„Es braucht keine ‚MAGA-Version‘ von Industriepolitik“
Die Fragen stellte Claudia Detsch.In Europa geht die Angst vor der De-Industrialisierung um. China hängt uns insbesondere im Feld der sauberen Technologien zunehmend ab. Haben die Europäer die Bedeutung dieser Branche verschlafen?Im Gegenteil, Europa war bei den sauberen Technologien sogar ein Vorreiter. Es ist auch nicht so, dass es uns an Innovationskraft mangelt. Aber wir verstehen es schlicht nicht, daraus ein Geschäft zu machen. Das liegt auch an den politischen Rahmenbedingungen. Wir haben zum Beispiel den Automobilsektor mit sehr strengen Emissionsvorgaben unter Druck gesetzt, ohne gleichzeitig die nötige Infrastruktur bereitzustellen. Aber ohne diese kann die Produktion gar nicht auf das erforderliche Niveau wachsen. Für mich ist das eines der zentralen Versäumnisse der europäischen Industriepolitik im Bereich sauberer Technologien.Und dann stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass ausgerechnet Deutschland – das Land, das am meisten zu verlieren hat, wenn die Umstellung auf Elektroautos scheitert – sich auf den Markt verlässt und beim Infrastrukturausbau versagt? In China war der Aufbau der Ladeinfrastruktur das Erste, was sie angegangen sind. Peking ist hier ganz bewusst einen anderen Weg gegangen. Die Chinesen denken alles gleichzeitig – Finanzen, Planung, Digitalisierung, Rohstoffe, Verarbeitung, Infrastruktur – und haben die gesamte Wertschöpfungskette im Blick. Mit einem marktliberalen Ansatz lässt sich das kaum kontern.Die Europäer hingegen haben Clean Tech lange aus der gewohnten Perspektive globaler Wertschöpfungsketten betrachtet. Was es gebraucht hätte, wäre eine mutige Industriepolitik mit dem Ziel, mehr Autonomie zu schaffen – und die Wertschöpfungsketten so weit wie möglich innerhalb Europas zu integrieren.Diese Erkenntnis hat sich hier inzwischen auch durchgesetzt. Allerdings brauchte es dafür den Schock der Corona-Krise und den russischen Einmarsch in die Ukraine.Das ist ein weiterer entscheidender Punkt. In Europa war Clean Tech lange kein strategisches Schlüsselthema. Für China hingegen war die Elektrifizierung des Verkehrs von Anfang an eine Frage der nationalen Sicherheit. Dort ging man – bereits unter der Obama-Regierung und erst recht unter Trump – davon aus, dass es im Konfliktfall, etwa durch eine Seeblockade, zu massiven Unterbrechungen der Ölversorgung kommen könnte. Genau das war ein zentraler Treiber für den Umbau.Es ist keineswegs so, dass das chinesische System per se überlegen wäre.In Europa standen dagegen vor allem klimapolitische Erwägungen im Vordergrund. Spätestens nach dem Angriff auf die Krim 2014 hätten aber auch wir das Thema Sicherheit viel stärker betonen müssen. Unsere enorme Abhängigkeit von Gas hätte eigentlich für die Elektrifizierung des Verkehrs und die Dekarbonisierung des Energiesektors einen massiven Investitionsschub auslösen müssen. Während bei uns die Diskussion von Klima und Regulierung geprägt war, sprach man in China über Energiesicherheit und Industriepolitik.Inzwischen sprechen wir auch in Europa stärker über Industriepolitik und Energiesicherheit als über das Klima. Lässt sich die Lücke noch schließen?Auf jeden Fall! Wir bringen große Stärken mit. Was uns ausbremst, sind vor allem ein paar schlechte politische Entscheidungen der vergangenen Jahre. Es ist keineswegs so, dass das chinesische System per se überlegen wäre. Mal im Ernst: Die Industriepolitik haben wir in Europa schließlich erfunden.Trotz vieler Debatten scheinen wir aber nicht voranzukommen. Im Gegenteil, die schlechten Nachrichten aus der Industrie häufen sich. Was braucht es jetzt? Hängt es am Geld?Ja, zu einem großen Teil. Wir gründen all diese ambitionierten Initiativen wie die Europäische Batterie-Allianz. Aber sie scheitern regelmäßig, weil sie im Vergleich zu China massiv unterfinanziert sind. Hinzu kommt: Die Kapitalkosten für saubere Technologien sind in den letzten Jahren durch die Inflation regelrecht explodiert. Die Bank of China bietet gezielt niedrigere Zinssätze für grüne Technologien – bei uns ist das nicht der Fall. Wir hatten einen solchen Fördermechanismus mal für ein Jahr, aber dann wurde er wieder abgeschafft.Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die aktuellen Reformdebatten in Europa?Reichlich vorhandenes Risikokapital ist eine Grundvoraussetzung für Innovation. Und Innovation ist wiederum der Schlüssel zu Produktivitätszuwächsen, die letztlich Marktdominanz und nachhaltiges Wachstum ermöglichen. Es ist ja nicht so, dass Europa kein Geld hätte. Wir haben zwar nicht so viel Kapital wie die großen chinesischen Fonds, aber immerhin etwa die Hälfte davon.Das Problem ist: Während China staatliche Risikokapitalfirmen aufgebaut hat, wollten die Europäer die Bedingungen für amerikanisches Risikokapital simulieren. In China steht dadurch reichlich Kapital für langfristige Innovationsprojekte zur Verfügung. Wir in Europa verfügen zwar über Instrumente wie den Europäischen Investitionsfonds oder 38 regionale, staatliche Risikokapitalfonds, aber sie agieren alle nach einem marktbasierten Ansatz: Was rechnet sich kurzfristig, und vor allem in meiner Region?In China werden gezielt Technologien gefördert, die in zehn Jahren relevant werden.In China dagegen werden gezielt Technologien gefördert, die in zehn Jahren relevant werden. Hinzu kommt: Die chinesischen Staatsfonds arbeiten eng mit Universitäten zusammen – dort, wo echte Innovation entsteht. In Europa hingegen glauben wir noch immer an die amerikanische Garage, an das eine Genie, das das Start-up der Zukunft erfindet. Damit delegieren wir Innovation.Gerade angesichts der aktuellen Krise mehren sich in Europa die Stimmen, die am klimaneutralen Umbau nicht länger festhalten wollen. Ein Beispiel ist die Rolle rückwärts beim Verbrenner-Aus. Warum sollte man auch freiwillig aus einem Erfolgsmodell aussteigen?Ich nenne das in meinem demnächst erscheinenden Buch die „Trabant-Strategie“. Die Amerikaner haben sich bereits klar für diese Richtung entschieden. Wenn wir in der transatlantischen Region jetzt sagen: „Vergesst den grünen Wandel im Verkehr – das kostet nur Jobs und Wettbewerbsfähigkeit“, dann frage ich: Was glauben wir eigentlich, was die wachsende Mittelschicht von Indien über Brasilien bis Nigeria künftig kaufen wird?China installiert flächendeckend Ladestationen und hat E-Autos im Angebot, die sich Menschen in ganz unterschiedlichen Einkommensklassen leisten können. Wenn wir da nicht mithalten, verdammen wir uns selbst zu einer Art DDR-Wirtschaft. Und wir wissen, wohin das führt: in technische Veralterung und einen abgeschotteten, schrumpfenden Markt. Die Frage ist doch: Wie wollen wir unter solchen Bedingungen künftig genug gute Jobs schaffen und erhalten?Aber unsere eigenen Versuche waren zuletzt auch nicht erfolgreich. Der schwedische Batteriehersteller Northvolt etwa ist mit großen Erwartungen gestartet und inzwischen in der Insolvenz gelandet.Das zeigt, wie schwierig es in Europa ist, wenn man keine massive Skalenwirtschaft aufbauen kann. Und genau dafür braucht es einerseits ausreichend Nachfrage, andererseits gezielte Unterstützung. Gerade für Unternehmen wie Northvolt, wenn sie in Schwierigkeiten geraten. So ein Fall wäre in China undenkbar gewesen.Northvolt hat immerhin die erste Natrium-Ionen-Batteriezelle entwickelt, nicht für Autos, sondern für Energiespeicher. Und dafür braucht man keine seltenen Erden aus China. Das ist in meinen Augen ein europäischer Technik-Meilenstein, ein echtes Vorzeigeprojekt. Wir reden hier über ein Geschäft mit einem Potenzial von 15 Milliarden Euro. Und jetzt soll das Unternehmen für ein paar Peanuts verkauft werden?Angesichts der Debatte in Europa wird insbesondere den Konservativen inzwischen mulmig. Viele warnen vor einem übermächtigen Staat.Man muss sich entscheiden. Man kann nicht gleichzeitig über hohe Kosten und zu viel staatlichen Einfluss klagen und dann über die Abhängigkeit von China jammern. Es hat bislang schlicht niemand einen funktionierenden Mittelweg gefunden.Man kann nicht gleichzeitig über hohe Kosten und zu viel staatlichen Einfluss klagen und dann über die Abhängigkeit von China jammern.Das sagt übrigens nicht irgendwer, sondern sogar der rechtslastigste Bergbau-Unternehmer in Australien. Diese Leute sind ganz sicher weder grün noch sozialdemokratisch. Aber selbst sie sagen: Ohne staatliche Hüttenwerke ist es technisch einfach nicht möglich, wettbewerbsfähig zu bleiben.Wie sollten wir unser Verhältnis zu China denn nun ausgestalten? Sind wir eher Rivalen oder eher Partner? Beides zusammen dürfte schwierig werden.Gerade beim Klima brauchen wir eine enge Abstimmung zwischen den auf diesem Gebiet führenden Industriemächten der Welt – also vor allem zwischen Europa und China. Letztlich wird es darauf hinauslaufen, dass man die verschiedenen Clean Tech-Imperien klug voneinander abgrenzt und bestimmte Bereiche aufteilt.Warum sollte China sich auf so eine Aufteilung einlassen?Ich glaube nicht, dass China bereit ist, den europäischen Markt einfach aufzugeben. Sie haben jetzt schon eine massive Überproduktion. Wenn Europa sich abschottet, würde das China empfindlich treffen. Was wir brauchen, ist ein Investitionsabkommen für saubere Technologien. Darin müssten klare Regeln für die Nutzung geistigen Eigentums festgelegt werden. Ein Abkommen, das im Grunde sagt: Schaut mal, wir sind euer größter Absatzmarkt für Clean Tech. Wir schätzen den Wettbewerb, aber dieser darf nicht unsere Industrie und unsere Arbeitsplätze zerstören. Deshalb braucht es so etwas wie ein Übergangsabkommen, in dem China bereit ist, bestimmte Technologien zu teilen. Im Gegenzug bieten wir Marktzugang. Das ist unsere Stärke, und die sollten wir gezielt einsetzen.Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich die Verhältnisse umgekehrt haben. Jetzt setzen wir auf Technologietransfer chinesischer Unternehmen?Ja, und das zeigt, wie stark wir China im Westen lange unterschätzt haben – auf tragische Weise, muss man sagen. Über viele Jahre herrschte eine herablassende Haltung gegenüber chinesischer Innovationskraft. China wurde oft gleichgesetzt mit Industriespionage und billigen Kopien. Ich will gar nicht bestreiten, dass es das gegeben hat. Natürlich ist das passiert, genau wie bei anderen Ländern früher in der Industriegeschichte.China wurde oft gleichgesetzt mit Industriespionage und billigen Kopien.Aber wer nur kopiert, bleibt dauerhaft zurück. Und genau das ist in China nicht der Fall. Die niedrigeren Wachstumsraten in den letzten Jahren hängen auch damit zusammen, dass man dort bewusst den Fokus verschoben hat – weg vom reinen Wirtschaftswachstum, hin zu echter technologischer Innovation. Das war eine strategische Entscheidung.Die Regierung von Donald Trump in den USA hat einen handfesten Handelskrieg angezettelt. Er zielt insbesondere auf China, trifft aber auch die europäische Industrie hart. Lässt sich diese Polarisierung nicht für unsere Interessen in Europa nutzen?Die Europäer sollten da sehr vorsichtig sein. Es gibt kaum etwas, das Peking mehr verärgert, als instrumentalisiert zu werden. Wer versucht, sich taktisch zwischen die Fronten zu stellen, etwa indem man eine Annäherung an China simuliert, ohne es ernst zu meinen, nur um gegenüber Trump Druck aufzubauen, der macht sich das Verhältnis zu China unnötig schwer.Spielt neben der Innovation auch die größere Risikofreude eine Rolle beim chinesischen Vorsprung? Europäer setzen lieber auf Bekanntes und meiden Risiken.Interessanterweise sagen die Chinesen genau dasselbe über sich. Es gibt nichts Angeborenes an den Europäern, das uns per se weniger risikofreudig machen würde als die Chinesen. Das hat nichts mit Mentalität zu tun. Das sind institutionelle Entscheidungen.Aber auch viele Arbeiterinnen und Arbeiter, gerade in den Industriesektoren, verlieren den Glauben daran, dass sie eine Zukunft in den sauberen Technologien haben.Trotz allem bin ich weiterhin hoffnungsvoll. Denn wir haben unsere industrielle Basis nicht vollständig aufgegeben – anders als etwa die USA oder das Vereinigte Königreich. Ja, es wurde viel stillgelegt, aber es ist noch genug Substanz da, um wieder auf die Beine zu kommen. Und der ökologische Umbau ist aus meiner Sicht der einzige Weg, wie uns das gelingen kann.Unsere größte Stärke sind dabei die ausgebildeten Fachkräfte. Die dürfen wir nicht verlieren, schon gar nicht im Namen einer automatisierten Marktanpassung. Wir verfügen über industrielle, technologische und wissenschaftliche Grundlagen. Was uns fehlt, ist die nötige Koordinierung in Europa und vor allem der Umfang öffentlicher Investitionen entlang der wichtigsten Wertschöpfungsketten.Diese Form der Arbeitsteilung, der Weiterbildung der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie der Investitionen zur Errichtung neuer Fabriken ist absolut notwendig, wenn man in Europa den klimaneutralen Umbau politisch attraktiv für die Industriearbeiterklasse machen will. Bislang ist das alles noch nicht überzeugend geschehen.Ein positives Beispiel ist Dänemark in den 1990er und 2000er Jahren: Beim Ausstieg aus Kohle und Öl hin zur Windenergie haben sie dafür gesorgt, dass die Löhne in der Windindustrie mindestens auf dem gleichen Niveau lagen wie in der fossilen. Die Sozialpartner und die Regierung haben gemeinsam Industriepolitik gemacht. Es braucht also keine „MAGA-Version“ von Industriepolitik, um die Arbeiterinnen und Arbeiter mitzunehmen – aber es braucht eine glaubwürdige Strategie. Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal