Auch im eigenen Interesse
Im Abschnitt zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung im Koalitionsvertrag von Union und SPD heißt es, die deutsche Entwicklungspolitik sei zugleich werte- und interessengeleitet. Diese Aussage enthält zwei ermutigende Botschaften für diejenigen, die sich seit Langem für eine engagierte Entwicklungspolitik einsetzen: Zum einen wird eine eigenständige Entwicklungspolitik beibehalten. Entwicklungspolitische Perspektiven und Kompetenz werden weiterhin am Kabinettstisch vertreten sein und nicht außenpolitischen Interessen untergeordnet werden. Zum anderen ist der altbekannte Konflikt zwischen wertebasierter und interessengeleiteter Politik durch einen Kompromiss entschärft worden: Es wird anerkannt, dass Entwicklungspolitik, insofern sie sich mit der Reduzierung globaler Ungleichheiten befasst, inhärent auf universellen Werten wie Solidarität und Gerechtigkeit beruht. Gleichzeitig wird eingeräumt, dass nationale Politik – selbst wenn sie universalistisch ausgerichtet ist – die Interessen der eigenen Bevölkerung nicht ignorieren kann.Unklar bleibt dabei jedoch, um welche konkreten Werte und Interessen es geht. Erst deren nähere Bestimmung würde es ermöglichen zu bewerten, inwieweit sie vereinbar sind. Bei den im Koalitionsvertrag genannten Werten fällt auf, dass die klassischen humanitären Ziele der Entwicklungspolitik – etwa globale Gerechtigkeit und die Schaffung menschenwürdiger materieller Lebensbedingungen durch die Beseitigung von extremer Armut und Hunger – kaum prominente Erwähnung finden. Lediglich ein schmallippiges Bekenntnis zum Engagement gegen Armut, Hunger und Ungleichheit sowie die Absicht, sich für ein „ambitioniertes Post-Agenda-2030-Rahmenwerk“ einzusetzen, werden formuliert.Das wirkt angesichts des eklatanten Rückstands bei der Zielerreichung – etwa des Sustainable Development Goal „Zero Hunger“ bis 2030 – reichlich ambitionslos. Stattdessen liegt der Fokus klar auf politischen Menschenrechten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Gleichstellung der Geschlechter, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung sowie die Stärkung zivilgesellschaftlicher Freiräume werden besonders hervorgehoben. Man könnte sagen: Im heutigen Wertekanon geht es stärker um die globale Verbreitung von Freiheit und Partizipation als um die Befreiung aus materieller Not.Seit den Anfängen der deutschen Entwicklungshilfe spielte auch das nationale Eigeninteresse stets eine Rolle. In Erinnerung ist noch der Spruch des SPD-Ministers Hans-Jürgen Wischnewski aus der Großen Koalition von 1966 bis 1969: „Mit unserer Entwicklungshilfe schaffen wir Arbeitsplätze in Deutschland.“ Eine explizite Lieferbindung sollte der deutschen Exportwirtschaft zugutekommen. In den ersten Jahrzehnten prägte auch die Hallstein-Doktrin das entwicklungspolitische Handeln, mit dem Ziel, die internationale Anerkennung der DDR zu verhindern.Spätestens mit der Ölkrise 1973 rückten Rohstoffsicherungsinteressen in den Vordergrund – auch wenn Minister Erhard Eppler sich um eine stärkere werteorientierte Politik bemühte. Später etablierte sich unter Heidemarie Wieczorek-Zeul das Konzept „aufgeklärter Eigeninteressen“: Nicht kurzfristige Exportgewinne, sondern langfristige Wohlstandssteigerungen in den Partnerländern – verstanden als „Märkte von morgen“ – standen im Mittelpunkt. Auch das deutsche Interesse an einer friedlichen, stabilen Nachbarschaft, an globalem Umweltschutz und an der Bekämpfung von Fluchtursachen gewann an Bedeutung.Entwicklungspolitik wird zunehmend als Instrument zur Durchsetzung kurz- bis mittelfristiger Interessen interpretiert.Im Koalitionsvertrag 2025 wird nun auf eine neue Weise auf Eigeninteressen Bezug genommen. Allgemein ist von außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessen die Rede. Eine stärkere Betonung erfahren geopolitische Motive: Gute Beziehungen zu den Ländern des Globalen Südens sollen angesichts wachsender Systemrivalitäten mit China und Russland gepflegt werden. Zugleich bleiben klassische Interessen wie Rohstoffsicherung, Exportförderung und Investitionsschutz erhalten.Besonders deutlich wird dies bei der angekündigten Auftragsvergabe an Unternehmen aus Deutschland und der EU im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit. Auch der Einsatz der Entwicklungszusammenarbeit als „ein zentraler Hebel der Migrationssteuerung“ wird betont. Bemerkenswert ist allerdings, dass das lange gepflegte Argument – man verfolge mit Entwicklungspolitik auch langfristige Eigeninteressen an der Lösung globaler Herausforderungen – keine explizite Erwähnung mehr findet. Zwar sind Beiträge zur internationalen Klimafinanzierung und zum Biodiversitätsschutz weiterhin vorgesehen, doch erscheint die grundsätzliche Begründung deutlich pragmatischer. Entwicklungspolitik wird zunehmend als Instrument zur Durchsetzung kurz- bis mittelfristiger Interessen interpretiert – insbesondere als Element geopolitischer Soft Power.Diese Entwicklung wirft die grundsätzliche Frage auf, wie tragfähig die postulierte Balance von Werten und Interessen tatsächlich ist. Können universelle Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit mit nationalen Interessen vereinbar sein – oder stehen sie einander unvermeidlich im Weg? Theoretisch gilt: Eigeninteressen sind legitim, solange sie nicht den erklärten Werten und Zielen widersprechen. Umgekehrt haben Werte nur dann eine reale Chance, wenn sie keine fundamentalen Eigeninteressen gefährden. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Werte wie auch unterschiedliche Interessen in Konkurrenz stehen können – sowohl untereinander als auch im Verhältnis zueinander.Das lässt sich exemplarisch an der Wahl von Partnerländern zeigen: Sollen jene Staaten bevorzugt werden, die durch eine effektive Armutsbekämpfung, gute Regierungsführung und soziale Inklusion auffallen – auch wenn sie autoritär regiert werden? Oder arbeitet man lieber mit formal-demokratischen Ländern zusammen, in denen jedoch klientelistische Eliten die Politik dominieren und strukturelle Armut kaum bekämpft wird? Die internationale Gemeinschaft hat die Beseitigung extremer Armut und des Hungers zu prioritären Zielen erklärt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, der Verwirklichung materieller Menschenrechte Vorrang einzuräumen – selbst wenn dies die Zusammenarbeit mit autoritären Regimen bedeutet. Auch das Argument einer globalen Mitverantwortung für Armut und Klimawandel spricht aus ethischer Perspektive dafür, entwicklungspolitische Maßnahmen stärker an existenziellen Bedürfnissen auszurichten als an politischen Idealbildern.Wer gegenüber nichtdemokratischen Partnern allzu moralisch auftritt, riskiert politische Destabilisierung und diplomatisches Scheitern.Auch zwischen kurzfristigen und langfristigen Eigeninteressen kann es zu Konflikten kommen. Wer etwa heute auf Exportförderung setzt, kann den Aufbau einer produktiven lokalen Wirtschaft in Afrika behindern – und damit die Märkte von morgen selbst zerstören. Deutsche Unternehmen, die in arbeitsintensiven Sektoren investieren, dort jedoch eher Arbeitsplätze ersetzen als schaffen, befördern Migration, statt deren Ursachen zu bekämpfen. Es existiert eben nicht das eine deutsche (oder europäische) Interesse. Vielmehr entscheidet sich im politischen Aushandlungsprozess, wessen Interessen durchgesetzt werden.Auffällig ist in diesem Zusammenhang das Fehlen einer Auseinandersetzung im Koalitionsvertrag mit einem zentralen Politikfeld: den Wechselwirkungen zwischen Handels- und Entwicklungspolitik. Zwar wird die Afrikanische Freihandelszone erwähnt, doch es fällt kein Wort über europäische Handelsabkommen mit Ländern des Globalen Südens. Eine entwicklungsgerechte Gestaltung dieser Abkommen – etwa durch Asymmetrien oder Umweltstandards – bleibt unerwähnt. Hier zeigt sich eine eklatante Leerstelle im Verhältnis zwischen Eigeninteressen und globaler Verantwortung.Gleichzeitig kann es problematisch werden, wenn demokratische Werte mit geostrategischen Interessen in Konflikt geraten. Wer gegenüber nichtdemokratischen Partnern allzu moralisch auftritt, riskiert politische Destabilisierung und diplomatisches Scheitern. Freundschaften lassen sich schwer aufbauen, wenn der moralische Zeigefinger dominiert. Soft Power braucht Vertrauen – nicht Belehrung.Es gibt jedoch durchaus einen Bereich, in dem sich unsere Eigeninteressen mit humanistischen Werten gut in Einklang bringen lassen. Das zeigt sich besonders deutlich bei der Verbindung der entwicklungspolitischen Ziele Armuts- und Hungerbekämpfung mit unseren langfristigen Interessen an Weltfrieden, politischer Stabilität – insbesondere in benachbarten Weltregionen –, an der Bekämpfung von Fluchtursachen (soweit es um die Lebensperspektiven in den Herkunftsregionen geht), an der Stabilisierung von Umwelt und Klima sowie am Aufbau zukünftiger Absatzmärkte. Nur eine Entwicklungspolitik, der es gelingt, die große Zahl unterbeschäftigter Menschen, die täglich um ihre materielle Existenz kämpfen, in stabile Arbeitsverhältnisse zu bringen, kann dem Drang entgegenwirken, Konflikte mit Gewalt auszutragen. Nur so lässt sich der wachsenden Militanz, den Warlords und kriegsbasierten Wirtschaftsstrukturen das Wasser abgraben.Wer Nahrung und Einkommen für alle sichert, schafft die Voraussetzung für politische Stabilität und verhindert, dass sich Menschen aus Mangel an Alternativen in unmenschlichen Formen des Gelderwerbs verlieren. Wer die Möglichkeit erhält, die Früchte wirtschaftlichen Wachstums in der eigenen Heimatregion weiterzuverarbeiten, statt sich gezwungenermaßen auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zu machen, wird eher bleiben. Und nur dort, wo industrielle Wertschöpfungsketten entstehen, wird es langfristig Nachfrage nach deutschen Maschinen geben. Auch ein gutes, vertrauensvolles Verhältnis zu Partnerländern lässt sich nachhaltiger aufbauen, wenn man ihnen nicht erbarmungslos den freien Zugang zu ihren Binnenmärkten abringt, sondern gemeinsam daran arbeitet, unzufriedenen Bevölkerungsteilen produktive Beschäftigung zu verschaffen. Eine Entwicklungspolitik, die gezielt Arbeitsplätze schafft, liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse unseres Landes.Eine Entwicklungspolitik, die sich jedoch nicht ernsthaft um die Beseitigung von Armut und Hunger (Nachhaltigkeitsziele 1 und 2) bemüht, schadet nicht nur der Glaubwürdigkeit unserer Werte, sondern auch unserem eigenen Interesse an einer friedlicheren und nachhaltigeren Weltordnung.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal