Im Auge des Sturms

07.07.25 14:30 Uhr

Der Nahe Osten steht einmal mehr vor einer geopolitischen Zerreißprobe. Während die Welt auf das gefährliche Kräftemessen zwischen Iran und Israel blickt, spielt sich im Schatten der Schlagzeilen ein ebenso entscheidendes Drama ab – im Irak. Ein Land, das geografisch, historisch und politisch zwischen den Fronten liegt, muss sich einer Frage stellen, die es sich selbst zu lange nicht gestellt hat: Wessen Interessen stehen im Zentrum unserer Außenpolitik – unsere eigenen oder die anderer?Seit Jahren verfolgt der Iran das strategische Ziel, fragile Staaten wie Syrien, Libanon, den Jemen – und eben den Irak – in eine Art Vorfeldverteidigung gegen seinen Erzfeind Israel zu verwandeln. Diese Politik stützt sich nicht auf formelle Bündnisse, sondern auf ein Netzwerk von Milizen, religiösen Loyalitäten und politischer Einflussnahme. Im Irak heißt das konkret: Bewaffnung, Finanzierung und ideologische Einflussnahme auf schiitische Gruppen, die in Teilen längst eigene sicherheitspolitische Strukturen geschaffen haben – parallel zur staatlichen Ordnung.Diese „Achse des Widerstands“, die Teheran rhetorisch seit Jahren beschwört, war lange Zeit ein geschlossenes System loyaler Stellvertreter. Doch spätestens seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag der Hamas-Attacke auf Israel und der darauf folgenden Eskalation, wankt dieses System. Entgegen ihrer bisherigen Linie vermied es die iranische Führung auffällig, sich direkt militärisch einzumischen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, die eigenen Grenzen zu sichern – und überließ die militärische Bühne vorerst anderen. Ein strategischer Rückzug, der Beobachter im Irak aufhorchen ließ. Denn wenn selbst der Iran beginnt, nationale Interessen über ideologische Treueschwüre zu stellen – warum sollte der Irak dann weiter als bloßes Werkzeug externer Strategien dienen?Diese Frage wurde in Bagdad nicht nur theoretisch diskutiert. Viele der vom Iran unterstützten Milizen reagierten prompt, und beschlossen, sich aus der akuten Eskalation herauszuhalten. Nicht aus grundsätzlichem Friedenswillen, sondern aus politischem Kalkül: Sie wollten Premierminister Mohammed Shia al-Sudani nicht in die Bredouille bringen, der ohnehin bemüht ist, das Land vor einem offenen Schlagabtausch mit den USA oder Israel zu bewahren. Zugleich bereiten sich viele dieser Milizen auf die Parlamentswahlen im November vor – ob in neuen Koalitionen oder als Unabhängige. In einem politischen System, das für seine klientelistischen Strukturen berüchtigt ist, bedeutet eine Parlamentsmehrheit weit mehr als nur Gesetzgebungsmacht. Sie öffnet den Zugang zu Ressourcen, Immunität und internationaler Legitimität.Doch wer glaubt, der Irak könne sich auf Dauer aus dem Konflikt heraushalten, verkennt die Realität.Doch wer glaubt, der Irak könne sich auf Dauer aus dem Konflikt heraushalten, verkennt die Realität. Aus iranischer Perspektive ist der Irak nicht bloß Nachbar, sondern strategisches Rückgrat. Gemeinsame Geschichte, religiöse Nähe zur schiitischen Mehrheit im Irak (rund 65 Prozent), wirtschaftliche Verflechtung – all das macht den Irak zu einem idealen Operationsraum. Und dieser Raum ist fragil. Waffen zirkulieren unkontrolliert; die Sicherheitskräfte sind durchsetzt mit Milizionären; Korruption lähmt die Institutionen. In einem solchen Umfeld reicht oft schon ein lokaler Funke, um ein regionales Feuer zu entfachen.Hinzu kommt: Der politische Diskurs ist stark polarisiert. Wahlen im Irak werden selten aufgrund von Programmen entschieden, sondern aufgrund von Emotionen, Loyalitäten und Narrativen. In einer solchen Atmosphäre könnte eine Eskalation im Nahen Osten leicht dazu führen, dass pro-iranische Gruppen symbolische Angriffe ausführen, um sich als „Verteidiger der Sache“ zu inszenieren. Zugleich droht die Kriminalisierung säkularer oder westlich orientierter Kräfte, die rasch als „verräterisch“ gebrandmarkt werden könnten.Die ökonomischen Risiken eines regionalen Flächenbrands sind kaum zu überschätzen. Sollte es zu einer Blockade der Straße von Hormus kommen – des wichtigsten Transportwegs für Öl weltweit – würde dies den irakischen Export zu über 95 Prozent zum Erliegen bringen. Ein Land, dessen Staatshaushalt nahezu ausschließlich vom Erdölexport abhängt, würde innerhalb kürzester Zeit in eine wirtschaftliche Schockstarre verfallen.Zugleich wäre der Irak mit einer möglichen Flüchtlingswelle überfordert. Sollte der Konflikt zu inner-iranischen Verwerfungen führen – etwa aufgrund wirtschaftlicher Not, Repression oder gezielter Vertreibungen –, könnten hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Menschen in den Irak drängen. Die irakische Infrastruktur, ohnehin überlastet, wäre damit gänzlich überfordert.Doch nicht nur außenpolitisch steht der Irak unter Spannung. Der Konflikt mit Israel hat auch innenpolitisch toxische Wirkungen. In Teheran geht man inzwischen hart gegen mutmaßliche Kollaborateure vor – besonders gegen Afghanen, Kurden, Bahai und Juden. Diese Welle der Repression, oft begleitet von rassistischen Untertönen, schwappt auch in den Irak über. Zahlreiche irakische Blogger, Journalisten und Aktivisten berichten von wachsendem Druck. Einschüchterungen, Erpressung, anonyme Drohungen – all das gehört mittlerweile zum Alltag. Viele ziehen sich ins halbautonome Kurdistan zurück, das als letzter Rückzugsort für abweichende Meinungen gilt. Doch selbst dort ist die Sicherheit relativ.Was dem Irak fehlt, ist eine klare außenpolitische Linie.Was dem Irak fehlt, ist eine klare außenpolitische Linie. Eine Strategie, die nicht bloß auf kurzfristige Beruhigung abzielt, sondern langfristig nationale Interessen sichert. Dazu gehört: Neutralität wahren, aber nicht passiv bleiben. Die Grenzen sichern, physisch wie politisch. Die Kontrolle über bewaffnete Gruppen zurückgewinnen. Und vor allem: eine zentrale Führung stärken, die Vertrauen schafft – im Inland wie bei den Partnern. Eine kluge Außenpolitik würde auch auf regionale Kooperation setzen. Mit der Türkei, mit Saudi-Arabien, mit Katar. Denn nur wenn der Irak aktiv an politischen Lösungsansätzen beteiligt ist, kann er sich langfristig als stabilisierender Akteur positionieren, anstatt erneut als Durchmarschzone fremder Interessen zu dienen.Auch der Westen ist gefragt. Doch nicht mit Sanktionen, die oft mehr die zivile Bevölkerung als die politischen Machthaber treffen. Stattdessen sollte die internationale Gemeinschaft Reformprozesse im Sicherheitssektor unterstützen, faire Wahlen begleiten und wirtschaftliche Öffnung ermöglichen. Nur so kann das Vertrauen gestärkt werden – und die Milizen, die heute Waffen und Ressourcen kontrollieren, verlieren ihre Daseinsberechtigung.Ein großflächiger Krieg zwischen Iran und Israel wäre ein strategischer Albtraum für den Irak – das ist unstrittig. Doch aus der Krise kann auch eine Chance erwachsen: Wenn es der irakischen Führung gelingt, eine aktive, souveräne Rolle einzunehmen, könnte Bagdad vom Spielball zur Plattform werden – für regionale Deeskalation, für wirtschaftliche Kooperation und für neue Allianzen jenseits der Blocklogik. Die Frage ist: Wird der Irak sich entscheiden, den Sturm zu durchqueren – oder wird er einmal mehr darin untergehen?Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal