Kann das weg?

22.05.25 11:00 Uhr

Bündnisse zwischen Staaten werden selten alt. Ob Völkerbund, Protestantische Union, Dreikaiserbund oder Heilige Allianz – meist gingen die Partner nach wenigen Jahren im Streit auseinander. Die Vereinten Nationen (UN) können also stolz sein, wenn sie in diesem Jahr den 80. Jahrestag ihrer Gründung begehen. Doch zu diesem Jubiläum erlebt die internationale Staatengemeinschaft die Wiederkehr jener Phänomene, gegen die sie sich einst zusammengeschlossen hatte: Großmachtpolitik, Imperialismus, territoriale Expansion, Regellosigkeit und Vertrauenserosion.Zugleich sieht die Welt einen Zuwachs all jener Herausforderungen, welche Kofi Annan als „Problems without Passports“ bezeichnet hat und die eigentlich mehr statt weniger Zusammenarbeit zwischen den Staaten nötig machen: Klimawandel, Pandemien, Staatszerfall, Armut und Ungleichheit, Flüchtlingsbewegungen und Krieg. So scheinen die UN an ihrem runden Geburtstag in einem Teufelskreis gefangen zu sein. Geopolitische Rivalität führt innerhalb der UN zu Handlungsunfähigkeit und Reformblockaden. So wird die internationale Verständigung durch zunehmende nationale Alleingänge und Konflikte unterminiert. Zu allem Überfluss drehen die reichsten Mitgliedstaaten, allen voran die USA, den ohnehin unterfinanzierten Vereinten Nationen den Geldhahn zu. In der Folge werden lebensrettende Programme auf der ganzen Welt eingestellt und tausende Mitarbeiter entlassen. Es führt kein Weg an der Diagnose vorbei: Das multilaterale System mit den Vereinten Nationen im Zentrum ist existenzbedroht.Doch mit dem Multilateralismus ist es wie mit einer Sehne im Körper: Erst wenn sie plötzlich reißt, wird klar, wie unersetzlich sie für jede Bewegung ist. Die Vereinten Nationen bildeten 80 Jahre lang den Bewegungsapparat für die internationale Staatengemeinschaft – und er funktionierte eindrucksvoll.  Friedlich war die Welt auch nach 1945 nicht. Millionen Tote in über 250 bewaffneten Konflikten zeugen davon. Dennoch hat die UN maßgeblich dazu beigetragen, ein Regelwerk zu schaffen, das die bislang längste Phase ohne Krieg zwischen Großmächten in der modernen Geschichte ermöglichte. Vom Menschenrechtsschutz bis zum humanitären Völkerrecht, von der Ächtung grausamer Waffensysteme bis zur Bekämpfung von Pandemien und Krankheiten, vom Flüchtlingsschutz bis zu Kernarbeitsnormen – mit ihrem differenzierten System von Konventionen, Verträgen, Programmen und Sonderorganisationen haben die Vereinten Nationen Millionen Tote verhindert, Millionen Leben gerettet und das Leben von Milliarden Menschen einfacher und sicherer gemacht.Für Herausforderungen, die Staaten nicht allein bewältigen können, werden globale Institutionen geschaffen.Macht ist immer noch der entscheidende Faktor in der internationalen Politik. Dank der Vereinten Nationen ist es aber nicht mehr die unkontrollierte und rechenschaftslose Macht, die die Staaten vor 1945 kannten. Erstmalig in der Menschheitsgeschichte ist es durch die UN gelungen, dem Recht des Stärkeren und der Logik des Nullsummenspiels ein anderes Leitbild für die Beziehungen zwischen Staaten entgegenzusetzen. Für Herausforderungen, die Staaten nicht allein bewältigen können, werden globale Institutionen geschaffen. Mitunter bedeutet das, sich zu verpflichten – im Extremfall sogar, ein Stück Souveränität abzugeben. Der daraus resultierende Zugewinn an Handlungsfähigkeit, Stabilität und Verlässlichkeit wiegt jedoch schwerer und dient letztlich dem eigenen nationalen Interesse. Diese Idee trägt einen Namen: Multilateralismus. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stand im Zeichen dieses Prinzips.Dieses System war nicht das Ergebnis von Verhandlungen zwischen freien und gleichen Staaten. Eine internationale Ordnung entsteht erst durch den politischen Willen einflussreicher Mächte, sie zu errichten und zu entwickeln. Über Jahrzehnte verfolgten die USA als größte Macht des 20. Jahrhunderts die multilaterale Strategie, andere Staaten an globale Regeln zu binden, die Washington wesentlich mitbestimmt. Dadurch gewannen die USA Partnerschaften, Einfluss, Marktzugänge und Gefolgschaft, und sie waren fähig, Probleme einzuhegen, bevor sie dem eigenen Land gefährlich werden konnten.Dieser westlich geprägte Multilateralismus sorgte nicht nur für ein umfassendes politisches Regelungssystem, sondern beförderte zugleich eine wirtschaftliche Hyperglobalisierung. Zwischen 1950 und 2020 wuchs die Weltwirtschaft um circa 3,5 Prozent pro Jahr. Hinter dieser Zahl stecken enorme Wohlstandsgewinne, auch für Regionen, die zuvor jahrhundertelang unter Kolonialismus und Ausbeutung gelitten hatten. Doch diese Dynamik erzeugte auch dramatische Umwälzungen, die Verlierer hervorbrachten, Krisen produzierten, Ungleichheiten verstärkten und die Überlastungsgrenzen des Planeten weit überschritten – kurz: Sie beförderten zugleich all jene grenzüberschreitenden Probleme, die wiederum nur mittels internationaler Regeln gelöst werden können.Der westlich dominierte Multilateralismus war insbesondere aus Sicht von Ländern des Globalen Südens immer selektiv, ineffizient und kritikwürdig. Aber durch ihn gelang es, fast alle Staaten, auch die Mächtigsten, an gemeinsame Regeln zu binden: ein historisches Novum in der Menschheitsgeschichte. Doch nun scheinen ausgerechnet die USA bereit zu sein, die Ordnung zu verlassen, die sie selbst maßgeblich geschaffen haben. Damit steht die UN vor der größten Zäsur seit 80 Jahren. Andere Staaten haben jetzt die Wahl, diese Ordnung gleichfalls zu verlassen oder sie neu zu erfinden. Dabei ergibt sich eine bislang nie gestellte Frage: Kann es eine multilaterale Ordnung in einer multipolaren Welt geben?Die Antwort lautet: Ja. Denn die Voraussetzungen sind gut: Die überwältigende Mehrheit der Staaten möchte eine regelbasierte Ordnung und stützt die Prinzipien der UN-Charta, auch wenn sie sich gegen deren selektive Anwendung wehrt. Das gilt es zu nutzen – beispielsweise durch ein Bündnis der Mittelmächte. Wenn sich 20 große und dem Multilateralismus verpflichtete Mittelmächte von allen Kontinenten zusammenfinden, haben sie genug Gewicht, um das Konzert der Großmächte zu verhindern und die multilaterale Ordnung zu stärken. Es braucht kluge, themenspezifische Reformallianzen zwischen Nord und Süd, zwischen kleinen und großen Staaten, um Fortschritte in den kritischen Bereichen – Finanzen, Schulden, Klima und Handel – zu erzielen.Westliche Staaten müssen lernen, dass Multilateralismus und Liberalismus nicht dasselbe sind.Westliche Staaten müssen allerdings lernen, dass Multilateralismus und Liberalismus nicht dasselbe sind. Es ist möglich, multilateral und regelbasiert zusammenzuarbeiten, ohne dass ausschließlich westliche Staaten den Ton angeben. Die sogenannte liberale Ordnung ist schwach, weil westliche Demokratien Ausstrahlungskraft verloren haben. Und weil der von ihnen jahrzehntelang propagierte Neoliberalismus Mensch und Natur weltweit in einen Erschöpfungszustand gebracht hat. Dem Gemeinwohl, den gemeinsamen globalen Gütern und den Entwicklungsanforderungen der weniger entwickelten Länder wird man eine andere Priorität einräumen müssen, wenn man Gesellschaften und Staaten weiterhin für Fortschritt, Demokratie und internationale Kooperation gewinnen möchte.Darüber hinaus muss Außenpolitik der Tatsache Rechnung tragen, dass Multilateralismus künftig komplexer sein wird. Uneingeschränkte Lagerzugehörigkeiten werden zur Ausnahme. Äquidistanz, abgestufte Partnerschaften, sich überlagernde und auch widersprüchliche Allianzen werden die Außenpolitik vieler Staaten bestimmen. Dies übersetzt sich in die wachsende Bedeutung von „Minilaterals“, von regionalen Organisationen, und informellen Zusammenschlüssen.Multilaterale Politik muss gleichermaßen pragmatisch und prinzipiengeleitet sein, um in dieser Welt zu navigieren. Sie muss pragmatisch sein, da das schablonenhafte Einteilen der Welt nicht mehr funktioniert. Sie muss prinzipiengeleitet sein, indem sie die UN-Charta zum obersten gemeinsamen Bezugspunkt aller multilateralen Abstimmungen macht.Die entscheidende Frage ist, inwieweit die Mitgliedstaaten es den UN erlauben, finanziell, organisatorisch und politisch legitim und effizient aufzutreten. Dies ist zentral dafür, ob die UN den gemeinsamen Nenner des vernetzten Multilateralismus des 21. Jahrhunderts bilden werden. Werden die UN weiterhin politisch blockiert und finanziell ausgetrocknet, droht der Welt im besten Fall ein fragmentierter, minilateraler Flickenteppich. Und im schlechtesten Fall ein Abgleiten in die brutale Regellosigkeit der Zeit vor 1945. In jenem Jahr haben die Staaten die UN gegründet, um aus den Trümmern einer alten Welt eine neue Ordnung zu schaffen. Seither halten die Vereinten Nationen der Staatengemeinschaft einen Spiegel vor und zeigen ihr beide Gesichter: wie die Welt ist und wie sie sein könnte. Gerade darin liegt ihre ungebrochene, mobilisierende Kraft. Die UN besitzen die Fähigkeit, im zermürbenden Alltag internationaler Politik das Bild einer möglichen Zukunft sichtbar zu machen. Und genau deshalb sind die Vereinten Nationen seit ihrer Gründung immer auch eine Enttäuschung – weil sie zugleich eine Hoffnung sind.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal