Falsch gepokert

30.06.25 11:45 Uhr

Als Wladimir Putin 2022 in die Ukraine einmarschierte, platzierte er eine Wette gegen den Westen. Der Westen — im Sinne von Europa plus die USA — werde nicht den Mumm haben, für die Ukraine einzustehen, so seine Annahme. Der Westen sei weder geeint noch effektiv. Es gab eine lange Liste an Niederlagen, sei es in Afghanistan, im Irak, in Libyen oder in Syrien. Der russische Sieg in der Ukraine werde beweisen, dass das goldene Zeitalter des Westens vorbei sei. Damit hätte Moskau nun die Möglichkeit, sich mit China und anderen aufstrebenden Nationen zu verbünden und seine Rolle in der neuen Weltpolitik zu sichern.Der Krieg zieht sich allerdings bis heute hin. Der Kreml verfolgt gegenüber dem Westen eine zweigleisige Strategie: Im eigenen Land wird letzterer zum Feindbild stilisiert und die russische Bevölkerung aufgerufen, sich in einem Kampf der Zivilisationen hinter Putin zu einen. Nach Außen versucht Russland derweil, den Westen zu spalten, indem Zweifler und Andersdenkende aus der breiteren proukrainischen Koalition herausgelöst werden sollen. Nach diesem Plan hätte die Wahl von Donald Trump im November ein Wendepunkt sein müssen. Putins Hoffnung dabei: Nun werde der Westen sich selbst zerfleischen – und die Ukraine Russland überlassen.Doch diese Hoffnungen haben sich als illusorisch erwiesen. Nach anfänglichem Wohlwollen ist US-Präsident Trump gegenüber seinem russischen Amtskollegen deutlich abgekühlt. Kürzlich bezeichnete Trump Putin gar als „verrückt“. Der US-Präsident mag zwar weiterhin seinen erklärten Wunsch nach „Deals“ mit Putin verfolgen, wird dabei aber weder die Ukraine noch den Westen opfern. Die harten Fakten machen dies unmöglich: Russlands brutaler Krieg hat im Westen für Entsetzen gesorgt, ihn zu einer gemeinsamen Eindämmungspolitik aufgerüttelt und Europa endgültig gegen Russland aufgebracht. Diese Entwicklungen sind keineswegs trivial oder vorübergehend, sondern werden Russlands Aussichten auf Sicherheit und Wohlstand für Jahrzehnte einschränken.Russland hat den Westen immer gebraucht und von den Kontakten zu ihm profitiert.Russland hat den Westen immer gebraucht und von den Kontakten zu ihm profitiert. Wegen eines unnötigen Krieges hat Putin diese Verbindung nun endgültig gekappt und verloren. Dabei war Russland spätestens seit dem 17. Jahrhundert ein fester Bestandteil der europäischen Politik. Im 18. Jahrhundert wurde Russland zu einem europäischen Imperium. Zusammen mit Preußen und dem Habsburgerreich teilte man Polen unter sich auf. Russische Soldaten standen 1814 vor Paris. Im 19. Jahrhundert war Russland absolut entscheidend für Krieg und Frieden in Europa. Die Romanow-Dynastie hatte enge Verwandte in den meisten europäischen Hauptstädten; gleichzeitig löste die Übernahme der europäischen Kultur eine künstlerische Renaissance in Russland aus. Handel und Technologie aus Europa steigerten den Reichtum und die Macht Russlands.Im Gegensatz dazu war das 20. Jahrhundert von langen Phasen der Isolation geprägt. Doch auch die aus Krieg und Revolution hervorgegangene Sowjetunion hörte nie auf, eine europäische Macht zu sein. Man verehrte den europäischen Denker Karl Marx und sowjetisches Ziel war es stets, Europa umzugestalten, mit allen bekannten Folgen für unzählige Europäer nach 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg beherrschte Moskau die Hälfte Europas, während die andere Hälfte sich mit der „sowjetischen Bedrohung“ auseinandersetzen musste. Als 1989 die Sowjetunion zu zerfallen begann, trafen Reformbewegungen in Moskau auf revolutionäre Bewegungen in Ost- und Mitteleuropa. Michail Gorbatschow sprach von einem zukünftigen „gemeinsamen europäischen Haus“ von Lissabon bis Wladiwostok.Die späteren Beziehungen Putins zum Westen waren hingegen weniger herzlich. Besessen von den vermeintlichen Fehlern der 1990er Jahre, versuchte er, die NATO-Erweiterung kategorisch zu blockieren, anstatt über vernünftige Forderungen bezüglich Stützpunkten, Truppen- und Raketenstationierung zu verhandeln. Da es ihm nicht gelang, eine funktionierende Beziehung zur NATO aufzubauen, wuchsen Putins Ängste vor einer [echten] Unabhängigkeit der Ukraine. Das führte 2014 dazu, dass Russland die Krim annektierte und in Teile der Ostukraine einmarschierte. Acht Jahre später eskalierte sein Wille zur Macht über die Ukraine zu einem schrecklichen Krieg. Dies markierte den einschneidensten Bruch mit dem Westen in der modernen Geschichte Russlands.Es wäre aber falsch zu behaupten, Putin habe die Beziehungen Russlands zum Westen zerstören wollen. Vielmehr wollte er sie zu seinen Gunsten neu ausrichten und durch die Schwächung des Westens wieder eine Rolle in den weiteren europäischen Angelegenheiten spielen. Wäre Russland 2022 ein schneller Sieg gelungen, hätte Putin womöglich auch bekommen, was er wollte: Russland hätte seinen Platz in Osteuropa beanspruchen können. Ein gedemütigter Westen hätte sich vielleicht der russischen Macht beugen und das NATO-Bündnis verkleinern müssen. In Panik geratene Nachbarländer Russlands hätten sich vielleicht aus der NATO oder der Europäischen Union gelöst, um sich Moskau anzubiedern. Die transatlantischen Beziehungen, das Fundament des Westens, hätten bröckeln können.Russlands einziger Weg zu einer zukünftigen Partnerschaft mit Europa besteht darin, den Krieg zu den Bedingungen der Ukraine zu beenden.Bekanntlich ist es nicht dazu gekommen. Stattdessen hat Putin etwas viel Schlimmeres für sein Land erreicht, als einen aussichtslosen Krieg anzufangen: Er hat Europa dazu gebracht, sich als militärisches Gegengewicht zu Russland zu organisieren. Deutschland will nun massiv aufrüsten; neue Formen der militärischen Beratung und Zusammenarbeit werden in ganz Europa erörtert; Finnland und Schweden sind der NATO beigetreten; der Brexit wurde durch ein bedeutendes Sicherheitsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU in den Hintergrund gedrängt. Inzwischen werden gewaltige Ressourcen mobilisiert, um Russland aus Europa fernzuhalten. Russlands einziger Weg zu einer zukünftigen Partnerschaft mit Europa besteht darin, den Krieg zu den Bedingungen der Ukraine zu beenden. Das wird Putin nicht tun.Darüber hinaus hat Putin es geschafft, einen ausgesprochen russlandfreundlichen US-Präsidenten zu verprellen. Trump hat es nicht vermocht, Russland wieder in die G7 aufzunehmen (aus der es 2014 ausgeschlossen worden war) oder in die üblichen Verfahren der europäischen Diplomatie einzubinden. Als Trump zum zweiten Mal ins Amt kam, schien er nicht zu verstehen, was Putin mit dem Krieg in der Ukraine aufgegeben hatte: Russland kann in der Ukraine oder in Europa nicht mehr mit Überzeugungskraft punkten und hat gleichzeitig nicht annähernd genug Macht, um die Ukraine zu erobern, ganz zu schweigen vom Rest Europas. Putin hat sich somit selbst aus Europa ausgeschlossen. Trump kann Russland nicht aus seiner Isolation retten, selbst wenn er es wollte.Auf dem NATO-Gipfel dürfte es heftige Diskussionen darüber gegeben haben, was das Bündnis seit Beginn des Krieges in der Ukraine alles nicht geschafft hat: Die ukrainische Bevölkerung leidet immer noch; Russland erobert nach wie vor Gebiete; China, Iran und Nordkorea unterstützen weiterhin die russischen Kriegsbemühungen; die russische Wirtschaft dümpelt vor sich hin, ist aber nicht zum Erliegen gekommen; und in Russland gibt es keine sichtbare Antikriegsbewegung.Aber: Russland wurde in der Ukraine auch effektiv gestoppt; und Europa – ebenso wie die USA – kann ohne Russland leben. Der Westen kann es sich leisten, Russland zu verlieren, so schön es auch wäre, ein friedliches Russland an seiner Seite zu haben. Im Gegensatz dazu ist es für Russland ein schwerer Rückschlag, den Westen zu verlieren. Die Beziehungen wieder zu kitten könnte Generationen dauern. Das war Putins Entscheidung. Für Russland ist es eine Tragödie.Dieser Artikel erschien zuerst in  The New York Times.Aus dem Englischen von Tim SteinsWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal