Diplomatie durch Zwang

19.06.25 11:00 Uhr

Hinter den Angriffen und Gegenattacken im israelisch-iranischen Krieg stehen zwei strategische Doktrinen: eine, die das Handeln des Iran bestimmt, und eine, die Israels Vorgehen leitet. Beide sind fehleranfällig und in weiten Teilen falsch. US-Präsident Donald Trump hat nun die Gelegenheit, beide zu korrigieren und damit möglicherweise die beste Grundlage für eine Stabilisierung des Nahen Ostens seit Jahrzehnten zu schaffen – sofern er dazu in der Lage ist.Die fehlerhafte strategische Doktrin des Iran, die auch von seiner Stellvertreterorganisation Hisbollah (mit ähnlich schlechten Ergebnissen) verfolgt wird, ließe sich als der Versuch beschreiben, den Gegner in puncto Verrücktheit zu übertreffen. Iran und Hisbollah zeigen sich jederzeit bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Sie gehen davon aus, dass sie unabhängig von den Reaktionen ihrer Gegner stets in der Lage sein werden, diese mit noch extremeren Maßnahmen zu überbieten.Die Ermordung des libanesischen Premierministers Rafik Hariri, die Sprengung der US-Botschaft in Beirut, die Unterstützung von Bashar al-Assad bei der Ermordung Tausender seiner eigenen Landsleute, um an der Macht zu bleiben – all dies trägt, gemeinsam oder einzeln, die Handschrift des Iran und seiner Stellvertreterorganisation. Teheran und Hisbollah senden damit eine Botschaft an die Welt: „Niemand ist verrückter als wir. Also passt auf, wenn ihr euch mit uns anlegt, denn ihr werdet verlieren. Wir gehen bis zum Äußersten – und ihr Gemäßigten tut das nicht.“Diese iranische Doktrin hat der Hisbollah zwar geholfen, Israel aus dem Südlibanon zu vertreiben. Doch sie scheitert angesichts der Vorstellung, die Israelis aus ihrer biblischen Heimat vertreiben zu können. In dieser Hinsicht leben Iran und Hisbollah – ebenso wie die Hamas – in einer Fantasiewelt. Sie betrachten den jüdischen Staat als fremde koloniale Herrschaft ohne jede Verbindung zu Land und Boden und glauben, dass die Jüdinnen und Juden letztlich das gleiche Schicksal ereilen werde wie etwa Belgien im Kongo: Unter genügend Druck würden sie irgendwann in ihr eigenes „Belgien“ zurückkehren.Nur: Die israelischen Juden haben kein solches „Belgien“. Sie sind ebenso in ihrer biblischen Heimat verwurzelt wie die Palästinenser – ungeachtet dessen, was in „antikolonialen“ Kursen an Eliteuniversitäten behauptet wird. Deshalb werden die israelischen Juden auch niemals an Verrücktheit übertroffen. Wenn es darauf ankommt, sind sie bereit, noch verrückter zu handeln.Dabei halten sie sich an die lokalen Regeln. Und nein, damit sind sicherlich nicht die Regeln der Genfer Konvention gemeint. Es sind die Regeln des Nahen Ostens, die ich als „Hama-Regeln“ bezeichne – benannt nach dem Massaker der syrischen Regierung unter Hafez Assad in der Stadt Hama 1982. Assad hatte damals die Muslimbruderschaft ausgelöscht, indem er ganze Wohnblocks und Stadtteile rücksichtslos dem Erdboden gleichmachte. Hama-Regeln bedeuten folglich: Es gibt keinerlei Regeln.Der einzige andere gangbare Weg, um dem israelisch-palästinensischen Konflikt „ein für alle Mal“ auch nur näher an ein Ende zu bringen, ist die Arbeit an einer Zweistaatenlösung.Der ehemalige Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah und Irans oberster Führer Ali Chamenei glaubten, sie könnten die israelischen Juden in Sachen Wahnsinn und Verrücktheit übertreffen. Sie gingen davon aus, dass Israel niemals versuchen würde, sie persönlich zu töten. Nasrallah bezeichnete Israel gern als „Spinnennetz“, das unter Druck einfach zerfallen werde. Diese Fehleinschätzung kostete ihn im vergangenen Jahr das Leben. Auch Chamenei wäre vermutlich ein ähnliches Schicksal widerfahren, hätte Trump nicht angeblich interveniert, um Israel von seiner Tötung abzuhalten. Noch einmal: Die israelischen Juden lassen sich in Sachen Verrücktheit nicht übertrumpfen. Deshalb haben sie immer noch ihren Staat in einer, gelinde gesagt, schwierigen Nachbarschaft.Premierminister Benjamin Netanjahu und seine extremistische Clique, die derzeit Israels Regierung kontrollieren, hängen einem eigenen strategischen Irrtum an, den ich die „Ein-für-alle-Mal-Doktrin“ nenne. Ich wünschte, ich bekäme jedes Mal einen Dollar, wenn eine israelische Regierung nach einem tödlichen Angriff auf israelische Juden durch Palästinenser oder iranische Stellvertreter verkündet, sie werde das Problem nun „ein für alle Mal“ mit Gewalt lösen.Für eine wirkliche „Ein-für-alle-Mal-Lösung“ gibt es nur zwei Szenarien. Das eine wäre, dass Israel das Westjordanland, den Gazastreifen und den gesamten Iran dauerhaft besetzt – ähnlich wie die USA nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland und Japan – und versucht, die dortige politische Kultur zu verändern. Doch Israel hat keine Chance, den gesamten Iran zu besetzen. Es hält das Westjordanland seit 58 Jahren besetzt und konnte dennoch weder den Einfluss der Hamas brechen noch den des säkularen palästinensischen Nationalismus. Der Grund: Die Palästinenser sind ebenso einheimisch und verwurzelt in diesem Land wie die Juden. Israel wird sie daher niemals „ein für alle Mal“ unterwerfen können – es sei denn, es tötet jeden einzelnen von ihnen.Der einzige andere gangbare Weg, um dem israelisch-palästinensischen Konflikt „ein für alle Mal“ auch nur näher an ein Ende zu bringen, ist die Arbeit an einer Zweistaatenlösung. Genau das sollte Trump nun auch im Umgang mit dem Iran beherzigen. Er selbst äußerte die Hoffnung, dass „es zu einem Deal kommen wird“. Wenn er einen guten „Deal“ anstrebt, sollte er klar machen, dass er bereit ist, zwei Dinge gleichzeitig zu tun.Erstens könnte er ankündigen, Israels Luftwaffe mit B-2-Bombern, 30 000-Pfund-Bunkerbrecher-Bomben und US-Ausbildern auszurüsten, um die israelische Führung in die Lage zu versetzen, sämtliche unterirdischen Nuklearanlagen des Iran zu zerstören. Dies sollte geschehen, falls der Iran nicht umgehend der Internationalen Atomenergiebehörde Zugang zu allen Nuklearstandorten gewährt, die Demontage der Anlagen zulässt und das gesamte spaltbare Material zur Beschlagnahmung freigibt. Nur bei vollständiger Erfüllung dieser Bedingungen dürfte der Iran ein ziviles Atomprogramm unter strikter Aufsicht betreiben. Eine glaubwürdige Drohung mit Gewalt wäre notwendig, um Teheran zu solchen Schritten zu bewegen.Gleichzeitig sollte Trump erklären, dass seine Regierung die Palästinenser als Volk anerkennt, das ein Recht auf nationale Selbstbestimmung hat.Gleichzeitig sollte Trump erklären, dass seine Regierung die Palästinenser als Volk anerkennt, das ein Recht auf nationale Selbstbestimmung hat. Voraussetzung dafür wäre jedoch, dass sie staatliche Verantwortung übernehmen und eine neue Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde einsetzen, die aus Sicht der USA als glaubwürdig, korruptionsfrei und entschlossen gilt – fähig, sowohl den Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen wirksam zu dienen als auch mit Israel zu koexistieren.Trump muss zudem deutlich machen, dass die rasche Ausweitung der jüdischen Siedlungen und die Ein-Staat-Realität, die Israel derzeit schafft, nicht akzeptabel sind. Diese Entwicklung ist vielmehr ein Rezept für einen endlosen Krieg, denn die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen werden weder verschwinden noch „ein für alle Mal“ ihre nationale Identität und ihre Interessen aufgeben. Ende Mai genehmigte die Regierung Netanjahu übrigens 22 neue jüdische Siedlungen im besetzten Westjordanland – die größte Expansion seit Jahrzehnten. Reiner Wahnsinn.In diesem Sinne könnte Trump betonen, dass sich seine Regierung für Friedensgespräche und eine Zweistaatenlösung einsetzen wird. Der Zwei-Staaten-Friedensplan aus seiner ersten Amtszeit könnte dabei als Ausgangspunkt dienen, aber keinesfalls als Endpunkt. Letzteren müssten die Parteien vor Ort in direkten Verhandlungen selbst bestimmen.Die Bereitschaft, noch verrückter zu sein als die anderen Verrückten in der Nachbarschaft, war bislang eine notwendige Voraussetzung für Israels Überleben im Nahen Osten. Doch sie ist keine ausreichende: Wie der Krieg in Gaza zeigt, führt diese Strategie nur zu noch mehr Gewalt und Wahnsinn. Es mag manchmal unrealistisch und naiv wirken, doch eine wirklich friedliebende Nation müsste nach Alternativen suchen und ihre Gewalt stets mit Diplomatie verbinden. Das wäre nicht nur die beste Politik Israels gegenüber den Palästinensern, sondern auch der wirkungsvollste Weg für Israel und die USA, den Iran zu isolieren.Die notwendigen, aber nicht ausreichenden Voraussetzungen für Frieden im Nahen Osten – die es den USA erlauben würden, ihre militärische Präsenz dort zumindest zu verringern – sind klar: Der Iran muss gezwungen werden, eine Grenze nach Westen zu ziehen, seine Versuche zur Kolonisierung der arabischen Nachbarn zu beenden und seine Drohung, Israel mit einer Atombombe zu vernichten, aufzugeben. Israel wiederum müsste eine klare Grenze nach Osten ziehen und seine Bestrebungen einstellen, das gesamte Westjordanland zu besiedeln. Schließlich müssten auch die Palästinenser gezwungen werden, klare Ost- und Westgrenzen zwischen Israel und Jordanien zu akzeptieren und auf Parolen wie „From the river to the sea“ zu verzichten.Der aktuelle Krieg bietet einem klugen Staatsmann die beste Gelegenheit seit Jahrzehnten, das anzuwenden, was der langjährige Nahost-Unterhändler Dennis Ross in seinem neuen Buch Statecraft 2.0 als „Diplomatie durch Zwang“ beschreibt. Ob Trump dazu in der Lage ist, weiß ich nicht – aber wir werden es sehr bald erfahren.Dieser Artikel erschien zuerst in The New York Times.Aus dem Englischen von Tim SteinsWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal