. Bidens Gesundheitszustand spielte diesmal eine zentrale Rolle, während 2022 noch die Vielzahl an Kandidatinnen und Kandidaten der Partei für Senat und Repräsentantenhaus im Mittelpunkt gestanden hatte.Ein Blick auf die Midterms 2018 zeigt ein ähnliches Muster: Damals feierten die Demokraten einen klaren Erfolg. Die Lehre daraus lautete, die Partei müsse lediglich ihre „Widerstandshaltung“ gegen Trump fortsetzen und für die Präsidentschaftswahlen 2020 noch verschärfen. Im Aufwind wähnte man sich bereits auf dem Weg zu einer breiten gesellschaftlichen Bewegung – einer Stimmung, die über die bloße Ablehnung Trumps hinausgehe. Das führte zu einem gewissen Wettlauf nach links. Unterschiedliche Interessengruppen sollten zufriedengestellt werden; so erhielten etwa Forderungen nach der Entkriminalisierung von Grenzübertritten oder nach staatlicher Finanzierung von Geschlechtsangleichungen für inhaftierte, undokumentierte Migranten öffentliche Aufmerksamkeit.Zwischenwahlen sind in der Regel kein verlässlicher Indikator dafür, wie die nächste Präsidentschaftswahl ausgehen wird.Inzwischen ist klar, dass diese Entwicklung erhebliche Probleme im Verhältnis zur traditionellen Wählerschaft der Demokraten mit sich brachte. Probleme, die in der Euphorie nach 2018 kaum wahrgenommen wurden, nach den Wahlen 2020 und vor allem 2024 jedoch unübersehbar waren.Die erwartbaren guten Ergebnisse bei den Zwischenwahlen 2018 wie auch die überraschend ordentlichen Resultate 2022 haben den demokratischen Präsidentschaftskandidaten 2020 und 2024 genau die falschen Signale gesendet. Zwar gelang es den Demokraten 2020, das Weiße Haus von Donald Trump zurückzuerobern, doch die Fehlinterpretation allzu optimistischer Umfragen ließ sie glauben, es sei nun ein historischer Moment für progressive Politik gekommen. Das trieb die Partei zu teils extremen Positionen – und ebnete damit den späteren Verlusten, etwa unter hispanischen Wählern, den Weg. Die Ergebnisse der Zwischenwahlen 2022 wiederum führten dazu, dass Sorgen um Bidens Gesundheit verdrängt und lange ignoriert wurden – ein noch schwerwiegenderer Fehler.Um es klar zu sagen: Zwischenwahlen sind in der Regel kein verlässlicher Indikator dafür, wie die nächste Präsidentschaftswahl ausgehen wird. So schnitten die Republikaner sowohl 2020 als auch 2024 deutlich besser ab, als es die jeweils vorangegangenen Midterms hätten vermuten lassen. Und größere Umbrüche bei Halbzeitwahlen sind keineswegs ein besserer Stimmungsmesser für die nächste Präsidentschaftswahl als „normale“ kleinere Verschiebungen in der öffentlichen Meinung. Nach ihrem Midterm-Sieg 2010 etwa verfielen die Republikaner in Euphorie und Übermut – und verloren 2012 dennoch die Präsidentschaftswahl. Umgekehrt hatte Bill Clinton nach der „Republikanischen Revolution“ bei den Midterms 1994 keinerlei Probleme, 1996 wiedergewählt zu werden..Mitunter schließen sich an erfolgreiche Zwischenwahlen tatsächlich Siege bei der folgenden Präsidentschaftswahl an – so etwa bei den Republikanern 2014/2016 oder den Demokraten 2006/2008. Doch auch diese Beispiele fügen sich in ein bekanntes Muster: Zwischenwahlen laufen für die jeweils regierende Partei meist schlechter, und nach zwei Amtszeiten verliert die amtierende Partei in der Regel das Weiße Haus.Zwischen- und Präsidentschaftswahlen folgen jeweils ihrem eigenen Rhythmus. Ein Sieg in der einen Wahl lässt keinerlei Rückschlüsse auf die andere zu. Ein Erfolg bei den Midterms mag erfreulich sein, doch er ist oft nur eine zyklische Reaktion auf die amtierende Regierungspartei – und löst nicht die tieferliegenden Probleme, die sich im Präsidentschaftswahljahr offenbaren, wenn die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler tatsächlich an die Urnen geht.Die beiden Wahlarten sind nicht nur weitgehend unabhängig voneinander. In der gegenwärtigen politischen Konstellation kann der Erfolg bei der einen sogar aktiv zum Scheitern bei der anderen beitragen – man denke nur an 2020 oder an die Illusionen des Biden-Teams 2024.Gelegenheitswähler ticken anders als Menschen, die regelmäßig an die Urnen gehen.Die Spaltungslinien bei den Wahlen 2024 zeigten sich nicht nur in sich wandelnden kulturellen und „tribalen“ Zugehörigkeiten, sondern auch in der Wahlbeteiligung. Gelegenheitswähler ticken anders als Menschen, die regelmäßig an die Urnen gehen. Erstere sind weniger ideologisch gefestigt und stärker von aktuellen Stimmungen beeinflusst. Die Analyse Political Tribes verdeutlicht die erheblichen Unterschiede in den politischen Überzeugungsstrukturen zwischen Menschen, die regelmäßig wählen, und Menschen, die selten wählen.Stellen wir uns die gesamte potenzielle Wählerschaft als eine Schlange vor, in der die Menschen nach ihrer Wahrscheinlichkeit zu wählen geordnet sind. Ganz vorne steht die Person, die garantiert zur Wahl geht; ganz hinten die, bei der es keinerlei Chance gibt. Bei Zwischenwahlen schließt der Einlass zum „Wahlclub“ früher am Abend: Die „VIPs“, die immer abstimmen, stellen dann einen größeren Anteil der Anwesenden. Anders gesagt: Motivierte Wähler kommen hinein, unmotivierte bleiben draußen. Für den Clubbetreiber bedeutet das: Bei einer Zwischenwahl hat er es mit einem stabileren und deutlich berechenbareren Publikum zu tun.In Präsidentschaftswahljahren kommen aber viel mehr Menschen in den Club beziehungsweise an die Urnen, die sich nicht besonders für Politik interessieren. Für genau diese Wählergruppen ist Trump besonders attraktiv. Seine Wirkung reicht über Politik im engeren Sinne hinaus; er mobilisiert vormals Gleichgültige – 2016 waren es Stahlarbeiter, 2024 die „Krypto-Bros“. Er spaltet die Menschen nicht nur ideologisch, sondern auch in ihrer Haltung zu Normen und Verfahren. Die „VIPs“ im Wahlclub, die mit allen politischen Regeln vertraut sind, wenden sich meist angewidert ab; jene hingegen, die sonst außen vor bleiben, fühlen sich von ihm angezogen. Das stellt eine grundlegende Umkehr früherer Annahmen darüber dar, wem in den USA eine hohe Wahlbeteiligung nützt. 2024 zeigte sich deutlich: „Kleinere“ Wahlen zu spezifischen Themen taugen nicht als Stimmungstest für die Präsidentschaftswahl im Herbst. Bei den Wählern mit hoher Wahlneigung schnitten die Demokraten klar besser ab als in der Gesamtwählerschaft.Die entscheidenden Verschiebungen im Herbst 2024 zeigten sich vor allem bei Wählerinnen und Wählern, die sonst selten zur Urne gehen – darunter Hispanics und andere Minderheiten, aber auch junge Menschen, Personen ohne Hochschulabschluss, Unverheiratete und Wähler mit geringem Einkommen. Wenn mehrere dieser Merkmale zusammenkamen – was häufig der Fall war –, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass sie Trump ihre Stimme gaben. Man könnte von einer Art MAGA-Version von Intersektionalität sprechen. Doch das bedeutet nicht, dass diese Gruppen verlässlich oder vorhersehbar wählen. Ihre Loyalitäten können flüchtig sein – und selbst wenn sie zur Wahl gehen, ist unklar, welcher Seite dies am Ende zugutekommt.Man könnte von einer Art MAGA-Version von Intersektionalität sprechen.Das verändert nicht nur die Demografie der Wählerschaft, die in einem Zwischen- oder Präsidentschaftswahlzyklus erreicht wird, sondern auch die Themen, die im Mittelpunkt stehen. So dominierten 2022 etwa Demokratie und Schwangerschaftsabbruch die Debatten, 2024 jedoch nicht mehr. Das lag nicht allein daran, dass prägende Ereignisse wie der 6. Januar oder die Aufhebung von Roe v. Wade damals noch frisch im Gedächtnis waren, sondern auch daran, dass gezielt Wählerinnen und Wähler mit hoher oder mittlerer Wahlneigung mobilisiert wurden.Auf der rechten Seite des politischen Spektrums erfüllt das Thema Einwanderung eine ähnliche Funktion: Die ideologisch überzeugtesten und zugleich wahlfreudigsten Trump-Anhänger beschäftigen sich weitaus stärker damit als jene, die nur unregelmäßig oder nicht zuverlässig für ihn stimmen. Noch deutlicher zeigt sich das beim Thema Lebenshaltungskosten – dem dominierenden Punkt in den Umfragen. Paradoxerweise wirkt er fast wie ein negativer Indikator für die Wahlbeteiligung: Statistisch gesehen nehmen Menschen, die stark unter hohen Lebenshaltungskosten leiden, seltener an Zwischen- oder kleineren Wahlen teil. Da diese Betroffenen politisch weniger präsent sind, finden konkrete Lösungsansätze für dieses Problem bei Politikerinnen und Politikern beider Parteien kaum Beachtung. Ähnliches gilt für das verwandte Thema Wohnkosten und Mieten.Eine Mobilisierungsstrategie zu bestimmten Einzelthemen kann bei Zwischenwahlen durchaus funktionieren. In Präsidentschaftswahljahren jedoch wird sie meist durch den Zustrom weniger informierter, leichter beeinflussbarer Wählerinnen und Wähler unterlaufen, deren Beteiligung von völlig anderen Faktoren abhängt. Deshalb konnten wir gerade in jüngster Zeit alle zwei Jahre einen Wechsel beobachten, welche Partei über ihre Stammwählerschaft hinaus Zugewinne erzielte: 2016 die Republikaner, 2018 die Demokraten, 2020 erneut die Republikaner, 2022 die Demokraten – und 2024 wieder die Republikaner. Politiker glauben gern, die Lehren aus einem Wahlzyklus ließen sich auf den nächsten übertragen. Tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall.Zwar gibt es in der Demokratischen Partei viele, die aufrichtig daran interessiert sind, das Bild der Partei bei Menschen mit niedriger Wahlbeteiligung zu verändern. Doch alle unmittelbaren Anreize rund um die Zwischenwahlen sprechen dagegen. Im Klartext: Je erfolgreicher die Demokraten bei den Midterms abschneiden, desto unpopulärer werden Forderungen nach einem grundlegenden Kurswechsel.Dieser Artikel erschien zuerst im US-Onlinemagazin The Intercept.Aus dem Englischen von Tim SteinsWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal