Manifester Unsinn

12.06.25 17:20 Uhr

Das jüngste Manifest der SPD-Friedenskreise sorgt für große Aufmerksamkeit. Mit ihrer Kritik an der Aufrüstungspolitik der Bundesregierung treffen die Autoren einen Nerv. Doch eine genauere Analyse zeigt auf, dass einige sicherheitsrelevante Aspekte in dem Dokument nicht berücksichtigt wurden.In dem sechsseitigen Dokument äußern zahlreiche bekannte Sozialdemokraten, darunter Ralf Stegner und Rolf Mützenich, deutliche Kritik an der Sicherheitspolitik der Bundesregierung. Anstelle von „hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung“ seien Gespräche mit Russland gefragt.Die Unterzeichner des Manifests sehen keine Notwendigkeit für massive Investitionen in die Bundeswehr. „Tatsächlich sind allein die europäischen NATO-Mitgliedsstaaten – auch ohne US-Streitkräfte – Russland konventionell militärisch deutlich überlegen“, heißt es in dem Papier. Große Aufrüstungsprogramme und eine alarmistische Rhetorik erhöhten demnach nicht die Sicherheit Deutschlands und Europas, sondern trügen vielmehr zur Destabilisierung und zu einer verstärkten Bedrohungswahrnehmung zwischen NATO und Russland bei.Tatsächlich ist Russland der NATO derzeit militärisch deutlich unterlegen. In einer direkten Konfrontation hätte Moskau aktuell kaum eine Chance, sich gegen das Bündnis durchzusetzen. Allerdings rechnet kaum jemand mit einem russischen Angriff auf die NATO in naher Zukunft. Vielmehr sind sich zahlreiche westliche Verteidigungsminister und Geheimdienste einig, dass ein solches Szenario frühestens in einigen Jahren denkbar ist – und dass Russland sich gezielt darauf vorbereitet.Laut NATO-Generalsekretär Mark Rutte produziert Russland bereits jetzt in drei Monaten so viel Munition wie die gesamte Militärallianz in einem Jahr.Verteidigungsminister Boris Pistorius und General Carsten Breuer erklärten beispielsweise, dass die Bundeswehr im Jahr 2029 auf ein solches Szenario gewappnet sein sollte: Der scheidende BND-Chef Bruno Kahl spricht davon, dass Russland spätestens im Jahr 2030 in der Lage sein werde, einen NATO-Staat anzugreifen. Die Möglichkeit eines solchen Angriffs in den kommenden fünf bis zehn Jahren (in seltenen Fällen auch in 20 Jahren) wird auch von den Geheimdiensten anderer Länder explizit thematisiert, darunter Dänemark, Estland und Lettland.Laut NATO-Generalsekretär Mark Rutte produziert Russland bereits jetzt in drei Monaten so viel Munition wie die gesamte Militärallianz in einem Jahr. Einem Bericht des International Institute for Strategic Studies zufolge investiert Russland aktuell mehr in seine Rüstungsindustrie als alle europäischen NATO-Staaten zusammen. Dies entspricht 6,7 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts.Für eine entsprechende Gegenreaktion der europäischen Staaten sieht das Manifest allerdings keinen Handlungsbedarf: „Für eine auf Jahre festgelegte Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 oder fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts gibt es keine sicherheitspolitische Begründung.“Doch diese Begründung existiert sehr wohl. Die vergangenen Jahre haben deutlich gemacht, wie sehr Europa in sicherheitspolitischen Fragen von den USA abhängig war. Diese Zeiten sind jedoch vorbei. Im Februar 2024 erklärte Donald Trump öffentlich, er werde NATO-Staaten, die nicht ausreichend in Verteidigung investierten, im Falle eines russischen Angriffs nicht zur Seite stehen. „Nein, ich würde euch nicht beschützen – im Gegenteil, ich würde [Russland] ermutigen, zu tun, was sie wollen. Ihr müsst zahlen“, so der US-Präsident. Trump macht keinen Hehl daraus, dass er den Verteidigungsbeitrag der NATO-Staaten bei fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts sieht.Anstelle der fortdauernden Konfrontationspolitik mit Russland seien mehr Gespräche vonnöten: „Dazu brauchen wir eine Intensivierung der diplomatischen Anstrengungen aller europäischen Staaten. Die Unterstützung der Ukraine in ihren völkerrechtlichen Ansprüchen muss verknüpft werden mit den berechtigten Interessen aller in Europa an Sicherheit und Stabilität“.Niemand sehnt sich mehr nach einem schnellen Frieden als die Ukrainer selbst. Die Autoren des Manifests lassen jedoch offen, wie genau eine „Intensivierung der diplomatischen Anstrengungen“ konkret aussehen soll. Das erscheint umso herausfordernder angesichts der aktuellen Haltung Moskaus: Russland lehnt eine Waffenruhe weiterhin strikt ab und beharrt stattdessen auf der Abtretung weiterer ukrainischer Gebiete. Selbst US-Vizepräsident J.D. Vance, dem man keine besondere Nähe zu Präsident Wolodymyr Selenskyj nachsagen kann, erklärte, Russland verlange in den bisherigen Gesprächen „zu viel“. Statt einer Deeskalation haben die jüngsten Verhandlungen vielmehr zur Eröffnung einer neuen Front im nordöstlichen Oblast Sumy geführt.Diplomatie und Dialog sind unverzichtbar, doch sie entfalten nur dann Wirkung, wenn sie mit Stärke und Entschlossenheit einhergehen.In Zeiten, in denen der Vizechef des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Dmitri Medwedew davon spricht, die baltischen Staaten seien Provinzen Russlands, Putins Berater Anton Kobyakov meint, die Sowjetunion würde rechtlich weiterhin fortbestehen, und der Präsident selbst sagt, er würde ähnlich wie Zar Peter I. die historischen Territorien Russlands zurückholen, erscheint es wenig wahrscheinlich, dass sich Russland dauerhaft mit den bisherigen Gebietsgewinnen in der Ukraine zufriedengeben wird.Ein Blick zurück auf den Dezember 2021 zeigt: Russlands Ultimatum vor der Invasion der Ukraine umfasste weit mehr als nur die Forderung nach einem Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Eine der zentralen Forderungen des Kremls bestand darin, die NATO-Militärinfrastruktur auf den Stand von 1997 zurückzuführen – ein Anliegen, dem die westliche Militärallianz erwartungsgemäß nicht nachgekommen ist.Wenn ein US-Präsident wie Donald Trump offen erklärt, er werde europäische Staaten im Falle eines russischen Angriffs nicht schützen – sofern diese nicht ausreichend in ihre Verteidigung investieren –, und wenn Verteidigungsminister Pete Hegseth die Sicherheit Europas nicht länger als zentrale Priorität der US-Außenpolitik einstuft, eröffnet sich für Russland eine historische Gelegenheit, seine langfristigen strategischen Ziele militärisch zu verfolgen. Die einzige realistische Möglichkeit, einem solchen Szenario entgegenzuwirken, besteht in einer deutlichen Erhöhung der europäischen Verteidigungsausgaben.Zur Erinnerung: Die Geheimdienste der USA und Großbritanniens warnten im Vorfeld kontinuierlich vor einer bevorstehenden russischen Invasion der Ukraine. US-Präsident Joe Biden betonte noch im Februar 2022 mehrfach seine Bereitschaft zu Gesprächen mit dem russischen Präsidenten – auch wenige Tage vor dem Einmarsch. Doch nicht alle nahmen diese Warnungen gleichermaßen ernst. Vor allem jene, die heute Verhandlungen fordern, spielten die Gefahr damals herunter und warfen dem Westen Säbelrasseln vor.Diplomatie und Dialog sind unverzichtbar, doch sie entfalten nur dann Wirkung, wenn sie mit Stärke und Entschlossenheit einhergehen. Das entsprach übrigens auch dem Verständnis von Willy Brandt, der großen Wert darauf legte, dass seine Entspannungspolitik von den USA mitgetragen wurde – und der die Rüstungsausgaben in seiner Amtszeit von 3,2 auf 3,4 Prozent des Bruttosozialprodukts erhöhte. Ohne glaubwürdige Abschreckung und eine Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit bleibt ein dauerhafter Frieden in Europa kaum erreichbar.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal