Eine Hand wäscht die andere

20.05.25 08:15 Uhr

Edi Rama ist nicht nur frisch wiedergewählter Premierminister Albaniens, sondern auch Künstler, ehemaliger Kulturminister, und einst Bürgermeister der Hauptstadt Tirana. Er weiß, wie man Politik psychologisch und visuell inszeniert – und nutzt dieses Talent gezielt. Er ist Meister darin, sein Land nach außen als fortschrittlich und EU-kompatibel darzustellen. Beim jüngsten Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Tirana kniet er auf dem roten Teppich vor Giorgia Meloni – derzeit die mächtigste Frau Europas. Rama weiß warum, die Geste war kalkuliert: Albanien will unbedingt in die Europäische Union und gilt derzeit als aussichtsreichster Kandidat. Die Eröffnung des ersten Clusters zur EU-Erweiterung im Oktober 2024 und die Zusage der Aufnahme bis 2030 löste Euphorie aus. Weitere vier Cluster sollen dieses Jahr folgen, eine Art „High-Speed-Integration“. Die albanische Bevölkerung befürwortet den Beitritt und sieht sich in jeder Hinsicht als Teil des westlichen Bündnisses, Albanien ist Mitglied der NATO. Das ist viel wert in Zeiten abnehmender geopolitischer und wirtschaftlicher Macht Europas und vor allem im Kontext des Krieges gegen die Ukraine.Kurz vor dem Gipfel fand am 11. Mai die albanische Parlamentswahl statt – die europäische Öffentlichkeit schenkte ihr relativ wenig Beachtung. Dabei war das Ergebnis bemerkenswert: Edi Rama und seine Sozialistische Partei gewannen die Wahl mit sagenhaften 53 Prozent der Stimmen und sicherten sich damit 83 von 140 Sitzen. Rama sitzt damit fester denn je zuvor im Zentrum der Macht des kleinen Landes mit nur zwei Millionen Einwohnern. In den kommenden vier Jahren wird sich die Frage klären, ob die EU einen autokratischen Führer „light“ oder einen „Stabilokraten“ aus dem Balkan in der EU haben möchte. Es spricht einiges dafür und auch einiges dagegen. Edi Rama hat aber einen Trumpf in der Tasche: eine vermeintliche Lösung für das europäische Migrationsdilemma. Denn die extraterritorialen Abschiebezentren Italiens in Albanien schaffen einen Präzedenzfall für die Auslagerung von Asylverfahren in ein EU-Partnerland. Dabei blicken Italien und Albanien auf eine lange Geschichte der Migrationskooperation zurück. In den 1990er Jahren erlebte das postkommunistische Albanien eine Massenauswanderung u.a. nach Italien. Italien unterstützte die verarmten Albaner und so entstand eine Beziehung, die Rama als „historische Freundschaft“ bezeichnet. Auf dieser Grundlage sollten Asylverfahren von Italien nach Albanien ausgelagert werden.Das Abkommen wurde von seinen Befürwortern als „unkonventionelle“ Lösung für das Problem der irregulären Migration angepriesen, birgt aber erhebliche juristische und menschenrechtliche Risiken.Das bilaterale Abkommen erlaubt es Italien, jährlich bis zu 36 000 Menschen zur Bearbeitung ihrer Asylanträge in zwei von Italien betriebene Zentren nach Albanien zu überstellen – so der Plan. Das Abkommen wurde von seinen Befürwortern als „unkonventionelle“ Lösung für das Problem der irregulären Migration angepriesen, birgt aber erhebliche juristische und menschenrechtliche Risiken. Trotz Bedenken, dass die Unterbringung von Migranten aus Drittstaaten gegen die albanische Verfassung und das Völkerrecht verstoßen könnte, wurde es in beiden Ländern ratifiziert. Die italienische Rechtsregierung begrüßte dies als „historischen Schritt“. Die EU-Institutionen wurden zwar informiert, waren aber nicht beteiligt. Die ersten Überstellungen fanden im Oktober 2024 statt: Ein Schiff der italienischen Marine brachte 16 Migranten nach Albanien. Gemäß italienischem Recht muss jede Inhaftierung von Asylsuchenden richterlich bestätigt werden; der zuständige Richter verweigerte jedoch die Genehmigung. Italien hatte die Herkunftsländer der Betroffenen – Bangladesch und Ägypten – als „sicher“ eingestuft, was ein grundsätzlich verkürztes Asylverfahren ermöglicht. Nur zwei Wochen zuvor hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass ein Land jedoch nicht als „sicher“ gelten kann, wenn es Ausnahmen gibt. Unter Berufung auf dieses Urteil erklärte das Gericht in Rom die Schnellverfahren für unzulässig. Die Asylsuchenden wurden aus dem beschleunigten Offshore-Verfahren entfernt und in das reguläre italienische Asylverfahren überführt. Ein herber Rückschlag für Giorgia Meloni wie auch für Edi Rama.Die italienische Regierung legte umgehend Berufung gegen die Entscheidung ein und bemühte sich, den Rechtsrahmen anzupassen. Doch auch bei den nächsten Überstellungen – Ende 2024 und im Januar 2025 – lehnten italienische Gerichte die Inhaftierung der insgesamt 73 Asylsuchenden in Albanien ab. Innerhalb weniger Tage wurden sie zurück nach Italien gebracht. Ende März 2025 kündigte Meloni schließlich an, dass die albanischen Einrichtungen künftig als Abschiebehaft-Zentren für Personen genutzt werden, deren Schutzanträge in Italien bereits abgelehnt wurden. Mit dieser Umstellung sind im April 40 Männer unterschiedlicher Nationalitäten in Albanien angekommen – alle waren zuvor rechtskräftig abgelehnt worden. Nach italienischem Recht können sie nun bis zu 18 Monate inhaftiert werden, bis ihre Abschiebung möglich ist. Erstmals verlegte damit ein EU-Mitgliedstaat abgelehnte Asylbewerber in ein Drittland, das weder Herkunfts- noch Transitstaat ist. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begrüßte den Pakt zwischen Italien und Albanien als Beispiel für „gerechte Aufgabenteilung“ zwischen der EU und Partnerstaaten.Melonis Machterhalt hängt von der Migrationssteuerung ab. Mit dem Versprechen, die illegale Einwanderung an der Küste Italiens zu stoppen, hatte sie den Wahlkampf gewonnen – bisher aber keine sichtbaren Erfolge erzielt. Edi Rama könnte ihr zu einem erneuten Sieg verhelfen und sie ihm im Gegenzug sein Wahlversprechen verwirklichen lassen – den EU-Beitritt. Dieser wäre in der aktuellen Verfasstheit Albaniens alles andere als selbstverständlich, denn die institutionellen Schwächen des Landes sind gravierend. So war die Verhaftung des Bürgermeisters von Tirana im Februar ein sehr schattiger Moment für die regierende Sozialistische Partei (SP). Erion Veliaj – Vorstandsmitglied der SP und Vertrauter Ramas – wurde von der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption und organisierte Kriminalität angeklagt und inhaftiert. Ihm werden Bestechungsannahme in neun Fällen, Geldwäsche und Verschleierung von Einkünften vorgeworfen. Berichte renommierter Organisationen belegen, dass Albanien ein „Hub“ der internationalen organisierten Kriminalität ist, auch hier ist die geografische Lage zentral.Albanien mag politisch auf dem Weg nach Europa sein. Doch ökonomisch, sozial und rechtsstaatlich steht das Land vor einer Zerreißprobe.Albaniens Zugang zur Adria und damit zum globalisierten maritimen Güterverkehr schafft die Voraussetzung für den illegalen Handel. Insbesondere Kokain aus Ecuador wird als Geldquelle der albanischen kriminellen Netzwerke identifiziert. Das Geld wird im Bausektor gewaschen, was in Form moderner und oft leerstehender Gebäude für die Bevölkerung sichtbar ist – und zu surrealen Immobilienpreisen führt. Auch Benzin und Lebensmittel sind teuer, die Löhne hingegen niedrig. Der aufblühende Tourismus ist zwar positiv für die Wirtschaft, führt aber auch zu steigenden Preisen und schafft kaum lokale Arbeitsplätze. Die soziale Absicherung bleibt schwach – ein entscheidender Indikator für die EU-Erweiterung, der bislang klar verfehlt wird. Hinzu kommt ein dramatischer Braindrain. Vor allem gut ausgebildete junge Menschen verlassen das Land – ein Verlust an menschlichem Kapital, der sich selbst verstärkt: Ohne Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und Fachkräfte sinkt die Lebensqualität weiter. Albanien mag politisch auf dem Weg nach Europa sein. Doch ökonomisch, sozial und rechtsstaatlich steht das Land vor einer Zerreißprobe – und damit auf wackligem Grund für einen glaubwürdigen EU-Beitritt.Aber in Zeiten politischer Deals à la Trump verlieren innenpolitische Glaubwürdigkeit und rechtsstaatliche Standards zunehmend an Gewicht. Auch in Europa dominiert die Logik „eine Hand wäscht die andere“: Der Pakt zwischen Giorgia Meloni und Edi Rama folgt genau diesem Muster. Migration wird zum politischen Tauschmittel, internationale Normen werden dabei flexibel ausgelegt. Auch die neue deutsche Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag zur EU-Erweiterung lediglich formuliert, dass eine Reform des Einstimmigkeitsprinzips Vorrang haben müsse. Wie diese Reform gelingen soll, wird jedoch nicht aufgezeigt. Für Albanien bleibt also nur, sich als lösungsorientierter Partner auf dem Feld der Migrationspolitik anzubieten, um so in die EU zu gelangen. Dass es dabei um Menschen geht und internationales Recht uminterpretiert wird, wird offensichtlich in Kauf genommen. Besonders bitter ist dabei die Ironie des albanischen Kurses: Ein Land, das selbst unter enormer Abwanderung leidet, nimmt nun andere Migranten auf – nicht aus humanitären Gründen, sondern aus geopolitischem Kalkül. Die Formel lautet dabei: Andere müssen raus aus der EU, damit wir rein können.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal