Aufholjagd geglückt
Am Abend der rumänischen Stichwahl schien das Wetter zum politischen Klima zu passen: wechselhaft. Regen und Sonne lösten einander ab – ein Sinnbild für die Unsicherheit, die das Land in den Wochen vor der Wahl prägte. Kurz vor den ersten Hochrechnungen wurde in den sozialen Medien ein Foto besonders häufig geteilt: ein Regenbogen, der sich über den Himmel von Bukarest spannte. Viele deuteten ihn als hoffnungsvolles Zeichen – ein passendes Signal, das die angespannte Stimmung zumindest für einen Augenblick auflockerte. Das Wahlergebnis, das später am Abend bekannt wurde, unterstrich diese Hoffnung. Der unabhängige, pro-europäische Kandidat Nicușor Dan setzte sich überraschend klar gegen seinen ultranationalistischen Kontrahenten George Simion durch, der im Vorfeld als Favorit galt.Dass Dan überhaupt in der Stichwahl stand, war bereits eine Überraschung. Als am Montag nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl das Ergebnis bekannt wurde, hielten die meisten einen Sieg Dans für äußerst unwahrscheinlich. Es ist daher umso bemerkenswerter, wie klar er die Stichwahl für sich entscheiden konnte. Nicușor Dan war tatsächlich eine Aufholjagd geglückt. In der einzigen TV-Debatte zwischen ihm und Simion gelang es ihm, den deutlichen Unterschied zu seinem Kontrahenten aufzuzeigen. Auf der einen Seite ein pro-europäischer, sachkundiger Kandidat mit intellektuellem Format und moderaten Positionen – auf der anderen ein ultrakonservativer Demokratiefeind mit aggressiver Rhetorik.Die hohe Wahlbeteiligung war daher kein Zufall: Mit knapp 65 Prozent lag sie deutlich höher als bei den letzten Wahlen (größtenteils bei etwa 50 Prozent). Rund 11,6 Millionen Rumäninnen und Rumänen gaben insgesamt ihre Stimme ab, darunter mehr als 1,6 Millionen aus der Diaspora. Viele Menschen, die in der ersten Runde nicht zur Wahl gegangen waren, taten dies in der Stichwahl. Insbesondere in den Städten sowie bei gut ausgebildeten Wählerinnen war die Sorge vor einem Präsidenten Simion groß. Sein nationalistischer Kurs und seine sich in den letzten Tagen noch verschärfende populistische Rhetorik hatten viele alarmiert – besonders diejenigen, die sich für den europäischen Kurs Rumäniens und demokratische Stabilität aussprechen.Viele Menschen, die in der ersten Runde nicht zur Wahl gegangen waren, taten dies in der Stichwahl.Nicușor Dan konnte somit nicht nur seine eigene Unterstützerbasis aktivieren, sondern auch viele Wählerinnen und Wähler, die in der ersten Runde andere Kandidaten bevorzugt hatten. Insbesondere unter der ungarischen Minderheit, die Simion in der Vergangenheit mit nationalistischer Rhetorik angegriffen hatte, lag Nicușor Dan weit vorne. In traditionell von Ungarn bewohnten Kreisen wie Harghita und Covasna erhielt Dan teils über 90 Prozent der Stimmen.Das Ergebnis lässt sich auch geografisch gut einordnen. In den großen Städten und wirtschaftlich stärkeren Regionen des Landes erzielte Dan teils deutliche Mehrheiten. In ländlichen Gegenden hingegen blieb Simion stark. Die Mobilisierung in den urbanen Zentren des Landes in den letzten Tagen vor der Stichwahl scheint einen zentralen Beitrag zum Erfolg Dans geleistet zu haben.Diese Spaltung des Landes ist zwar nicht neu, fiel bei dieser Wahl aber besonders deutlich aus. Das Vertrauen in die Institutionen und die demokratische Ordnung ist in vielen strukturschwachen Regionen geringer, soziale Ungleichheiten schlagen sich in politischer Frustration nieder. Dass Dan gerade hier nicht überzeugen konnte, bleibt eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen für alle demokratischen politischen Akteure des Landes.Deutlich war auch ein geschlechtsspezifischer Unterschied: Frauen wählten häufiger Dan (rund 60 Prozent), bei Männern lag der Anteil fast zehn Prozentpunkte niedriger. Dies überrascht wenig bei einem Blick in die aktuelle Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung: Junge Frauen in Rumänien zeigen eine deutlich größere Offenheit gegenüber den Rechten von Minderheiten, LGBTQIA+-Personen und von sozial benachteiligten Gruppen als junge Männer. Sie nehmen Diskriminierung stärker wahr und fordern mehr staatliche Eingriffe zur Reduzierung sozialer Ungleichheiten. Während junge Frauen in der Mehrheit Demokratie befürworten, zeigen sich unter jungen Männern höhere Tendenzen zu autoritären Regierungen.Bemerkenswert ist, dass kein Kandidat der etablierten Parteien die Stichwahl erreicht hat. Es war die erste Wahl der letzten Jahrzehnte ohne Beteiligung der sozialdemokratischen PSD. Stattdessen standen sich zwei Kandidaten gegenüber, die beide als systemkritisch gelten – wenn auch aus sehr unterschiedlichen Richtungen.Bemerkenswert ist, dass kein Kandidat der etablierten Parteien die Stichwahl erreicht hat.Die rumänischen Wählerinnen und Wähler haben damit ein deutliches Signal gesendet: Sie sind unzufrieden mit dem politischen Status quo. Korruption, Klientelismus, fehlende Reformen – all das hat das Vertrauen in die klassischen Parteien geschwächt. Der Wunsch nach politischem Wandel ist groß.Ob und wie groß die Veränderung tatsächlich ausfallen wird, bleibt unklar. Der Präsident ist auf die Zusammenarbeit mit einer handlungsfähigen Regierung angewiesen. Nach der ersten Wahlrunde war der sozialdemokratische Premierminister Marcel Ciolacu zurückgetreten und der neue Präsident wird nun als eine der ersten Amtshandlungen die Bildung einer Regierung beauftragen. Entscheidend wird sein, welche Rolle die PSD darin einnimmt. Sie ist zwar nach wie vor die stärkste Kraft im Parlament, hat aber über die letzten Monate massiv an Zuspruch in der eigenen Wählerschaft und Vertrauen in der Bevölkerung verloren und war deshalb aus der Regierung ausgeschieden. Eine demokratische Mehrheit im Parlament ohne die Sozialdemokraten zu organisieren, ist rechnerisch nicht möglich, ihre Rückkehr in die Regierung erscheint dennoch wenig wahrscheinlich.Zu dieser Herausforderung auf Regierungsebene kommen erhebliche wirtschaftliche Herausforderungen: Das Staatsdefizit ist mit über neun Prozent enorm hoch, und die Inflation belastet vor allem die unteren Einkommensgruppen. Auch wenn Dan in den Städten überzeugt hat – die politische Stabilität wird davon abhängen, ob es der Regierung gelingt, auch in den ländlichen und wirtschaftlich schwächeren Regionen konkrete Verbesserungen zu erreichen.Gerade dort, wo Simion viele Stimmen erhalten hat, besteht das Risiko, dass die Enttäuschung weiter wächst, wenn sich an der eigenen Lebensrealität nichts ändert. Sollte es Dan und der kommenden Regierung nicht gelingen, hier gegenzusteuern, könnte das Vertrauen schnell wieder verloren gehen.Die Wahl hat deutlich gemacht, dass sich die politische Landschaft Rumäniens in Bewegung befindet.Die Wahl hat deutlich gemacht, dass die politische Landschaft Rumäniens in Bewegung ist. Statt Parteienbindung bestimmen Fragen wie Europa-Orientierung, soziale Gerechtigkeit oder das Vertrauen in staatliche Institutionen das Wahlverhalten stärker als zuvor.Zum ersten Mal standen in der Stichwahl sich zwei systemkritische Kandidaten gegenüber – und zum ersten Mal gewann ein aus der Bürgerbewegung stammender, parteiunabhängiger, pro-europäischer Kandidat das höchste Staatsamt. Das ist ein Erfolg für all jene, die eine demokratische und europäisch orientierte Zukunft für Rumänien wollen. Nun muss sich die Realpolitik daran messen lassen und die etablierten Parteien müssen unter Beweis stellen, dass sie aus dem Wahlergebnis lernen wollen. Nicht nur in Bukarest, sondern auch im restlichen Europa atmet man heute auf: Rumänien bleibt der konstruktive Partner der EU, der es bisher war. Das Wahlergebnis spiegelt die starke Europaverbundenheit des Landes wider, die keineswegs selbstverständlich ist, wie die vergangenen Monate gezeigt haben. Auch diese Beziehung muss gepflegt werden – das zeigt ein Blick auf die Wahlergebnisse in der Diaspora.Abgesehen von Westeuropa erzielte Nicușor Dan in der Diaspora gute Ergebnisse. In Ländern wie Deutschland und Spanien lag Simion jedoch bei fast 70 Prozent. Viele Rumänen im Ausland arbeiten in schlecht bezahlten Jobs und sehen kaum eine Perspektive für eine Rückkehr. Das Gefühl, als „Zweite-Klasse-Europäer“ behandelt zu werden, ist dort besonders ausgeprägt. Die Unterstützung für Simion lässt sich daher mit seiner nationalistischen Rhetorik und seiner Kritik an der etablierten Politik erklären. Viele rumänische Auswanderer, besonders aus der Arbeiterklasse, fühlen sich von ihm angesprochen.Die Wahl ist daher auch ein klarer Auftrag an die europäischen Partner: Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Länder wie Rumänien, die eine zentrale Rolle im Zusammenspiel der EU spielen, nicht nur dann Beachtung finden, wenn ihr Bekenntnis zu Europa infrage gestellt wird. Es ist wichtig, ihre Perspektiven einzubeziehen und die Frage der sozialen Ungleichheit innerhalb der EU anzugehen, um langfristig die Einheit und die Handlungsfähigkeit der EU zu festigen.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal