Mission: Innovation
Als Johannes Gutenberg in den 1440er Jahren die Druckerpresse erfand, war das gleich in zweifacher Hinsicht revolutionär. Zum einen war er der Erste, der bewegliche Lettern aus gegossenem Metall herstellte. Die Innovation, die aber wirklich alles veränderte, war, dass er diese neue Technologie mit einer Drucktechnik kombinierte, die seit Jahrhunderten schon bei der Herstellung von Olivenöl und Wein genutzt wurde.So wurden aus einer einzigen Erfindung praktisch zwei. Das Potenzial zur Massenproduktion war schon damals offensichtlich: Eine einzige Druckerpresse konnte an einem Tag produzieren, wofür ein Team von erfahrenen Schreibern Wochen oder sogar Monate gebraucht hätte. Ideen ließen sich so viel schneller verbreiten. Dies war der Ausgangspunkt für die wissenschaftliche und industrielle Revolution sowie für den intellektuellen wie materiellen Fortschritt, der darauf folgte.Im englischsprachigen Raum werden große Innovationen wie diese heute als Gutenberg moments bezeichnet: Momente, in denen eine neue Technologie alles verändert und disruptive Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft hat.Einige Jahrhunderte später könnte Künstliche Intelligenz der Gutenberg-Moment unserer Zeit werden: Sie verspricht etwa bahnbrechende Fortschritte in den Biomedizinwissenschaften, der Weltraumforschung und im Bereich alternativer Energien. Um diesen Zeitpunkt in unserer eigenen Lebzeit angemessen einzuordnen und zu verstehen, müssen wir anerkennen, dass es bei der Geschichte Johannes Gutenbergs nicht nur rasante Fortschritte gab. Vielmehr ist es eine Geschichte darüber, wie dieser Fortschritt an vielen Punkten beinahe zum Stillstand gebracht worden wäre.Von Anfang an stieß die Druckerpresse auf heftigen Widerstand. Man denke nur an die Angst der Schreiber, die ihren Lebensunterhalt mit dem Kopieren religiöser Texte verdienten. Die schnell und in außergewöhnlicher Qualität hergestellten Gutenberg-Bibeln stellten eine existenzielle Bedrohung für ihren Beruf, ihre Identität und ihren Platz in der Welt dar.In diesem Moment wurde Johannes Fust als ein früher Investor in Gutenbergs Projekt aktiv: Er reiste mit einer Ladung frisch gedruckter Bibeln nach Paris und gab sich zuversichtlich, dass lokale Klosterseminare, Gelehrte und religiöse Orden die Gelegenheit nutzen würden, diese exquisiten Bände zu erwerben. Doch die Resonanz war nicht so, wie er sich erhofft hatte. Die Zunft der Schreiber tuschelte misstrauisch. Jede Seite, jede Zeile, jeder Buchstabe war so perfekt und so einheitlich, so wunderschön präzise, dass kein menschliches Wesen sie hätte erstellen können, glaubten sie. Aus dem Tuscheln wurden bald Hexerei-Anschuldigungen – keine Kleinigkeit im 15. Jahrhundert. Eine Anklage wegen Hexerei bedeutete oft Gefängnis, Folter und nicht selten die Hinrichtung durch Erhängen oder Verbrennen auf dem Scheiterhaufen. So gesehen hatte Fust Glück, dass er lediglich aus der Stadt gejagt wurde.Schreibergilden bezeichneten Drucker als Ketzer und organisierten Aktionen, um ihre Werke zu vernichten.Ähnliche Szenen spielten sich in ganz Europa ab. Schreibergilden bezeichneten Drucker als Ketzer und organisierten Aktionen, um ihre Werke zu vernichten und die Druckerpressen zu sabotieren. Oft schlossen sich lokale Behörden den Gilden an, zerstörten Druckerpressen oder verboten sie gänzlich. Im heutigen Italien wurde mit einer Polemik gegen den Buchdruck an die venezianische Magistratur appelliert, die neue Technologie zu verbieten.Das Ziel war nach eigenen Angaben nicht nur, die Schreiber vor dem wirtschaftlichen Ruin zu bewahren, sondern auch, ehrenwerte Damen und Herren vor dem moralischen Sündenfall zu schützen. Eine Ironie der Situation entging den meisten: Um eine rasche Verbreitung zu gewährleisten, vervielfältigten die damaligen Anti-Drucker-Aktivisten ihre Polemik ausgerechnet mit einer Gutenberg-Druckerpresse. Wie dem auch sei, die Grundaussage ist eindeutig: Stabilität ist ein wichtiges Gut. Personen, die Wandel vorantreiben, verursachen Chaos und sind Feinde der rechten Ordnung.Schnellere Informationsflüsse und niedrigere Barrieren beim Zugriff auf Massenkommunikationskanäle haben in der Geschichte des Öfteren für Angst gesorgt. Die technologischen Umbrüche könnten für Regierungen, Behörden und andere Institution ein Problem werden und die bestehende Ordnung gefährden. Diese Befürchtungen waren auch oft nicht unbegründet. So haben neue Technologien wie die Druckerpresse, die Telegrafie, das Radio, das Fernsehen und das Internet tatsächlich dazu beigetragen, die Macht etablierter Autoritäten zu schwächen. Zu Zeiten Gutenbergs war es für die meisten Menschen allerdings schwer vorstellbar, wie aus solchen (Um-)Brüchen letztendlich eine erneuerte Ordnung sowie Fortschritt entstehen könnten.Heute stehen wir einer neuen Technologie gegenüber, die sich mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt: Künstliche Intelligenz. Plötzlich verfassen Chatbots flüssige, schlüssige Essays, generative Modelle erzeugen täuschend echte Bilder, und neue Algorithmen verändern binnen weniger Monate ganze Branchen. Eine alte Angst kehrt in neuer Gestalt zurück. Menschen fragen sich: Wird KI mich ersetzen? Können wir Wahrheit noch von Fiktion unterscheiden? Und ist sie womöglich eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit? Das sind berechtigte und wichtige Fragen. Doch es besteht eine reale Gefahr, dass die Risiken überbewertet werden und gleichzeitig das unglaubliche Potenzial der neuen KI-Generation unterschätzt wird.Wie einst die Druckerpresse senkt auch die Künstliche Intelligenz die Hürden für Innovation, etwa bezüglich der Zeit, der Arbeit oder der Kosten. Kreative und Wissenschaftler, die neue Wege beschreiten wollen, umgehen zunehmend die teuersten und zeitaufwändigsten Aspekte ihrer experimentellen Arbeit, sei es bei neuen Entwürfen im Modedesign oder in der biomedizinischen Forschung. Sie können die bestehenden hochentwickelten technischen Fähigkeiten ausbauen und nun auf KI zurückgreifen, um Hürden zu überwinden und Ideen schneller auf den Markt zu bringen.Genau wie die Druckerpresse verspricht KI, die menschliche Arbeitsleistung insgesamt zu steigern, statt sie zu verringern.Genau wie die Druckerpresse, die es führenden Intellektuellen damals ermöglichte, die Res publica literaria oder die Royal Society zu gründen, senkt KI die Kosten für Kooperation drastisch. Man stelle sich das menschliche Potenzial vor, das freigesetzt würde, wenn Sprachbarrieren nicht mehr existieren und Kreative, Erfinder und Problemlöser weltweit direkt und frei miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten könnten. Es stimmt: Genau wie die Druckerpresse wird KI bestimmte Aspekte der menschlichen Arbeit überflüssig machen. Doch genau wie die Druckerpresse verspricht KI, die menschliche Arbeitsleistung insgesamt zu steigern, statt sie zu verringern.Es ist schwer vorherzusagen, welche konkreten KI-Anwendungsmöglichkeiten sich letztlich durchsetzen werden, aber genau darum geht es ja: Es liegt in der Natur von Innovationen wie der Gutenberg-Presse, dass sie eine Flut neuer Ideen und neuer Methoden zur Lösung alter Probleme und neuer Wege zur Nutzung der großen kreativen Kraft des menschlichen Erfindungsreichtums hervorbringen. Gutenberg hätte sich kaum vorstellen können, wie sein einfaches mechanisches Gerät den Lauf der Zivilisation auf den Kopf stellen und letztlich den Weg für unsere moderne Welt mit ihrem fast schon wundersamen Überfluss ebnen würde. Ganz zu schweigen von der weit verbreiteten Alphabetisierung, der Aufklärung und dem Entstehen des Liberalismus.Es mag weit hergeholt erscheinen, ChatGPT und seine Konkurrenten mit den epochalen Veränderungen zu vergleichen, die die Druckerpresse letztendlich mit sich brachte. Dabei ähneln viele seiner Fähigkeiten dem, was auch Gutenberg der Welt gegeben hatte: KI erleichtert die Produktion und Verbreitung von Informationen, sei es für einzelne Nutzer oder für ein Massenpublikum. Sie fördert unsere kollektive Fähigkeit, zu entdecken und zu erfinden. Ebenso senkt sie die Kommunikationsbarrieren über Sprachen, Disziplinen und technische Kompetenz hinweg.Das Motiv der unheimlich intelligenten Maschinen, die uns Menschen aus Fleisch und Blut ersetzen, dominieren oder sogar vernichten werden, ist ein Dauerbrenner in der Science-Fiction. HAL 9000, Isaac Asimovs Roboter oder die Zylonen in Kampfstern Galactica – all diese Figuren und Geschichten zeigen die sehr menschliche Neigung, sich Worst Case-Szenarien auszumalen. Und in gewisser Hinsicht ist das gut so. Wir brauchen Fantasie, um mögliche Risiken vorauszusehen. Wir müssen uns nur an die Terroranschläge vom 11. September 2001, den schlechten Zustand der Deiche in New Orleans in den Jahren vor dem Hurrikan Katrina oder an das globale Versagen – trotz wiederholter Warnungen von Epidemiologen – bei der Coronavirus-Pandemie erinnern, um zu verstehen, wie verheerend das Fehlen eines solchen Vorstellungsvermögens sein kann.Ich bin daher überaus dankbar für all jene, die sowohl über die Vorstellungskraft als auch über das technische Know-how verfügen, um KI-Sicherheitsrisiken zu antizipieren und anzugehen. Aber wie Adam Thierer vom R Street Institute argumentiert, bedeutet der Wunsch nach einer sicheren Zukunft nicht, dass wir deswegen jegliche Innovation unterbinden müssen. Stattdessen sollten wir eine „positive Innovationskultur“ fördern, in der KI nicht standardmäßig als gefährlich eingestuft wird, bis ihre Sicherheit bewiesen ist. Vielmehr muss kreativen Problemlösern Freiraum gelassen werden, damit sie handeln können, wenn reale Gefahren oder Schäden drohen und absehbar sind.Bei Innovation entstehen Hochleistungslösungen eher aus dezentralen, bottom-up-orientierten Versuchen und experimentellen Ansätzen.Und selbst wenn tatsächlich solche Schäden auftreten, ist eine positive Innovationskultur die Grundlage, die wir brauchen, um diese Schäden zu beheben. Bei Innovation – insbesondere in einem wettbewerbsintensiven Umfeld mit vielen neuen Marktteilnehmern – entstehen Hochleistungslösungen eher aus dezentralen, bottom-up-orientierten Versuchen und experimentellen Ansätzen. Wo sie zugelassen sind, überarbeiten KI-Unternehmen bereits heute ihre Content-Richtlinien, verfeinern Sicherheitsvorkehrungen und aktualisieren stetig ihre Beschränkungen und Maßnahmen, um Missbrauch zu verhindern.Für diejenigen von uns, die nicht in der Spitzenforschung im Bereich KI tätig sind, sollten Roboter, welche die Macht übernehmen, oder auch internationale Cybersicherheitsprobleme wahrscheinlich nicht die größten Sorgen sein. Wie Tyler Cowen und Avital Balwit vom US-Techunternehmen Anthropic schreiben, wird unsere größte Herausforderung vielmehr darin bestehen, eine potenzielle Sinnkrise zu bewältigen. Diese werde entstehen, wenn wir feststellen müssen, dass viele Dinge, auf die wir stolz sind, von KI besser gemacht werden können. Tyler merkt an: „Die besten KI-Modelle sind bessere Ökonomen als ich – zumindest in einer Hinsicht, nämlich beim Beantworten von Fragen. Sie sind nicht besser darin, Studierende zu begeistern, und sie sind auch nicht besser darin, Fragen zu stellen. Zumindest noch nicht. Aber ich halte es für den grundlegenden Teil meiner Arbeit, mich mit Wirtschaft auszukennen und Fragen zur Wirtschaft zu beantworten. Wenn eine andere Instanz mich in dieser Aufgabe übertreffen kann, muss ich überdenken, was ich tue. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch einige meiner anderen Vorteile wegfallen.“Wenn Cowen und Balwit Recht haben – dass unser heutiger Gutenberg-Moment eine Sinnkrise mit sich bringen wird –, dann befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie die Schreiber damals. Daraus ergibt sich die Frage: Werden wir am Status quo festhalten und die von unserem Job geprägten Identitäten wie zerbrechliche Relikte bewahren? Oder werden wir das tun, was die Klügeren unter ihnen letztendlich getan haben: uns anpassen, weiterentwickeln und die neuen Tools nutzen, um das zu verbessern, was uns einzigartig menschlich macht?Die Druckerpresse hat das geschriebene Wort nicht vernichtet, sondern demokratisiert. KI wird unseren menschlichen Stellenwert nicht auslöschen, es sei denn, wir beharren darauf, dass dieser Wert nur darin besteht, weiterhin das zu tun, was Maschinen inzwischen besser können. Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist nicht rein technischer oder ökonomischer Natur. Im Kern geht es um unsere Vorstellungskraft – und darum, ob wir sie nutzen, um protektionistische Mauern zu errichten oder die Türen für Innovationen zu öffnen.Dieser Artikel erschien zuerst im US-Onlinemagazin Persuasion.Aus dem Englischen von Tim SteinsWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal