Die Sprache des Krieges

26.06.25 14:30 Uhr

Aktuell wird in Deutschland erneut öffentlich über das Völkerrecht gestritten. „Das Völkerrecht kleistert alles zu“, verkündete Carlo Masala mit Blick auf den israelischen Angriff auf den Iran. „Gewaltverbot“, „Genozid“, „präventives Selbstverteidigungsrecht“, „Neutralität“ – die Sprache des Rechts hat seit dem russischen Angriffskrieg ihren Weg aus den verstaubten Völkerrechtsseminaren in die mediale Debatte gefunden.Die Sprache des Rechts folgt dabei nicht immer einer konsistenten Dogmatik, sondern wirkt oft diskursiv – als Legitimationsquelle nach innen wie nach außen. Mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine argumentieren europäische Politiker mit dem Selbstverteidigungsrecht nicht nur vor den Vereinten Nationen, sondern auch vor dem heimischen Publikum, um die eigene Position zu legitimieren. Die Ukraine lebt eine solche Sprache vor, um gegen den russischen Aggressor international zu mobilisieren und die heimische Moral hochzuhalten. Selbst Russland nutzt völkerrechtliche Termini wie Souveränität und Selbstverteidigung, um seine „Spezialoperation“ zu rechtfertigen.Auch im israelisch-palästinensischen Konflikt zeigt sich diese diskursive Komponente. Nach dem Angriff der Hamas rechtfertigt sich die israelische Antwort bis heute durch das Selbstverteidigungsrecht. Pro-palästinensische Stimmen wiederum berufen sich auf das humanitäre Völkerrecht, um Kriegsverbrechen anzuprangern und den Bruch des Unterscheidungsverbots zu diagnostizieren. Israel erwidert, Kombattanten kleideten sich als Zivilisten, zivile Infrastruktur sei militärisch unterwandert - und die Angriffe daher legal. Von einem „diskursiven Grundrauschen“ hatte Nils Minkmar zuletzt gesprochen, wonach die Grausamkeit des Krieges nur noch hinter allerlei Begriffen zu einem reinen „Sprachspiel“ verkomme.Es wirkt paradox: ausgerechnet in dem Moment, in dem überall das „Ende des Völkerrechts“ ausgerufen wird, scheint die Sprache des Völkerrechts zu obsiegen.Es wirkt paradox: Ausgerechnet in dem Moment, in dem überall das „Ende des Völkerrechts“ ausgerufen wird, scheint die Sprache des Völkerrechts zu obsiegen. Das Völkerrecht erscheint praktisch erledigt, ist aber selbst im Angesicht seines klinischen Todes sprachlich lebendiger denn je. Vielleicht lässt sich dieses Paradox aber insofern auflösen, als dass gerade die sprachliche Überbeanspruchung des Völkerrechts zum Eindruck seines gleichzeitigen Verfalls einlädt. Mit der öffentlichen Transformation der rechtlichen Sprache scheinen zwei Traditionslinien des Völkerrechts immer diametraler aufeinanderzutreffen.Der finnische Rechtsgelehrte Martti Koskenniemi hatte in seinem Werk „From Apology to Utopia“ genau diese beiden Traditionslinien „Apologie“ und „Utopie“ identifiziert, die den völkerrechtlichen Diskurs prägten. Apologie implizierte die Rationalisierung staatlichen Verhaltens, während Utopie auf eine Entkoppelung des Rechts von der Staatenpraxis abzielte, um gerechtere Ziele zu erreichen. Apologeten des staatlichen Handelns stützten sich auf staatliche Souveränität, Utopisten auf die Interpretation supranationaler Rechtsquellen.Beide Perspektiven haben ihre Berechtigung. Ohne eine gewisse Entkoppelung von der Staatenebene ist keine Normativität des Rechts denkbar. Aber ohne eine Bindung an die Staatenpraxis ist das Recht eine hyperreale Konstruktion ohne Durchsetzungskraft. Zwischen nationalistischen Interessen und kosmopolitischen Visionen wurde das Völkerrecht stets von beiden Seiten im Deutungskampf gesprochen: einst zur Rechtfertigung von Imperialismus, später als Werkzeug der Dekolonisierung.Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte das utopische Element des Völkerrechts die Überhand gewonnen.Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte das utopische Element des Völkerrechts die Überhand gewonnen. Menschenrechte rückten in den Vordergrund, neue Vertragswerke wurden ratifiziert und Internationale Gerichte gestärkt. Mit dem Römischen Statut wurde die individuelle Verantwortlichkeit sogar universell etabliert. Auf europäischer Ebene setzten Gerichte menschen- und europarechtliche Schwerpunkte – auch auf Kosten nationaler Interessen. Gewaltverbote wurden strenger ausgelegt, humanitäre Normen verboten immer mehr Waffentechnologien.Heute zeigt sich die normative Unsicherheit des europäischen Diskurses als Nachwirkung dieses utopischen Überhangs. Europa hatte sich in seiner legalistischen Konsequenz vom politischen Pragmatismus entfernt. Die Gleichzeitigkeit von politischem Rechtsruck und weitergehender Menschenrechtsauslegung ist eine paradoxe Begleiterscheinung. Selbst die Empörung über Drohnentechnologie galt jüngst noch als moralischer Imperativ – und ist in der neuen Weltordnung kaum mehr haltbar.Wenn das Völkerrecht im öffentlichen Diskurs also „heute alles zukleistert“, dann weil seine Sprache sich wieder in eine apologetische Richtung wandelt und unsere völkerrechtliche Grammatik an ihre Grenzen stößt. Während in Deutschland eine Reihe von Völkerrechtlern die völkerrechtliche Illegalität des israelischen Angriffs auf den Iran betont, hatte man im angelsächsischen Raum bereits zahlreiche Argumente für die Legalität gefunden. Für jeden Hans Kelsen, stellte Koskenniemi einst lakonisch fest, findet sich ein Carl Schmitt. Das Völkerrecht war nie nur kodifiziertes Recht, sondern stets auch Arena internationaler Legitimation.Politische Legitimität und juristische Legalität lassen sich in der Praxis eben nicht immer voneinander trennen. Für ein legitimes Anliegen kann meist auch ein völkerrechtliches Argument gefunden werden – so politisch ist das Recht. Relevant ist, ob die eigens geschaffene Rechtskultur dann auch international Anerkennung findet. Für die europäische Völkerrechtsgemeinde war die militärische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten nicht nur deswegen charmant, weil der Hegemon die eigene Sicherheit gewährleistete, sondern weil er die völkerrechtlichen Argumente für militärische Aktionen gleich mitlieferte: you can have your cake and eat it too.Die Sprachlosigkeit des Rechts ist in Europa doppelter Natur. Erstens, weil die Praxis unserem Rechtsverständnis nicht mehr standhält. Und zweitens, weil wir verlernt haben, wie unsere Rechtssprache die Praxis prägen kann. Die internationale Bühne ist kein herrschaftsfreier Diskurs. Sie ist viel Herrschaft, aber auch viel Diskurs. Ein selbstständiges Europa muss sich seiner völkerrechtlichen Sprache wieder bemächtigen. Dafür ist es notwendig, sich der rechten Balance zwischen Apologie und Utopie wieder neu anzunähern.Europa hat kein Interesse daran, dass die internationale Rechtskultur in eine zu apologetische Richtung kippt.Zunächst muss der Euphorie mancher Realisten widersprochen werden, die das Ende des Völkerrechts bejubeln. Europa hat kein Interesse daran, dass die internationale Rechtskultur in eine zu apologetische Richtung kippt. Im Balkan oder vis-à-vis Russland: Europas Stabilität hängt am Fortbestehen globaler Normen. Normerosion im Äußeren kann die Normerosion im Inneren bedingen, weil der Anschluss an die reaktionäre Internationale durch eine gemeinsame apologetische Sprache erleichtert wird. Dies gilt innereuropäisch ebenso wie mit Blick auf globale Deutungskämpfe. Unser Kontinent lebt von einer alten Rechtskultur, deren totaler Regress – wie in Gaza – sich verhindern lassen muss. Zusätzlich gilt, dass in Demokratien die Außenpolitik auf innere Legitimität angewiesen ist und das Völkerrecht dabei als Benchmark unverzichtbar bleibt. Mit einer reinen Interessenskalkül-Argumentation öffnet man Isolationisten en passant die rhetorische Hintertür.Gleichermaßen gilt es, die Grenzen des europäischen Völkerrechtsdiskurses zu bedenken. Das Böckenförde-Diktum, wonach der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, hat auch eine äußere Komponente. Die europäische Rechtskultur lebte davon, dass der eigene Schutz und damit das apologetische Element ausgelagert wurde. Wenn heute europäische Staaten an der Grenze zu Russland aus dem Landminenabkommen austreten, ist dies auch ein Versagen des Völkerrechts. Eine hyperutopische Rechtssprache muss sich nicht wundern, wenn der Notstand zum Rückschritt führt. Sei es für die Beschlagnahmung russischer Vermögenswerte oder die Ausstattung mit KI-Drohnen: an völkerrechtlichen Argumenten für europäische Interessen mangelt es nicht.Während in China oder den USA eine gezielte Ausbildung von Völkerrechtlern eine argumentative Grundlage für die eigene Politik schaffen sollte, hatte sich der europäische Völkerrechtsdiskurs zu weit von Europa selbst entfernt. Eine neue Balance zwischen Apologie und Utopie zu finden, bedeutet, völkerrechtliche Debatten wieder konsequentialistischer zu führen. Das utopisch-universalistische Erbe des Völkerrechts sollte nicht verworfen werden, das europäische Projekt ist ohne eine gewisse Normativität schließlich nicht denkbar. Die Selbsterhaltung einer liberalen Rechtskultur wird in diesen Zeiten aber stärker denn je vom europäischen Kontinent abhängen. Ein neuer völkerrechtlicher Realismus sollte deswegen begreifen, dass ein wenig mehr Apologie den utopischen Kern des Völkerrechts sogar schützen könnte. Ein neues Interesse an der Auslegung von Normen, die sich nicht mehr nur abstrakt an utopischen Idealen orientiert, ist für ein eigenständigeres Europa unabdingbar. Die Grammatik des Völkerrechts wandelt sich und Europa muss seine Sprache wiederfinden – in und außerhalb des Rechts.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal