Immer noch Volkspartei?

17.07.25 09:29 Uhr

Auf die Frage, ob die AfD angesichts steigender Umfragewerte inzwischen als neue Volkspartei aufzufassen sei, antwortete der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz im Juni 2023, dass die Einstufung einer Partei als Volkspartei nicht von ihrer Popularität, sondern von ihren Zielen abhänge: „Volkspartei ist eine Frage der inneren Einstellung, ob man viel zusammenführen will oder eher spalten will.“ Die programmatische Aussage passte zum Konzept der Fernsehsendung, in der sich der Bundeskanzler von Bürgerinnen und Bürgern befragen ließ. Mit einer Klimaaktivistin und ehemaligen Lehrerin sprach er über seine Kritik an den Aktionen der Letzten Generation, mit einem Zerspanungsmechaniker über dessen Ängste vor einer De-Industrialisierung Deutschlands und mit einem Schmelzer in der Stahlindustrie über das Heizungsgesetz und die Klimapolitik der Bundesregierung. Zumindest während der Fernsehsendung wirkte es so, als könne der sozialdemokratische Bundeskanzler die unterschiedlichen Interessen austarieren und zusammenführen.Aber nicht erst seit der gescheiterten Fortschrittskoalition muss sich die SPD – wie andere sozialdemokratische Parteien in Europa auch – die Frage gefallen lassen, ob sie selbst überhaupt noch als Volkspartei wahrgenommen wird oder längst zu einer Milieupartei geworden ist wie die Grünen oder die Linke. Denn zu den Kriterien gehört nicht nur der Anspruch einer Partei, über die Repräsentation begrenzter Interessengruppen hinaus prinzipiell alle Bevölkerungsschichten erreichen zu können, sondern auch die tatsächliche Anzahl und Zusammensetzung ihrer Wähler. Eine Partei, die sich als Volkspartei begreift, muss wissen, aus welchen Schichten, Milieus und Interessengruppen sich das Volk zusammensetzt, wer ihre Kernwähler sind und warum sie von diesen gewählt wird. Und auch welche Wähler sie darüber hinaus noch erreichen kann und welche Sprache sie benutzen muss, um als Volkspartei auftreten zu können. Aber vor allem muss sie eine Idee davon haben, wie und zu welchem Zweck sie die verschiedenen Wählergruppen überhaupt zusammenbringen will. Ansonsten droht ihr als Volkspartei ein massiver Bedeutungsverlust, wie ihn klassische Parteien in Italien und Frankreich bereits hinnehmen mussten.Eine Partei, die sich als Volkspartei begreift, muss wissen, aus welchen Schichten, Milieus und Interessengruppen sich das Volk zusammensetzt.Die Diskussion über das Konzept der Volkspartei reicht zurück bis ins Kaiserreich. Bereits in einem Aufsatz von 1905, veröffentlicht in den Sozialistischen Monatsheften, hat Eduard Bernstein die Frage aufgeworfen: „Wird die Sozialdemokratie Volkspartei?“ Anlass war eine empirische Studie über die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wähler. Demnach hatte der Erfolg der parlamentarischen Arbeit der SPD dazu geführt, dass immer mehr Wähler aus dem bislang als bürgerlich verschmähten Lager stammten. Dazu zählten vor allem Handwerker, Kaufleute, Beamte, Angestellte und Gewerbetreibende. Für die Marxisten in der Partei, die allein dem eigentumslosen Industrieproletariat die gesellschaftliche Umwälzung zutrauten und insbesondere die Kleinbürger für reaktionär hielten, war das ein Problem. Manche Parteifunktionäre machten sich Sorgen, dass die neuen Wählerschichten die Partei verändern und ihre Überzeugungen verwässern könnten. Heute würde man sagen, die SPD drohte, ihren Markenkern zu verlieren.Im Unterschied zur Parteiführung unter August Bebel, der die Befürchtungen mit der falschen Vorhersage abtat, die Proletarisierung der Gesellschaft werde sich unablässig fortsetzen, befürwortete Bernstein den Wandel zur Volkspartei. Er argumentierte, dass sich seit der Gründung der Partei nicht nur die Gesellschaft erheblich modernisiert hätte, sondern auch der Volksbegriff selbst seit einiger Zeit eine deutliche Veränderung durchmachen würde. Unter Volk verstand Bernstein die demokratischen Massen, die sich im Kaiserreich zunehmend von der Obrigkeit abgrenzten. Während einflussreiche Parteistimmen eine Verelendung der Bevölkerung als Garant für den Fortbestand der Partei geradezu herbeizusehnen schienen, sah Bernstein in der Zustimmung unterschiedlicher Bevölkerungsschichten zu den sozialdemokratischen Zielen die Zukunft der Partei vorgezeichnet. Zunächst von den Parteilinken als Revisionist heftig kritisiert, hat Bernstein die SPD so aus den Grabenkämpfen des 19. Jahrhunderts befreit und als maßgebliche Partei der modernen Gesellschaft neu erfunden.Im Godesberger Programm (1959-1989) hat die SPD ihren Werdegang von einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes im Rahmen der gesellschaftlichen Modernisierung selbst nachvollzogen. Nun bildete nicht mehr wie im 19. Jahrhundert die Verelendung der Massen, sondern im Gegenteil die gesellschaftliche Prosperität den Hintergrund ihrer Legitimation: „Sie [die SPD] will die Kräfte, die durch die industrielle Revolution und durch die Technisierung aller Lebensbereiche entbunden wurden, in den Dienst von Freiheit und Gerechtigkeit für alle stellen.“ Die SPD verstand sich als diejenige politische Kraft, die dafür zuständig war, dass der gesellschaftliche Fortschritt auch allen zugutekam, vor allem denjenigen, die nicht selbst dafür sorgen konnten. Im Berliner Programm (1989-2007) wird dieser Werdegang der Partei noch einmal bekräftigt, dieses Mal mit einem Zusatz zur Abgrenzung von der christdemokratischen Volkspartei: „Die Sozialdemokratische Partei stellte sich in Godesberg als das dar, was sie seit langem war: die linke Volkspartei. Sie wird es bleiben.“In sehr unterschiedlichen Gesellschaften weltweit scheint sich nach dem Ende der bisherigen Globalisierung die Frage nach dem Verständnis von Nation neu zu stellen.Wie die Gesellschaft insgesamt hat sich auch der Volksbegriff seitdem verändert. Jedes Grundsatzprogramm der SPD muss diesen Zusammenhang im Verständnis ihrer Rolle als Volkspartei nachvollziehen und neu bestimmen. Auch im Hamburger Programm (seit 2007) begreift sich die SPD als linke Volkspartei, die neben ihren traditionellen Quellen „wichtige Impulse der Frauenbewegung und den neuen sozialen Bewegungen“ zu verdanken hat. Den Hintergrund für dieses Selbstverständnis bildete nun die gesellschaftliche Vielfalt, die als Resultat der Liberalisierung der Gesellschaft und der Einwanderungspolitik der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten aufgefasst wurde: „In ihr [der SPD] arbeiten Frauen und Männer unterschiedlicher Herkunft, verschiedener religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammen.“ Sich als Volkspartei zu verstehen, bedeutete jetzt für die SPD, die Vielfalt ihrer Wählergruppen zu betonen, die sich auch unmittelbar in der Partei abbilden sollte.In den letzten Jahren hat sich allerdings nicht nur die weltpolitische Lage dramatisch verändert, sondern auch die innenpolitische Stimmung, und zwar nicht bloß in Deutschland. Wie in der Zeit des Umbruchs nach dem Fall der Berliner Mauer wirkt sich die aktuelle Krise des globalen Liberalismus massiv auf die gesellschaftliche Entwicklung aus. Während die Zäsur von 1989 jedoch ein Anlass für Optimismus im Hinblick auf eine mögliche Weltgesellschaft war, erleben wir heute dagegen eine identitätspolitische Wende im globalen Maßstab. In sehr unterschiedlichen Gesellschaften weltweit scheint sich nach dem Ende der bisherigen Globalisierung die Frage nach dem Verständnis von Nation neu zu stellen. Nicht wenige Länder sind auf der Suche nach ihrer Position in der neu entstehenden Weltordnung. Es ist daher auch nicht überraschend, dass der Volksbegriff in Deutschland erneut zum Schauplatz einer intensiven Auseinandersetzung geworden ist. Die klassischen Volksparteien haben es heute überall mit populistischen Versionen ihres Konzepts zu tun, die sich als starke Stimme eines vermeintlich eigentlichen Volks begreifen.Ein zukünftiges Grundsatzprogramm der SPD muss ihr Selbstverständnis als Volkspartei im Kontext dieser globalen Problemlage neu ausformulieren. Nur wenn es der Partei gelingt, das neue Paradigma der Zeitenwende in seiner Tiefe zu begreifen, kann sie auch gegen die populistische Konkurrenz bestehen, und zwar sowohl von rechts und als auch von links. Die Schwierigkeit wird sein, sich in einer Zeit bewähren zu müssen, deren hervorstechendes Merkmal die gesellschaftliche Selbstbehauptung sein wird. Vieles wird von der Fähigkeit der Partei abhängen, angesichts tiefgreifender geopolitischer, ökologischer und technologischer Umbrüche den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu organisieren, von der kommunalen bis zur nationalen Ebene. Ein Vorbild dafür können die Integrationsmaßnahmen der skandinavischen Sozialdemokratie sein. Gerade als Partei der Bürgermeister muss die SPD unter Beweis stellen, dass die moderne Gesellschaft über ausreichend Integrationskraft verfügt, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein. Nur so kann sie das Vertrauen in eine effiziente sozialdemokratische Staatskapazität zurückgewinnen, das ihr im letzten Jahrhundert so viele unterschiedliche Wähler zugeführt hat.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal