Das Imperium schlägt zurück

07.05.25 14:45 Uhr

„Ich sitze hier in meine Bestandteile zerlegt und du bekommst auf einmal einen Anfall von Größenwahn!“ Dieses Zitat aus einem bekannten Hollywoodfilm aus dem Jahr 1980 könnte man sich durchaus als Europas Eröffnungssatz in einem Gespräch mit Donald Trumps Amerika vorstellen. Die futuristische Kulisse von Star Wars: Das Imperium schlägt zurück könnte ebenso an Chinas „Galaxie-Imperium“ erinnern, das John Keane und Baogang He kürzlich in ihrem fesselnden Buch mit dem gleichlautenden Titel beschrieben haben. Und die unerbittliche Verfolgung der Rebellen durch das Imperium im Film lässt an Wladimir Putins brutalen Angriff auf die benachbarte Ukraine denken.Tatsächlich ist das Imperium – oder besser: sind die Imperien – zurück. Gleichzeitig wirkt Europa wie in seine Bestandteile zerlegt und unfähig, seine Kräfte zu bündeln, um sich dieser neuen globalen Realität zu stellen. Das hätte nicht so kommen müssen. Vielleicht ist es jedoch noch nicht zu spät, diesen Niedergang aufzuhalten.Vor einigen Jahrzehnten schien Europa selbst auf dem Weg, eine Art Imperium zu werden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann die Europäische Union einen Prozess der territorialen Erweiterung, der in gewisser Weise einem friedlichen imperialen Projekt ähnelte. Die EU erweiterte ihren Einflussbereich nicht mit Waffengewalt, sondern durch finanzielle Unterstützung und den Export ihres rechtlichen Rahmenwerks. Staaten in Mittel- und Osteuropa sowie auf dem Balkan wurden schrittweise in den gemeinsamen Raum der EU integriert, allerdings unter strengen Auflagen, vor allem mit Blick auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freihandel. Der Verhandlungsspielraum dieser Länder in den Gesprächen mit der Union blieb weitestgehend theoretisch, was einerseits auf das erhebliche Wohlstandsgefälle zwischen der EU und den Beitrittskandidaten und andererseits auf das Fehlen wirklich attraktiver Alternativen zurückzuführen war.Die EU-Erweiterung ging mit einer Vertiefung der inneren Integrationsprozesse einher. Die Union schuf einen Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung, teilte die Zuständigkeit für die äußeren Grenzen und schaffte die Binnengrenzen größtenteils ab (Schengen). Zudem legte sie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik fest. Als die Konflikte auf dem Balkan dann die militärischen Grenzen der EU deutlich machten, beschloss die Union erstmals, eigene verteidigungspolitische Kapazitäten aufzubauen. Dies mündete 1999 auf dem Gipfel in Helsinki in die Entscheidung, innerhalb von 60 Tagen bis zu 60 000 Soldaten für Einsätze von bis zu einem Jahr entsenden können zu wollen.Die massiven Kosten des Brexits veranlassten die Euroskeptiker auf dem Kontinent in den Folgejahren, ihre Strategie anzupassen.An der Schwelle zum 21. Jahrhundert begann die EU mit der Ausarbeitung einer eigenen Verfassung, um die rechtlichen, wirtschaftlichen und institutionellen Strukturen der Union zu festigen und zu stärken. Allerdings wurden die versprochenen militärischen Kapazitäten nie vollständig realisiert, und die vorgeschlagene Europäische Verfassung wurde in Referenden in zwei Gründungsmitgliedstaaten – den Niederlanden und Frankreich – abgelehnt.Diese Niederlage für eine EU-Verfassung im Jahr 2005 markierte gleichzeitig den Anfang einer neuen Phase in der europäischen Politik: die Ära der Souveränisten. Von diesem Zeitpunkt an erzielte die euroskeptische Rechte auf dem gesamten Kontinent bedeutende Wahlerfolge. Dabei wetterte sie gegen eine angeblich übermächtige Europäische Union, die demokratische Nationalstaaten untergrabe. Der Brexit war die deutlichste Manifestation dieses Trends. Er wurde ausdrücklich als Maßnahme dargestellt, um Souveränität von den EU-Bürokraten in Brüssel zurück nach Westminster zu bringen.Die massiven Kosten des Brexits veranlassten die Euroskeptiker auf dem Kontinent in den Folgejahren, ihre Strategie anzupassen: Das grundlegende Ziel, die Nationalstaaten wieder zur ultimativen Instanz der Machtausübung zu machen, blieb zwar, doch nun verlagerte man sich darauf, den Einfluss Brüssels aus dem Inneren der EU heraus zu schwächen, vor allem durch die Blockade gemeinsamer Initiativen und die Aushöhlung europäischer Institutionen. Die Vision war ein Europa aus stolzen, souveränen Nationen; das erklärte Ziel, das Gespenst eines föderalen europäischen Staates endgültig zu begraben. Demnach sollten ungewählte EU-Kommissare und Richter sich nicht mehr anmaßen können, den souveränen Willen des Volkes zu umgehen, der durch nationale Wahlen zum Ausdruck gekommen war und der souveränistische Parteien an die Macht gebracht hatte.Der Aufstieg der Populisten sorgte bei vielen Politikern der Mitte für Angst. Oft übernahmen sie selbst eine abgeschwächte Form der souveränistischen Rhetorik. Darüber hinaus wurde nie ausreichend erklärt, wie eine weitergehende EU-Integration mit nun 27 Mitgliedstaaten, die eifrig ihre enggesteckten nationalen Interessen verteidigten, überhaupt möglich sein sollte. Auch war unklar, wie die EU mit ihren praktisch handlungsunfähigen gemeinsamen Institutionen Einfluss auf der Weltbühne geltend machen sollte.Im Jahr 2022 startete Wladimir Putin seine Invasion der Ukraine in klassisch imperialistisch wirkender Manier (und offenbar unterstützt vom aufstrebenden chinesischen Machtzentrum). Als sei dies nicht erschreckend genug, verfolgte auch US-Präsident Trump Ansätze, die man als imperialistisch bezeichnen kann: Er begann, neue Territorien für die USA zu beanspruchen, langjährige Verbündete zu drangsalieren sowie internationale Verpflichtungen und Normen zu missachten. Diese Verkettung von Ereignissen versetzte die Öffentlichkeit und die politische Klasse Europas in tiefen Schock und führte zu der verspäteten Erkenntnis, dass der alte Kontinent heute einem fragmentierten Mosaik aus relativ kleinen und schlecht bewaffneten Staaten gleicht, die angesichts einer wiederauflebenden imperialen Politik offenbar nicht in der Lage sind, gemeinsam und geschlossen zu handeln.Es ist die Natur von Imperien, formal souveränen, aber schwächeren Akteuren rechtliche, wirtschaftliche oder politische Bedingungen aufzuerlegen.Es ist die Natur von Imperien, formal souveränen, aber schwächeren Akteuren rechtliche, wirtschaftliche oder politische Bedingungen aufzuerlegen – und sich in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen. Man denke beispielsweise an die Werbung des US-Vizepräsidenten für die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel im Vorfeld der deutschen Bundestagswahlen. Ganz zu schweigen von den Bedingungen Putins, die ukrainische Armee müsse entwaffnet und der demokratisch gewählte Präsident des Landes abgesetzt werden. Gerade für schwächere Akteure ist „Souveränität“ in Zeiten des Imperialismus ein bestenfalls relatives Konzept, wenn nicht eine komplette Illusion. Eine europäische Einheit – selbst eine unvollkommene – wäre zweifellos besser gegen den aktuellen imperialen Kipppunkt gewappnet als eine heterogene Ansammlung kleiner, eigennütziger, zerstrittener und lethargisch wirkender europäischer Nationen.Es wäre falsch zu glauben, dass die einzige wirksame Antwort auf das Wiederaufleben imperialer Bestrebungen die Schaffung eines stark zentralisierten, autokratischen und schwer bewaffneten europäischen Superstaates ist. Vielmehr zeigt die Geschichte, dass imperiale Machtpolitik in diversen Formen auftritt, jeweils angepasst an die entsprechenden Umstände und an die einzigartigen Merkmale der einzelnen Imperien. Um erfolgreich zu sein, mussten Imperien oft Verstand beweisen, nicht nur Stärke. Territorium und Einfluss konnten häufig effektiver ausgebaut werden, indem strategische Allianzen und Ehen geschlossen wurden, als durch Kriege.Die normative Anziehungskraft eines Imperiums, seine sogenannte „zivilisatorische Mission“, war oft ein deutlich erfolgreicheres Instrument zur Stabilisierung der Peripherie als die Anwendung brutaler Gewalt. Eine zentralisierte Regierungsführung erleichterte es, widerspenstige unterworfene Staaten zu „bestechen“ oder zu bestrafen, Geheimverhandlungen zu führen und internationale Institutionen zu manipulieren. Doch eine polyzentrische Regierungsführung hat sich als wirksamer erwiesen, ein strukturelles Umfeld zu schaffen, das Frieden und Zusammenarbeit fördert.Offensichtlich haben die Aktionen der Präsidenten Trump, Xi und Putin Europa dazu gebracht, die dringende Notwendigkeit zum Ausbau seiner militärischen Fähigkeiten zu erkennen. In absehbarer Zukunft wird der größte Machtfaktor der EU aber wohl weiterhin ihre wirtschaftliche und normative Schlagkraft sein. Erstere hat durchaus realistische Chancen, den Herausforderungen angesichts der imperialen USA und eines imperialen Chinas standzuhalten – vorausgesetzt, die EU folgt Empfehlungen wie denen von Mario Draghi, die darauf abzielen, die Innovationskraft, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Union zu steigern.Die normative Macht der EU wurde in letzter Zeit durch den Aufstieg xenophober, nach innen gewandter und selbstsüchtiger politischer Bewegungen untergraben.Die normative Macht der EU hingegen wurde in letzter Zeit durch den Aufstieg xenophober, nach innen gewandter und selbstsüchtiger politischer Bewegungen untergraben. Die ursprüngliche Absicht hinter der Europäischen Nachbarschaftspolitik von 2003 war es, einen „Ring befreundeter Staaten“ und einen paneuropäischen „Raum gemeinsamen Wohlstands“ zu schaffen, was zu einem „ungeteilten“, „größeren“ Europa führen sollte. Um diese höchst wünschenswerten Ziele zu erreichen, müssten der EU-Erweiterungsprozess wiederbelebt, die Migrationspolitik grundlegend überdacht und die wirtschaftlichen Investitionen in den Nachbarregionen wieder angekurbelt werden.Zugegeben, das ist im aktuellen politischen Klima sehr viel leichter gesagt als getan. Doch die Bürgerinnen und Bürger Europas müssen sich der Realität stellen, dass ihr Wohlstand und ihre Sicherheit nicht als selbstverständlich angesehen werden können, wenn direkt vor ihrer Haustür Kriege, Armut und Autokratie herrschen. Die Ukraine mag der unmittelbarste Prüfstein für die Entschlossenheit Europas sein, doch auch der Nahe Osten, Nordafrika und der Balkan dürfen nicht ignoriert werden.Ja, die militärische Schwäche Europas muss angegangen werden, aber nicht unbedingt durch den Kauf weiterer US-amerikanischer Waffen. Der Schwerpunkt sollte stattdessen auf einer Integration der europäischen Militärstrukturen und dem Aufbau einer robusten Industriebasis liegen, die den Anforderungen der modernen Kriegsführung gerecht wird. Angesichts der Tatsache, dass die EU ohne die militärischen Kapazitäten des Vereinigten Königreichs erheblich geschwächt und durch das Vetorecht Ungarns in ihrem Agieren behindert ist, ist die Suche nach neuen regionalen Lösungen unerlässlich. Informelle „Koalitionen der Willigen“ (wie sie beispielsweise vom Vereinigten Königreich und Frankreich initiiert wurden) könnten in dieser Hinsicht wertvoll sein und sich mit der Zeit zu einer echten europäischen Verteidigungsachse entwickeln – unabhängig davon, ob sie dann inner- oder außerhalb des NATO-Rahmens operieren.Europa sollte weder vortäuschen noch danach streben, ein Imperium zu sein, das dem heutigen Russland, China oder auch den USA ähnelt. Vielmehr war der größte Trumpf der EU schon immer ihre Fähigkeit, eine Vorbildfunktion einzunehmen. Sie demonstrierte Stärke mit den Erfolgen ihrer Politik der offenen Grenzen für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte. Europa wurde weltweit bewundert, als es einen demokratischen Raum schuf, der von Rechtsstaatlichkeit und dem Schutz der Menschenrechte geprägt war. Sein unerschütterliches Bekenntnis zur multilateralen Zusammenarbeit und zu einer regelbasierten internationalen Ordnung fand ebenfalls in weiten Teilen der Welt Beifall.Dies soll nicht nach einem nostalgischen Liberalen klingen, der sich die Politik einer vergangenen Ära zurückwünscht. Leider haben Kräfte der politischen Mitte ihre hehren Prinzipien mitunter aufgegeben – und damit die gesellschaftliche Frustration geschürt, die Populisten so effektiv für sich nutzen konnten. Dennoch geht es auch heute um die Formulierung und Umsetzung eines besseren Modells für Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle Bewohnerinnen und Bewohner dieses Planeten. Es wäre äußerst unklug, wenn Europa seine größten Stärken – Offenheit, Zusammenarbeit, Rechtsstaatlichkeit – zugunsten einer Politik aufgeben würde, die auf Mauern und Abschottung setzt. Letztere Ansätze haben sich in der Geschichte als größte Schwächen Europas erwiesen.Dies ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.Aus dem Englischen von Tim SteinsWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal