Mit offenem Visier
Der vorläufige Ausgang der jüngsten militärischen Konfrontation zwischen Indien und Pakistan nach dem Terroranschlag im indischen Pahalgam wird von beiden Seiten sehr unterschiedlich bewertet. Militärisch scheint Indien erfolgreicher gewesen zu sein, politisch jedoch hat die Ankündigung von Präsident Trump, im Kaschmirkonflikt vermitteln zu wollen, Pakistan einen unerwarteten diplomatischen Erfolg beschert. Beide Entwicklungen haben den Konflikt nicht nur in Neu-Delhi und Islamabad, sondern auch international wieder auf die Agenda gerückt.Bei dem Terroranschlag in Pahalgam wurden am 22. April insgesamt 26 Menschen, überwiegend Hindus, getötet. Die Verantwortung übernahm zunächst die Gruppe Widerstandsfront, die laut Experten als lokaler Ableger der Terrororganisation Lashkar-e-Toiba gilt. Der schwerste Terroranschlag gemessen an der Zahl ziviler Opfer seit den Attentaten in Mumbai im Jahr 2008 bedeutete einen herben Rückschlag für die Bemühungen der Regierung von Premierminister Modi, die Lage im neuen Unionsterritorium Jammu & Kaschmir zu normalisieren. Mit der Auflösung des einzigen mehrheitlich muslimischen Bundesstaates hatte die Bharatiya Janata Party im August 2019 ein zentrales Wahlversprechen eingelöst. Zwar protestierten kaschmirische Parteien gegen die Maßnahme, die der Region weniger Autonomie zugestand, doch blieb ein größerer militanter Widerstand aus.Zuletzt hatte sich die Sicherheitslage in Kaschmir verbessert, der Tourismus nahm zu. Eine neue direkte Eisenbahnverbindung mit Neu-Delhi steht sinnbildlich für die angestrebte Integration der Region in das indische Kernland. Die Terrorattacke in Pahalgam zeigt jedoch, dass die von der Regierung angestrebte Normalisierung gescheitert ist. Indiens Vergeltungsangriff auf terroristische Infrastruktur in Pakistan im Rahmen der Militäroperation „Sindoor“ wurde von allen Parteien unterstützt. Nachdem Präsident Trump jedoch einen Waffenstillstand ankündigte und eine Vermittlung des Konflikts vorschlug, sah sich Premierminister Modi mit Kritik extrem hindunationalistischer Gruppen konfrontiert. Diese warfen ihm diplomatische Schwäche vor und forderten eine Fortsetzung der Militäroperation gegen Pakistan.Pakistan strebt seit jeher eine Internationalisierung des Kaschmirkonflikts an.In Pakistan wiederum führten Indiens Sanktionen, insbesondere die Aussetzung des Induswasservertrags, sowie der Militärschlag zu einer parteiübergreifenden Solidarisierung mit dem Militär. Innenpolitische Kontroversen, etwa der Streit zwischen der Regierung und der Oppositionspartei des inhaftierten früheren Premierministers Imran Khan, die angespannte wirtschaftliche Lage oder die Kritik an der dominierenden Rolle des Militärs, traten in den Hintergrund. Generalstabschef Asim Munir konnte in den vergangenen Monaten die ohnehin starke Stellung des Militärs weiter ausbauen. Anders als sein Vorgänger setzt er auf eine konfrontative Linie gegenüber Indien. Pakistan strebt seit jeher eine Internationalisierung des Kaschmirkonflikts an und begrüßte daher die Vermittlungsinitiative der USA.Auch nach dem Waffenstillstand vom 10. Mai ist ein dauerhafter Frieden zwischen Indien und Pakistan nicht in Sicht. Premierminister Modi erklärte, Indien habe mit der Militäroperation „Sindoor“ ein neues „Normal“ im Kampf gegen den Terrorismus etabliert. Bereits 2016 und 2019 hatte Indien mit kleineren Militäroperationen auf Terroranschläge aus Pakistan reagiert.In der ersten Angriffswelle am 7. Mai griff Indien insgesamt neun Ziele terroristischer Gruppen an, jedoch ausdrücklich keine militärischen Einrichtungen der pakistanischen Armee. Bemerkenswert waren dabei die Angriffe auf die Hauptquartiere der Lashkar-e-Toiba in Muridke und der Jaish-e-Mohammed in Bahawalpur in der Provinz Punjab. Beide Gruppen sind für eine Reihe von Terroranschlägen in Indien verantwortlich, darunter die gescheiterte Erstürmung des indischen Parlaments im Jahr 2001 und der Anschlag in Mumbai 2008, bei dem über 160 Menschen getötet wurden.Pakistan griff in seinem Gegenschlag indische Militäreinrichtungen an und löste damit eine weitreichende Eskalationsspirale aus. Nach Einschätzung von Militärexperten kam es dabei zu einer der größten Luftschlachten seit Jahrzehnten. Erstmals trafen moderne chinesische Waffensysteme auf westliche Systeme. So sollen pakistanische Kampfjets chinesischer Herkunft mindestens einen Rafale-Kampfjet der indischen Luftwaffe abgeschossen haben. Laut der New York Times waren die indischen Militärschläge nicht nur gegen die Infrastruktur terroristischer Gruppen, sondern auch gegen pakistanische Militäreinrichtungen offensichtlich erfolgreicher als die pakistanischen Gegenschläge.Die USA haben bereits in der Vergangenheit mehrfach als Vermittler in Krisen zwischen Indien und Pakistan agiert, wie etwa 1999, 2001/2002 und 2019. Auch in der aktuellen Krise waren sie der wichtigste internationale Akteur. Zunächst zeigte die US-Regierung wenig Interesse an einer Vermittlerrolle. Erst der indische Angriff auf eine Luftwaffenbasis in Rawalpindi, dem Hauptquartier der pakistanischen Streitkräfte, in dessen Nähe sich die für Nuklearwaffen zuständige Abteilung für strategische Planungen befindet, veranlasste die amerikanische Administration zum Eingreifen. Am 10. Mai verkündete Präsident Trump per Tweet einen Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien und bot an, im Kaschmirkonflikt zu vermitteln.Für Indien bedeutete die amerikanische Einmischung einen herben diplomatischen Rückschlag, für Pakistan hingegen einen unerwarteten Erfolg. Erstens lehnt Indien seit Jahrzehnten eine internationale Vermittlung im Kaschmirkonflikt ab. Zweitens dürfte das amerikanische Vorgehen die Vorbehalte in Teilen der politischen Elite in Neu-Delhi bestärken, die im Kontrast zu Russland in den USA keinen verlässlichen internationalen Partner sehen.Die öffentlichkeitswirksame Einmischung der USA stellt für Indien einen außenpolitischen Rückschlag dar.Im Unterschied zur amerikanischen Darstellung betont Indien, dass Pakistan in den bilateralen Gesprächen um einen Waffenstillstand ersucht habe. Die indische Regierung hebt zudem hervor, dass es kein nukleares Signalling durch Pakistan gegeben habe und somit kein Anlass zur Sorge vor einer atomaren Eskalation bestanden habe. Pakistan hingegen stützt die Darstellung Trumps und behauptet, Indien habe nach Gesprächen mit US-Außenminister Rubio einen Waffenstillstand vorgeschlagen. Die öffentlichkeitswirksame Einmischung der USA stellt für Indien einen außenpolitischen Rückschlag, für Pakistan hingegen einen unverhofften diplomatischen Erfolg dar.Kaschmir bleibt ein Konflikt, der jederzeit eskalieren kann. Gespräche zwischen Indien und Pakistan sind auf absehbare Zeit kaum zu erwarten. Für Indien stehen der Kampf gegen den Terrorismus und die Rückgabe des von Pakistan kontrollierten Teils von Kaschmir im Vordergrund. Pakistan hingegen drängt auf einen umfassenden Dialog über Kaschmir sowie auf die Wiedereinsetzung des Induswasservertrags.Innenpolitisch hat die Krise die nationalistischen Lager in beiden Ländern gestärkt. Premierminister Modi sieht sich zunehmendem Druck hindunationalistischer Gruppen ausgesetzt, die ein noch entschlosseneres militärisches Vorgehen gegen Pakistan fordern. In Pakistan geht das Militär unter General Munir als politischer Sieger aus der Konfrontation hervor. Die Aussetzung des Induswasservertrags durch Indien dürfte zudem islamistischen Hardlinern in Pakistan Auftrieb geben, die bereits vor Jahren versucht hatten, einen „heiligen Krieg um Wasser“ zu entfachen.Im bilateralen Verhältnis bleibt abzuwarten, ob und inwieweit Militärschläge wie die Operation „Sindoor“ die Unterstützung Pakistans für terroristische Gruppen verringern werden. Die wechselseitigen Sanktionen haben die ohnehin schwachen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontakte nahezu zum Erliegen gebracht, was die Kommunikation in künftigen Krisen erheblich erschweren dürfte. Die Nuklearpotentiale beider Staaten tragen nicht zur Stabilisierung ihrer Beziehungen bei, sondern ermöglichen vielmehr begrenzte konventionelle Auseinandersetzungen, wie bereits 1999 im Kargil-Krieg zu beobachten war.Im globalen Kontext bleibt abzuwarten, ob die Internationalisierung des Kaschmirkonflikts einen nachhaltigen Erfolg für Pakistan darstellt. Für Indien bedeutete insbesondere die Einmischung von Präsident Trump zunächst einen Rückschlag in den Beziehungen zu den USA, die sich in den vergangenen 20 Jahren stetig verbessert hatten. Indien gilt als zentraler Partner der amerikanischen Indo-Pazifik-Strategie zur Eindämmung des chinesischen Aufstiegs. Ein weiterer Rückschlag ist, dass Indien erneut in einem Atemzug mit Pakistan genannt wird. Dies widerspricht Indiens Bestrebungen, sich als Großmacht im internationalen System und als eigenständiger Pol in einer multipolaren Welt zu positionieren. Der Kaschmirkonflikt ist damit zurück auf der internationalen Bühne und könnte zukünftig noch gefährlicher werden.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal