Von der Türkei lernen
Am vergangenen Freitag drangen drei russische Mig-31-Jets in den Luftraum von Estland ein. Dies ist bei weitem nicht der erste Vorfall, bei dem Russland den Luftraum seines baltischen Nachbarstaates verletzt hat. Im Kontext der vorausgegangenen Provokationen, insbesondere den Drohnenangriffen auf Polen vom 10. September, stellt dieser Vorfall aber eine neue Eskalationsstufe dar – und er wirft die Frage auf, wie die NATO reagieren sollte.Bislang haben sich wenige Politiker explizit für das Abschießen russischer Kampfjets geäußert. Dazu gehören CDU-Außenexperte Jürgen Hardt, der tschechische Präsident Petr Pavel oder die litauische Verteidigungsministerin Dovilė Šakalienė. Doch viele Politiker reagieren bislang verhalten, aus Sorge um eine mögliche Eskalation. Es bestehen Bedenken, dass der Abschuss eines russischen Jets Artikel 5 aktivieren könnte – mit unkalkulierbaren Folgen. Sorgen, die verständlich sind, in Russland aber mit Häme aufgenommen werden.„In der heutigen Welt funktioniert alles anders. Wer stark ist, hat recht.“Als am 10. September der polnische Luftraum von 19 russischen Drohnen verletzt und sogar ein Wohnhaus in der Woiwodschaft Lublin beschädigt worden ist, machte sich der erste stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Staatsduma Aleksey Zhuravlyov über die westliche Reaktion lustig. Im russischen Staatsfernsehen erklärte er sarkastisch, es sei unklar, woher die Drohnen stammen: „Ganz Europa schreit auf. Was soll das? Wenn wir wirklich beschlossen hätten, Polen Probleme zu bereiten, würden wir Rzeszów angreifen, das wäre logisch, und dann wäre alles klar“. In derselben Sendung bringt er seine Sicht auf die internationale Politik deutlich zum Ausdruck: „In der heutigen Welt funktioniert alles anders. Wer stark ist, hat recht“. Und genau hierin manifestiert sich die aktuelle russische Staatsdoktrin. Die ausgebliebene Reaktion auf die Verletzung des europäischen Luftraums wird als Einladung für weitere aggressive Maßnahmen interpretiert. Denn die Vergangenheit zeigt: Eine entschlossene Reaktion führt nicht zur Eskalation, sondern zu Respekt.Als das russische Militär im syrischen Bürgerkrieg intervenierte, um die Macht des Diktators Bashar al-Assad zu stützen, verletzten russische Kampfjets mehrfach den türkischen Luftraum. Im Oktober 2015 warnte daher der US-Außenminister John Kerry, dass die Türkei in einer solchen Situation die Kampfjets abschießen könnte. Am 24. November 2015 wurden diese Warnungen in die Praxis umgesetzt. Ein russischer Suchoi Su-24 wurde von einem türkischen Kampfjet abgeschossen - 17 Sekunden nachdem dieser den türkischen Luftraum erreicht hatte. Zuvor wurde der Pilot mehrfach gewarnt und aufgefordert, umzukehren - vergeblich. Der Pilot wurde beim Absprung mit dem Fallschirm durch Bodenfeuer syrischer Rebellen erschossen.Russland reagierte deutlich erbost und verhängte Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei, doch die vielseits befürchtete Eskalation blieb aus. Vielmehr flog die russische Luftwaffe von nun aus vorsichtiger. Lediglich am 29. Januar 2016 wurde eine Verletzung des türkischen Luftraums durch ein russisches Flugzeug vermeldet. Seitdem blieb der türkische Luftraum von russischen Kampfjets unangetastet.NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte damals seine volle Solidarität mit der Türkei. Ähnlich äußerten sich US-Präsident Barack Obama und weitere NATO-Staatschefs. Im Juni 2016 sprach Erdoğan sein Beileid für die Familie des getöteten russischen Piloten aus und die Beziehungen zu Russland normalisierten sich. Doch es lässt sich festhalten: Russland respektiert nur jene Staaten, die gewillt sind, ihr Territorium und ihren Luftraum zu verteidigen. Kritiker könnten einwenden, dass die Situation mit der Türkei vor zehn Jahren nicht mit der aktuellen geopolitischen Lage zu vergleichen sei. Doch gerade in der aktuellen Lage, in der Russland gezielt danach strebt, die Verteidigungsfähigkeit der NATO maximal auszutesten, ist eine derartige Reaktion umso essenzieller.Russland nutzt nun die historische Chance aus, die Allianz als möglichst schwach und inkompetent darzustellen.Donald Trump hatte bereits im Februar 2024 Russland zu derartigen Provokationen quasi motiviert. Er erklärte den Staaten, die seiner Meinung nach nicht genug in Verteidigung investieren, die Unterstützung zu unterlassen: „Nein, ich würde euch nicht beschützen – im Gegenteil, ich würde [Russland] ermutigen, zu tun, was sie wollen. Ihr müsst zahlen“. Russland nutzt nun die historische Chance aus, die Allianz als möglichst schwach und inkompetent darzustellen. Auch wenn Trump mittlerweile Polen und den baltischen Staaten zugesichert hat, er würde diese im Fall von weiteren Eskalationen unterstützen, hat seine bisherige Präsidentschaft gezeigt, dass es dem Kreml immer wieder gelingt, den US-Präsidenten vorzuführen.Erst im April dieses Jahr deutete Trump an, dass er das Gefühl habe, von Putin „ausgenutzt“ zu werden. Konsequenzen hatte das nicht zur Folge. Anstatt die Sanktionen gegen Russland zu verschärfen, wurden die US-Hilfen für die Ukraine reduziert. Die Anzahl der Drohnen- und Raketenangriffe auf die Ukraine hat sich dagegen seit dem Amtsantritt Trumps verdoppelt. In diesem Kontext kommt immer wieder die Frage auf, was der Kreml eigentlich mit Provokationen wie der Verletzung des estnischen Luftraums beabsichtigt. Russland hat mit seiner Invasion der Ukraine kein einziges strategisches Ziel erreichen können. Weder ist es dem Land gelungen, den gesamten Donbas zu erobern, noch wurde die NATO-Militärinfrastruktur auf den Stand von 1997 zurückgeführt (wie es der Kreml in seinem Ultimatum von 2021 gefordert hatte). Stattdessen wurde die Allianz um Schweden und Finnland erweitert.Durch die Inkompetenz und Planlosigkeit der Trump-Administration eröffnet sich für Russland eine historische Möglichkeit, den eigentlichen Nutzen der Allianz infrage zu stellen. Wenn es dem Kreml nicht gelingt, dem Verteidigungsbündnis vorzuschreiben, welche Staaten aufgenommen werden dürfen und welche nicht, so kann es ein anderes Ziel erreichen: Die NATO als machtlose Fassade erscheinen zu lassen – ein Bündnis, dessen Verteidigungsversprechen letztlich nur eine Illusion ist. Wird dieses Ziel erreicht, so steht einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit den baltischen Staaten nichts mehr im Wege.Konsultationen und die Zusage westlicher Staaten, Kampfjets zur Verfügung zu stellen, bringen nicht viel, wenn sie nicht zum Einsatz kommen. Die Tatsache, dass drei russische Kampfjets 12 Minuten lang ungehindert den estnischen Luftraum verletzen konnten, stellt eine schwere Demütigung dar und sendet ein klares Signal an Russland: Die Grenzen sind bei weitem noch nicht ausgetestet. Bleibt die NATO untätig, wird Moskau die Grenze weiter austesten. Für Polen und die baltischen Staaten könnte der Klang der Sirenen schon bald zum Alltag gehören – oder es folgen Provokationen, die weit über symbolische Grenzverletzungen hinausgehen.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal