Er ist wieder da
Am 15. Mai 2025 eröffnete die Moskauer Metro in der Station Taganskaja ein sowjetisches Relikt neu: das Wandrelief „Dank des Volkes an den Führer und Feldherrn“, das Josef Stalin als zentralen Helden der Nation zeigt. 1965 wurde das Wandrelief im Zuge der Entstalinisierung entfernt. Nun ist es zurück.Anders als bei Restaurierungen in Moskau üblich, wurde dieses Projekt weder angekündigt noch öffentlich diskutiert, sondern als bloße „Renovierung“ getarnt. Erst fünf Tage vor der Enthüllung sickerten Informationen durch, dass es sich in Wahrheit um die Reproduktion eines Stalin-Reliefs handelt. Kritiker werfen den Moskauer Behörden vor, bewusst verschleiert zu haben, worum es bei der Restaurierung ging – wohl um Proteste zu vermeiden.Der Zeitpunkt der Enthüllung selbst – pünktlich zum 90. Geburtstag der Moskauer Metro – war offensichtlich nicht zufällig gewählt. Als würdige Erinnerung an sowjetische Ingenieurskunst inszeniert, wirkt die Stalin-Figur im Herzen Moskaus wie ein Schritt zurück in die dunkelsten Kapitel der sowjetischen Geschichte – eine Ära der Repressionen, Schauprozesse und des Großen Terrors.Man könnte den Vorfall als Einzelfall abtun, wenn er nicht in einen größeren Trend eingebettet wäre. Laut dem Recherchekanal Можем объяснить („Wir können es erklären“) wurden allein im Mai 2025 sieben neue Stalin-Statuen in Russland eingeweiht – ein Rekord seit den Tagen des Personenkults unter Stalin selbst. Neben Städten wie Serpuchow, Ulan-Ude oder Moschaisk tauchte Stalins Konterfei sogar im besetzten Melitopol in der Ukraine auf.In der Stadt Bor in der Region Nischni Nowgorod entsteht ein ganzes „Stalin-Zentrum“ – ein Museumskomplex mit neuem Denkmal, das eine bereits 2020 errichtete Statue ersetzen soll. Insgesamt zählt Russland nun rund 123 Stalin-Denkmäler – über 90 Prozent davon wurden unter der Präsidentschaft Wladimir Putins errichtet. Anders als eine regelrechte Rehabilitierung Stalins kann man das kaum nennen. Subtil orchestriert und staatlich toleriert, wenn nicht gar aktiv gefördert, kehrt sein Name Schritt für Schritt in den öffentlichen Raum zurück.Für die einen ist er ein Held, für die anderen ein Symbol für Angst, Repressionen und zerstörte Leben.Die Wiederanbringung des Reliefs löste scharfe Kritik aus. Der Abgeordnete Alexander Dawanow von der Partei Nowyje Ljudi forderte umgehend öffentliche Anhörungen. In einem Statement warnte er: „Stalin bleibt eine umstrittene Figur. Für die einen ist er ein Held, für die anderen ein Symbol für Angst, Repressionen und zerstörte Leben. Sollen wir wirklich einen neuen gesellschaftlichen Konflikt provozieren?“ Sein Vorschlag: ein öffentliches Referendum nach dem Vorbild der Diskussion um das Denkmal für Felix Dserschinski an der Lubjanka. Doch sein Appell blieb folgenlos.Auch künstlerisch ist das Ergebnis fragwürdig. Die ehemalige Direktorin des Puschkin-Museums, Jelisaweta Lichatschowa, bezeichnete das Relief als ein Fake: „Das ist kein Kunstwerk, sondern billiger PR-Populismus“, so Lichatschowa. Eine sorgfältige Rekonstruktion war offensichtlich zweitrangig – entscheidend war das politische Signal. Die Wiederherstellung wirkt wie ein symbolischer Akt in der geschichtsrevisionistischen Staatspolitik, die das Bild Stalins umdeutet: weg vom Diktator, hin zum „starken Führer“ und militärischen Helden.Stalin steht im heutigen Russland vermehrt nicht mehr für Gulag, Schauprozesse und Angst, sondern für Ordnung, Stärke und Sieg – insbesondere für den militärischen Triumph im Zweiten Weltkrieg, der zunehmend als Sieg über den Westen interpretiert wird. Die Renaissance eines Mannes, dessen Terrorregime Millionen das Leben kostete, scheint in das gegenwärtige politische Klima gut zu passen. Der Stalin-Kult, offiziell nach 1953 geächtet und nach 1991 historisch eingeordnet, ist zurück.Dabei hatte Präsident Putin 2017 noch das „Mauer-Denkmal“ in Moskau zur Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Säuberungen eröffnet – ein Zeichen, dass auch das offizielle Russland seine dunkle Vergangenheit nicht verdrängen wollte. Doch genau dieser Anspruch gerät ins Wanken. Im selben Jahr sagte Putin, die „Dämonisierung“ Stalins sei „übermäßig“ und ein „Angriff auf Russland“. Historische Verdienste, vor allem im Krieg, dürften nicht vergessen werden, so der Präsident in einem Interview mit Oliver Stone.Parallel dazu wandelt sich auch die öffentliche Wahrnehmung. Einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums zufolge äußerten 2017 rund 46 Prozent der Russen „Bewunderung“, „Respekt“ oder „Sympathie“ für Stalin. Schon 2019 hielten 70 Prozent Stalins Rolle in der Geschichte für positiv – ein Rekord. Laut aktuellen Erhebungen gehört er zu den drei beliebtesten Politikern der Vergangenheit, gleich nach Peter dem Großen und Katharina der Großen.Die schleichende Rückkehr des Stalin-Kults folgt einer klaren Logik.Die schleichende Rückkehr des Stalin-Kults folgt dabei einer klaren Logik: Sie soll vermitteln, dass es in der russischen Geschichte keine Fehler gab, nur Größe und Siege. In dieses Bild passt auch die Schließung des Gulag-Museums in Moskau im November 2024 – offiziell wegen Brandschutzmängeln. Der Zeitpunkt – kurz nach dem Gedenktag für Opfer politischer Repressionen am 30. Oktober – lässt vermuten, dass politische Motive im Spiel waren.Das Museum war eine der wenigen staatlich unterstützten Institutionen, die offen über das sowjetische Lagersystem aufklärten. Es wurde oft mit dem Jüdischen Museum Berlin verglichen. Nicht nur wegen seiner innovativen Ausstellung, sondern auch wegen seiner emotionalen Vermittlung von Geschichte durch Bilder, Räume und Erzählungen. Nun ist diese Plattform verstummt – ein alarmierender Kontrast zur wachsenden Zahl der Stalin-Denkmäler.Der langjährige Direktor des Gulag-Museums, Roman Romanow, sagte 2019 in einem Interview, der neue Stalin-Kult sei kein Massenphänomen, sondern gehe vor allem von einer kleinen, aber lauten Gruppe aus. „Sie glauben an den Mythos einer glorreichen sowjetischen Vergangenheit – und das Bild Stalins ist untrennbar mit diesem Mythos verknüpft“, erklärte der Historiker. „Diese Menschen können sagen, dass Repressionen inakzeptabel sind – und doch behaupten: Wenn wir Stalin hätten, gäbe es Ordnung.“ Inzwischen ist Romanow entlassen. Und Stalin dient nicht mehr als Mahnmal, sondern als Projektionsfläche für autoritäre Sehnsüchte. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte ist nicht mehr erwünscht.Bereits am Tag nach der Enthüllung des Wandreliefs platzierten anonyme Aktivisten neben der Stalin-Figur Plakate mit Zitaten von Putin und Medwedew, in denen beide den Personenkult früher scharf kritisierten. So sagte Dmitri Medwedew 2012 am Gedenktag für die Opfer politischer Repressionen: „Für das, was damals geschah, verdienen nicht nur Josef Stalin, sondern eine ganze Reihe weiterer Führungspersonen die schärfste Verurteilung. Man kann sie nicht mehr zur Rechenschaft ziehen – aber genau so ist es.“Die Aktion solle auf die Absurdität der Stalin-Wiedererrichtung aufmerksam machen, erklärten die Initiatoren dem Telegram-Kanal Осторожно, новости („Vorsicht, Nachrichten“). Inzwischen türmen sich zu Stalins Füßen in der Metrostation Taganskaja Berge roter Nelken. Sollen diese den Diktator ehren – oder seiner Opfer gedenken? Doch ein neues Video vom Wandrelief lässt wenig Raum für Zweifel: Ein alter Mann tritt heran, legt seine Blumen ab, verneigt sich ehrfürchtig – und bekreuzigt sich, immer wieder, als stünde er vor einem Heiligenbild.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal