Amerikas Vasall
„Donald, du hast uns an einen wirklich, wirklich wichtigen Punkt für Amerika, Europa und die Welt geführt. Du wirst etwas erreichen, was kein amerikanischer Präsident seit Jahrzehnten geschafft hat. Europa wird sehr viel zahlen – so wie es sollte – und das wird dein Sieg sein.“Diese Art von Unterwürfigkeit ist das, was man von Trumps Gefolgsleuten in den USA mittlerweile erwartet. Man kann diese live auf Fox News erleben – sofern man dies denn möchte. Doch dass solche Worte am Vorabend des NATO-Gipfels in Den Haag vom NATO-Generalsekretär Mark Rutte kommen, überrascht dann doch.Das Bündnis feiert den Gipfel als großen Erfolg, weil sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben, fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben: dreieinhalb Prozent für die eigentlichen Verteidigungsausgaben plus eineinhalb Prozent für Infrastruktur, Resilienz, die industrielle Basis und Ähnliches. Die letzten Punkte würden normalerweise nicht als Verteidigungsausgabe gelten, doch die NATO zählt es nun dazu, und dies aus einem einfachen Grund: Trump hat die Zahl fünf Prozent aus dem Nichts heraufbeschworen, und diese wurde somit zum Maßstab für Den Haag. Und alle haben sie akzeptiert – oder tun zumindest so.In Wahrheit war nur Spanien so mutig, zu sagen, was viele denken: Auch wenn einige östliche NATO-Staaten bereits jetzt bei vier bis fünf Prozent liegen, haben die meisten anderen Mitgliedsstaaten nicht ernsthaft vor, das Fünf-Prozent-Ziel zu erreichen. Aus gutem Grund: Es ist weder notwendig noch realistisch. Spaniens Last-Minute-Schreiben an den Generalsekretär erschwerte es jedoch allen anderen, dieses Argument zu unterstützen – denn es wies nicht nur die fünf, sondern auch die dreieinhalb Prozent zurück. Letztere sind jedoch notwendig und beruhen auf der Verteidigungsplanung des NATO-Militärstabs. Was hätten die Europäer stattdessen tun sollen? Frühzeitig den Mut aufbringen und den USA folgendes mitteilen: „Wir halten fünf Prozent nicht für notwendig, dreieinhalb Prozent jedoch durchaus – und wir werden einen ernsthaften Plan entwickeln, um dieses Ziel zu erreichen.“Dass es nicht dazu kam, zeigt, dass nicht die NATO, sondern Europa ein Problem hat. Europa – also die EU und die europäischen NATO-Mitglieder – ist die einzige Weltmacht, die sich selbst so kleinredet, dass sie für sich keine andere strategische Rolle sieht, als der loyalste Verbündete der USA zu sein. Selbst in diesen Tagen, wenn die aktuelle US-Regierung ihre Alliierten wie Rivalen behandelt, der EU ideologisch ablehnend gegenübersteht, einen Zollkrieg gegen Europa führt und sich in die europäischen Innenpolitiken einmischt, um die extreme Rechte zu unterstützen. Und all das wird Trump aller Wahrscheinlichkeit nach auch weiterhin tun – trotz der Tatsache, dass er seine fünf Prozent bekommen hat. Ja, er hat Den Haag in guter Stimmung verlassen – aber glaubt ernsthaft jemand, dass diese Laune von Dauer ist?Die Aufrechterhaltung der NATO und der transatlantischen Partnerschaft insgesamt liegt im grundlegenden europäischen Interesse.Zur Klarstellung: Die Aufrechterhaltung der NATO und der transatlantischen Partnerschaft insgesamt liegt im grundlegenden europäischen Interesse. Vorausgesetzt allerdings, dass der Preis dafür nicht diese Interessen selbst gefährdet.Zum einen muss verstanden werden, dass der Sozialstaat für Europas Sicherheit ebenso essenziell ist wie die Streitkräfte: Letztere wehren äußere Feinde ab, ersterer schützt durch sozialen Zusammenhalt und Stabilität vor inneren Feinden. Jenen, welche die Demokratie missbrauchen, um antidemokratische Entwicklungen voranzutreiben. Die soziale Sicherung zugunsten der Verteidigung abzubauen – wozu das Fünf-Prozent-Ziel viele Staaten zwingen würde – ist daher sinnlos. Unsere Streitkräfte sollen unsere Art zu Leben verteidigen, und im Zentrum dieser Lebensweise stehen Demokratie, freie Marktwirtschaft und Sozialstaat.Die Mehrheit der Bevölkerung erkennt die Notwendigkeit höherer Verteidigungsausgaben an – aber eine übertriebene Erhöhung würde genau diese Unterstützung untergraben. Natürlich ist der Sozialstaat nicht sakrosankt und kann reformiert werden, doch der Großteil der Mittel für die notwendigen dreieinhalb Prozent muss an anderer Stelle gefunden werden – so wie schon im Kalten Krieg, als wir ein vergleichbares Niveau an Verteidigungsausgaben hatten.Zweitens hat die Trump-Regierung unmissverständlich klargemacht, dass Europa die Verantwortung für seine konventionelle Verteidigung übernehmen muss, da die USA sich auf China fokussieren werden. Auf dem Gipfel bekannte sich Trump zwar zu Artikel 5 und der Beistandspflicht – auch wenn er auf der Anreise gegenüber Journalisten sagte, dies hänge von der Auslegung ab. In der Realität jedoch gilt aus Sicht der USA nun folgendes: Europa muss die erste Linie der konventionellen Abschreckung und Verteidigung selbst stellen. Amerikanische Verstärkung könnte künftig deutlich später und in geringerer Stärke eintreffen, als es bisher der Fall war.Die europäischen Streitkräfte sind allerdings bislang so aufgestellt, dass sie nur innerhalb eines US-geführten Rahmens operieren können und nicht eigenständig. Ein funktionsfähiges NATO-Bündnis erfordert daher ein grundlegendes Umdenken in der Struktur der Streitkräfte. Der NATO-Verteidigungsplanungsprozess (NDPP) zielt derzeit darauf ab, ein einheitliches Kräftepaket aus amerikanischen und europäischen Beiträgen zu schaffen. Doch die meisten strategischen Fähigkeiten für dieses Paket – etwa Aufklärung, Kommunikation, Einsatzleitung, Transport und Deep Strikes – werden (fast) ausschließlich von den USA bereitgestellt.Gleichzeitig haben die USA den Europäern gerade mitgeteilt, dass sie sich darauf künftig nicht mehr wie bisher verlassen können. Die Lösung liegt auf der Hand: Der NDPP muss so umgestaltet werden, dass zwei vollständig interoperable, aber getrennte Kräftepakete entstehen. Eines stellt die USA, das andere alle übrigen Verbündeten gemeinsam. Jedes Paket sollte militärisch vollständig autonom sein – mit eigenen strategischen Fähigkeiten –, sodass sie zwar einander unterstützen können (und müssen), aber nicht länger voneinander abhängig sind – wie es heute im Falle Europas der Fall ist.Prozentzahlen bedeuten für sich genommen wenig, wenn nicht klar ist, welche Art von Streitkraft man eigentlich aufbauen will.Dies hätte die zentrale Diskussion in Den Haag sein müssen. Prozentzahlen bedeuten für sich genommen wenig, wenn nicht klar ist, welche Art von Streitkraft man eigentlich aufbauen will. Zudem gilt: Wenn alle europäischen Staaten lediglich einzeln mehr ausgeben, bleiben sie ebenso abhängig von den USA wie zuvor, denn kein europäisches Land allein ist in der Lage, die Lücke bei den strategischen Fähigkeiten zu füllen, die der neue US-Kurs hinterlässt. Es ist daher entscheidend, dass ein erheblicher Teil der zusätzlichen Verteidigungsausgaben gemeinsam investiert wird, um kollektive europäische Schlüsselkapazitäten zu schaffen. Die Rolle der EU besteht darin, diesen Prozess über ihre industrie- und haushaltspolitischen Instrumente zu unterstützen.Dies führt uns zur entscheidenden Frage: Was ist die NATO eigentlich? Sie war ursprünglich nie als amerikanisches Protektorat über Europa gedacht – doch genau das ist sie mittlerweile nahezu geworden. Was sie tatsächlich sein sollte, ist ein Bündnis unter Gleichen. Dass dieses heute so unausgewogen ist, liegt an Europa selbst und an den drastischen Kürzungen der Verteidigungsetats nach dem Ende des Kalten Krieges.Der Aufbau einer militärisch autonomen europäischen Säule – eingebettet in eine einheitliche NATO-Kommandostruktur und einen gemeinsamen Nordatlantikrat – würde ein stabiles Gleichgewicht schaffen, auf dem die Zukunft der NATO beruhen kann. Und im schlimmsten Fall, dass die USA aus dem Bündnis ausscheiden, könnten die Europäer die Allianz allein weiterführen, weil die Kommandostruktur und der Planungsprozess eigenständig funktionieren. Im besten Fall definieren die USA und Europa (über die EU) jeweils ihre eigene übergeordnete Strategie, koordinieren sich und nutzen gemeinsam das mächtige militärische Instrument, das die NATO darstellt.„Das wird die Amerikaner vertreiben“, werden viele sagen. Doch diese US-Regierung hat sich längst von uns entfernt – und zwar nicht nur ein bisschen. Dazu muss sie auch gar nicht erst gedrängt werden. Führende US-Politiker – und zwar parteiübergreifend – sehen Europa als zunehmend irrelevant für die globale Machtpolitik. Europas Entscheidungsträger sollten sich eines vor Augen halten: Starke Akteure schließen vorteilhafte Bündnisse. Schwache zahlen für ihren Schutz – oder damit, im Stich gelassen zu werden.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal