Elitäre Hybris
Warum hat es Donald Trump auf die Universität Harvard und andere Eliteuniversitäten abgesehen? Der offizielle Grund ist Antisemitismus, aber mehr als 600 Harvard-Professoren, darunter viele jüdische, halten diesen Vorwurf für lächerlich.Wirtschaftliche Gründe können es auch nicht sein. Der Hochschulsektor ist ein äußerst erfolgreicher Wirtschaftszweig, der 4,5 Millionen Amerikanern einen Arbeitsplatz bietet. Dieser Branche ihre ausländischen Kunden zu nehmen, indem man ihnen die Visaerteilung verweigert, ist verrückt.Der eigentliche Grund ist relativ simpel. Den Universitäten und ihren Absolventen schlägt von weiten Teilen der US-Wählerschaft zunehmend Ablehnung entgegen. Auf spitzfindige Akademiker einzudreschen, ist politisch äußerst geschickt, auch wenn es inhaltlich fatal ist.Es ist ein Klischee der amerikanischen Politik, dass der Trump’sche Populismus durch die Kluft zwischen arroganten College-Absolventen mit Eliteabschlüssen und den kleinen Leuten mit High-School-Diplom oder weniger angeheizt wurde. Aber es ist ein Klischee, das mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthält. Bücher mit Titeln wie Polarized by Degrees: How the Diploma Divide and the Culture War Transformed American Politics (Wie die Kluft zwischen den Abschlüssen und der Kulturkrieg die amerikanische Politik verändert haben) zeigen dies deutlich, und Politiker wie Hillary Clinton, welche die Trump-Wähler als erbärmlichen Haufen bezeichnet hat, haben die Sache nicht gerade besser gemacht.Was also ist zu tun? Die Auflösung elitärer Bildungseinrichtungen – wie Trump sie anzustreben scheint – ist keine Option. Trump-kritische Progressive sollten eine bessere Alternative vorlegen können, aber sie sind Gefangene der Geschichte.Die Auflösung elitärer Bildungseinrichtungen – wie Trump sie anzustreben scheint – ist keine Option.Vor einer Generation warfen rechte Kritiker dem Wohlfahrtsstaat vor, wahllos Leistungen zu verteilen. Ronald Reagans Gerede von „Sozialschmarotzern“ war stark übertrieben, aber hinterließ politisch Spuren. Liberale Politiker reagierten, indem sie den Umverteilungsstaat beschnitten (man denke an Bill Clintons Versprechen, „die Sozialhilfe, so wie wir sie kennen, abzuschaffen“) und die Zuwendungen auf die „unterstützungswürdigen“ Armen zu beschränken. Liberale Theoretiker gaben zu, was sie lange geleugnet hatten: dass es legitim ist, zwischen denen zu unterscheiden, die Hilfe verdienen und denen, die das nicht tun.In der Moralphilosophie ist eine zentrale Frage, wie und wann Menschen es verdienen, das Los zu tragen, das ihnen im Leben zufällt – und ob Verdienst überhaupt ein gültiges Kriterium für die Zuteilung von Ehre und materiellem Wohlstand ist. In den 1980er und 1990er Jahren vertrat eine Schule liberaler Philosophen – die sogenannten „Glücksegalitaristen“ – die Auffassung, dass Gerechtigkeit die Differenzierung zwischen „Umständen“ und „Entscheidungen“ erfordere. Einkommensunterschiede, die sich aus den Umständen ergeben, sollten ausgeglichen werden, da man niemandem vorwerfen könne, mittellos geboren worden zu sein. Aber wenn jemand ein Vermögen erbe und sich entscheide, es mit Glücksspiel zu verzocken, solle die Gesellschaft ihn nicht vor der eigenen Verantwortungslosigkeit retten.Diese Position brachte die Liberalen mit den moralischen Intuitionen der Mittelschicht in Einklang. Natürlich verdient der hart arbeitende Bürger, der sich an die Regeln hält, die lukrativen Studienabschlüsse, die guten Jobs und das gemütliche Haus in einer sicheren Nachbarschaft.Aber diese Position schuf ein weiteres Problem: Hybris. Gewinner neigen, wie der Philosoph Michael J. Sandel es formuliert hat, dazu, „ihren Erfolg zu tief einzuatmen und das Glück und den Zufall zu vergessen, die ihnen auf ihrem Weg geholfen haben“. Wenn Sie erst einmal zu der selbstgefälligen Überzeugung gelangt sind, dass Sie Ihren Harvard-Abschluss verdient haben, bedarf es nicht viel, um Sie zu überzeugen, dass auch die Menschen am unteren Ende der Gesellschaft ihr Schicksal verdienen. Schon bald werden Sie ein weiterer elitärer Küstenbewohner sein, der auf die armen Seelen in den „Flyover Countries“ herabschaut.Das ist, verkürzt gesagt, das Dilemma der modernen Liberalen: Wenn man zu wenig an Leistung und Verdienst glaubt, scheint man den amerikanischen Traum zu verraten; glaubt man aber zu sehr daran, scheint man jene zu verraten, für die sich der amerikanische Traum nicht verwirklicht hat – darunter jene weißen Männer ohne Hochschulabschluss, die dann irgendwann Trump gewählt haben.Es ist kein Zufall, dass in der Ivy League die Kinder der oberen ein Prozent stärker vertreten sind als Kinder aus der unteren Hälfte der EinkommensverteilungGibt es einen Ausweg? Können wir uns den Glauben an die Bildung als ultimative Quelle des sozialen Aufstiegs bewahren und zugleich die Hochnäsigkeit der Bildungselite vermeiden?Ja, solange wir erkennen, dass es keinen Weg zurück gibt: Die Lösungen werden mehr Vertrauen in Leistung und Verantwortung erfordern, nicht weniger. Die ultimative Kränkung, die die Eliten den weniger Glücklichen zufügen können, ist der Zweifel an deren Fähigkeit, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wollen Sie diejenigen, die nicht das Glück hatten, eine Universität zu besuchen und einen gut bezahlten Job zu bekommen, ernsthaft vor den Kopf stoßen? Dann los, behandeln Sie sie als hilflose Opfer, so wie es progressive Politiker und Aktivisten so oft getan haben. Aber eine Gesellschaft von Gleichen kann man so nicht aufbauen.Auch die Universitäten müssen Leistung ernster nehmen. Man kann Harvard zu Recht vorwerfen, dass es zu „woke“ ist, aber schlimmer noch ist der Vorwurf, dass es nicht ausreichend leistungsorientiert ist. Es ist kein Zufall, dass in der Ivy League die Kinder der oberen ein Prozent stärker vertreten sind als Kinder aus der unteren Hälfte der Einkommensverteilung. Die bevorzugte Zulassung von Absolventenkindern und die Vergabe von Plätzen an Sportler in Elitesportarten wie Rudern und Squash sorgen dafür, dass dies so bleibt.Auch das absurde Statusgefälle zwischen Angestellten- und Arbeiterjobs muss verschwinden. Und es kann verschwinden, denn es war nicht immer da. Ich bin ein Kind von Akademikern. Eines der ersten Dinge, die mir nach meiner Ankunft in den USA vor vielen Jahren auffielen, war, dass der Klempner, der kam, um unsere Toilette zu reparieren, von der Familie, die ihn beauftragt hatte, nicht sonderlich beeindruckt war. Sein Auto war größer als unseres, und nach seiner Rechnung zu urteilen, verdiente er mehr als mein Vater, der Professor war.Die technologische Entwicklung hat dies in den letzten 25 Jahren verändert: Büroangestellte mit Kenntnissen in Word und Excel konnten nun besser bezahlt werden als Klempner oder Elektriker. Aber im nächsten Vierteljahrhundert könnte das in die andere Richtung gehen. Die KI wird Gesetze und Gerichtsurteile besser recherchieren als die beste Anwaltsgehilfin, Testergebnisse besser lesen als der beste Radiologe und besser programmieren als der beste Programmierer. Dagegen wird die Person, die Ihre Spüle reparieren oder Ihre ältlichen Verwandten pflegen kann, zunehmend stärker wertgeschätzt werden.Auch etwas Ehrlichkeit wird viel bewirken. Ich war früher selbst Professor in Harvard, und die Liste der glücklichen Zufälle, die mich dorthin brachten, ist lang. Etwas anderes zu behaupten, wäre ein Verstoß gegen das Motto von Harvard: Veritas, die Wahrheit.© Project SyndicateAus dem Englischen von Jan DoolanWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal