Drahtseilakt im Süden
Vom 6. bis 7. Juli hat Brasilien in Rio de Janeiro zum vierten Mal seit 2009 einen BRICS-Gipfel ausgerichtet – inmitten wachsender geopolitischer Spannungen, zunehmender Systemkonkurrenz und einer Erosion internationaler Institutionen. In einem globalen Umfeld, das immer stärker vom Recht des Stärkeren geprägt ist, wächst bei vielen Staaten des Globalen Südens das Bedürfnis nach alternativen multilateralen Strukturen. BRICS erscheint dabei als Plattform kollektiver Resilienz – und wird als solche zunehmend attraktiver für Klein- und Mittelmächte. Doch je schärfer sich die globale Polarisierung zuspitzt, desto herausfordernder wird es für BRICS, interne Differenzen zu überwinden und sich als handlungsfähiger Akteur jenseits bestehender Hegemonien zu etablieren.Der BRICS-Gipfel im russischen Kazan letztes Jahr war offensichtlich darauf ausgerichtet, den wachsenden politischen und ökonomischen Einfluss der Staatengruppe zu demonstrieren. Dies wurde unter anderem in der Aufnahme neuer Vollmitglieder und der Diskussion über die Einrichtung alternativer internationaler Zahlungs- und Handelsplattformen deutlich. Zudem sollte gezeigt werden, dass Moskau nach der Aggression gegen die Ukraine keineswegs international isoliert sei. Brasilien legte den Schwerpunkt auf soziale und ökonomische Themen und priorisierte den Ausbau des Handels und der finanziellen Kooperation, insbesondere durch die BRICS-Bank und die Zusammenarbeit in den Bereichen Gesundheit, Klima sowie Künstliche Intelligenz.Angesichts der globalen Polarisierung und Trumps Drohungen gegenüber den BRICS-Ländern war es für die brasilianische Regierung vor dem Gipfel wichtig zu unterstreichen, dass der Block nicht antiwestlich ist.Angesichts der globalen Polarisierung und Trumps Drohungen gegenüber den BRICS-Ländern war es für die brasilianische Regierung vor dem Gipfel wichtig zu unterstreichen, dass der Block nicht antiwestlich ist. Wie der brasilianische BRICS-Sherpa Mauricio Lyrio betonte, ist diese Sichtweise völlig falsch. „Wir sind nicht ‚gegen‘. Wir sind für Entwicklung, Multilateralismus, Ausgewogenheit und soziale Gerechtigkeit“, versicherte der ehemalige Außenminister Celso Amorim. Zu diesem Zweck hat Brasilien eine Reihe von Initiativen vorgestellt. Dazu gehören die Gründung einer „Globalen Allianz zur Bekämpfung vernachlässigter und sozial bedingter Tropenkrankheiten“ mit Fokus auf die Süd-Süd-Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich, die Intensivierung der Kooperation in den Bereichen Infrastruktur, Steuern und Zölle sowie die Umsetzung einer BRICS-Klimaschutzagenda.Während der Gipfel in Russland eine starke demonstrative Komponente hatte, erwartete man in Brasilien eher ein Arbeitstreffen überwiegend zu entwicklungspolitischen Themen. Die geringen Erwartungen wurden auch dadurch genährt, dass das BRICS-Außenministertreffen Ende April ohne gemeinsame Erklärung der Teilnehmer zu Ende gegangen war. Dies hatte Spekulationen über wachsende Differenzen innerhalb der Gruppe ausgelöst. Entgegen den Erwartungen verabschiedete der Gipfel ein Dokument mit starken politischen Aussagen, das zum ersten Mal eine so deutliche Positionierung in Bezug auf Nahost und die Ukraine enthält.So werden darin die israelischen Militärschläge gegen den Iran, als “Verstoß gegen das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen“ verurteilt. Zudem wird Sorge über „die vorsätzlichen Angriffe auf zivile Infrastruktur und friedliche Nuklearanlagen“ geäußert. Dies stelle einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Die Deklaration plädiert außerdem dafür, das Westjordanland und den Gazastreifen unter die Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde zu stellen, und bekräftigt das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung, einschließlich der Gründung eines unabhängigen Staates.In Bezug auf den Ukraine-Krieg bekräftigten die BRICS-Mitglieder ihre Hoffnung auf eine diplomatische Lösung, verurteilten jedoch in einem separaten Punkt „aufs Schärfste“ die ukrainischen Angriffe auf Brücken und Eisenbahninfrastruktur in Russland. Diese Aussagen gehen deutlich über die Abschlusserklärung des Gipfels in Russland hinaus. Russische Angriffe auf die Ukraine werden in der Erklärung nicht thematisiert. Offenbar war die physische Abwesenheit Putins und Xis in Rio in Bezug auf die Ergebnisse der Zusammenkunft nicht entscheidend. Auch andere in der Abschlusserklärung von Rio vertretene Positionen decken sich weitgehend mit den Positionen Chinas und Russlands. Die BRICS-Staaten verurteilten außerdem einstimmig den Terroranschlag vom 22. April in der indischen Region Jammu und Kaschmir.Aus der diesjährigen Erklärung lassen sich keine größeren internen Spannungen innerhalb der BRICS-Gruppe ableiten. Dennoch bestehen strategische Differenzen, und die in den vergangenen zwei Jahren vollzogene Erweiterung bringt neue Herausforderungen mit sich. Heute gehören der BRICS sowohl verbündete Staaten als auch konkurrierende Länder an. Während einige Mitglieder der Gruppe, wie Russland und der Iran, mit dem Westen im Clinch liegen, sind andere, wie Ägypten, Empfänger von US-Militärhilfen, oder beherbergen, wie die Vereinigten Arabischen Emirate, US-amerikanische Militärstützpunkte. Zugleich bestehen zwischen zentralen BRICS-Mitgliedern wie Indien und China ungelöste territoriale Streitigkeiten, die das Verhältnis immer wieder an den Rand eines offenen Konflikts führen. Unbestritten bleiben für die meisten BRICS-Staaten außerdem die westlichen Länder als wichtige Absatzmärkte und Lieferanten moderner Technologien zentral.Auch die neuen BRICS-Partnerstaaten Kasachstan und Usbekistan verfolgen eine sogenannte Multivektor-Außenpolitik: Sie pflegen enge Beziehungen zu Russland und China und haben strategische Partnerschaften mit der EU und den USA. Mit ihrer BRICS-Mitgliedschaft verfolgen sie vor allem das Ziel, ihre wirtschaftlichen Beziehungen angesichts der sich zuspitzenden geopolitischen Spannungen zwischen dem Westen und China bzw. Russland zu diversifizieren. In diesem Zusammenhang stellt auch der Beitritt Indonesiens – ein Land mit guten Beziehungen sowohl zum Westen als auch zu China und Russland sowie einer wichtigen Rolle im Globalen Süden – einen strategischen Zugewinn für die BRICS dar.Ein Thema, bei dem alle BRICS-Mitglieder und Partnerstaaten weitgehend einer Meinung sind, ist die Entwicklung neuer Zahlungsmodalitäten, um die Abhängigkeit vom US-Dollar zu verringern. In der Praxis bezahlt Indien russisches Öl bereits in alternativen Währungen wie der indischen Rupie, dem chinesischen Yuan oder dem arabischen Dirham. Brasilien und China kündigten vor zwei Jahren die Einrichtung einer Clearingstelle an, die den bilateralen Handel und die Kreditvergabe in Yuan erleichtern soll. Russland und Äthiopien prüfen den Handel in ihren Landeswährungen. Die BRICS-Bank verfolgt in ihrer Gesamtstrategie für den Zeitraum 2022–2026 das Ziel, bis 2026 rund 30 Prozent ihrer Finanzierungen in den Landeswährungen ihrer Mitgliedsstaaten bereitzustellen.Trotz der Diversität der BRICS, die auch strategische und sicherheitspolitische Differenzen mit sich bringt, wurde die wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten konsequent vorangetrieben. Die Erweiterung der Gruppe auf zehn Mitglieder, die nun über 40 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts ausmachen, bildet eine starke Grundlage für Handel, Investitionen und Transport sowie für die Erschließung neuer Wirtschaftskorridore.Als Plattform des Globalen Südens könnte BRICS mittelfristig dazu beitragen, globale Ordnungspolitik neu zu denken.Gegenwärtig wird eine stärkere Institutionalisierung der Gruppe erwogen. Eine Idee ist, dass die BRICS-Staaten ein Troika-System einführen könnten, bei dem der bisherige, der aktuelle und der nächste Vorsitzende zusammenarbeiten, um die politische Kontinuität zu gewährleisten. Doch auch unabhängig davon ist zu erwarten, dass die BRICS-Gruppe eine wichtige Rolle dabei spielen wird, gemeinsame Positionen der Entwicklungsländer zu artikulieren.Sowohl die Zusammensetzung des diesjährigen Gipfels als auch das Abschlusskommuniqué unterstreichen die wachsende Bedeutung des Globalen Südens für die zukünftige Ausrichtung der BRICS. Die Erklärung von Rio de Janeiro betont die Rolle des Globalen Südens als „treibende Kraft für positive Veränderungen“. Bemerkenswert ist schließlich der Verweis von Lula auf die BRICS als Vision der Blockfreiheit, die 1955 auf der Konferenz im indonesischen Bandung formuliert wurde. Das kann als Signal dafür gewertet werden, dass die BRICS auf absehbare Zeit keine militärische Komponente verfolgt.In der westlichen Wahrnehmung zeichnen sich derzeit zwei Lesarten ab: Entweder wird die Agenda der BRICS und ihre Handlungsfähigkeit marginalisiert, oder aber sie wird als ernstzunehmender Versuch verstanden, der bisherigen Dominanz des Westens und der zunehmenden Unberechenbarkeit der USA in globaler Politik und Wirtschaft etwas entgegenzusetzen. Dieser Versuch nimmt immer mehr Gestalt an. Der Gipfel in Rio zeigt: Die Gruppe ist wirtschaftlich relevanter und politisch präsenter denn je. Als Plattform des Globalen Südens könnte BRICS mittelfristig dazu beitragen, globale Ordnungspolitik neu zu denken. Rio war dabei ein Schritt in Richtung einer multipolaren, aber nicht konfrontativen Weltordnung.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal