Operation Startup
Nur drei Jahre nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist diese zu einem der aktivsten Zentren für Verteidigungs-Startups weltweit geworden. 2022 hätten wohl nur wenige vorhergesagt, dass die Ukraine nicht nur großen Widerstand leisten, sondern ein eigenes Tech-Ökosystem aufbauen und Innovationen im Verteidigungssektor grundlegend verändern würde. Das Schlachtfeld ist mittlerweile ebenso ein Labor, in dem Technologie unter realem Beschuss erprobt wird.Bestes Beispiel ist die jüngste ukrainische Operation „Spinnennetz“ – ein präzise abgestimmter Drohnenangriff auf russische Luftwaffenstützpunkte und strategische Kampfflugzeuge. Durch die Aktion, die spannend war wie ein Hollywood-Thriller, gelang die Zerstörung von 34 Prozent der russischen Bomber, die Marschflugkörper tragen können. Der Angriff, der über anderthalb Jahre vorbereitet wurde, soll Schäden in Höhe von sieben Milliarden US-Dollar verursacht haben. Dies stellt eine der bedeutendsten Beeinträchtigungen der russischen Langstreckenangriffsfähigkeit seit Beginn der Invasion im Februar 2022 dar.Hinter solchen wirkstarken Operationen steht ein sich rasant entwickelndes Verteidigungs-Technologie-Ökosystem. Seit Beginn des Krieges sind in der Ukraine über 500 verteidigungsorientierte Startups entstanden. Dieser Wandel wird vorangetrieben durch staatliche Unterstützung, die Dringlichkeit an der Front sowie Graswurzel-Innovationen. Ingenieure, ehemalige Soldaten und Software-Entwickler bauen nun gemeinsam Drohnen, Bodenroboter, Sensoren und KI-Plattformen mit einer Geschwindigkeit, die das Silicon Valley nur aus der Ferne bewundern kann. Diese neue Welle des Verteidigungs-Unternehmertums ist schlicht durch Notwendigkeit getrieben. Ukrainische Startups warten nicht jahrelang auf militärische Beschaffungsverträge; sie liefern direkt an die Front, testen ihre Lösungen unter Kampfbedingungen und verbessern sie nahezu in Echtzeit.Die Drohnenherstellung in der Ukraine ist zuletzt explosionsartig gestiegen: Im Jahr 2024 produzierte die Ukraine über 1,5 Millionen FPV-Drohnen (First Person View) und plant, bis Ende 2025 unglaubliche 4,5 Millionen herzustellen. Die meisten dieser Drohnen stammen nicht von Rüstungsgiganten, sondern von dezentralen Teams, die in Industrieparks, umfunktionierten Garagen und Lean Production-Laboren arbeiten.Die Drohnenherstellung in der Ukraine ist zuletzt explosionsartig gestiegen.Eine stille, aber bedeutende Entwicklung markiert die kürzliche Enthüllung eines neuen KI-gesteuerten „Mutterdrohnen“-Systems, das einen Blick in die Zukunft autonomer Kriegsführung erlaubt. Das System kann zwei GPS-unabhängige Angriffsdrohnen starten, die in der Lage sind, hochrangige Ziele bis zu 300 Kilometer hinter feindlichen Linien aufzuspüren und zu zerstören – ein Durchbruch, der die stetige Weiterentwicklung der ukrainischen Verteidigungs-Technologien im anhaltenden Konflikt aufzeigt.Die ukrainische Kriegswirtschaft basiert auf offener Konkurrenz. Wenn die Drohne funktioniert, wird sie eingesetzt. Wenn sie versagt, bekommen die Hersteller sofort Rückmeldung von den Soldaten an der Front. Was als freiwillige Initiative begann, um dringende Bedürfnisse an der Front zu decken, hat sich in vielen Fällen zu einer strukturierten Verteidigungsindustrie mit globalem Potenzial entwickelt.Einige dieser neuen Akteure sind inzwischen in Militärkreisen bekannte Namen. Griselda entwickelt eine geobasierte Plattform, um Soldaten in urbanem Kampf und in Katastrophengebieten bessere Sicht zu ermöglichen. Huless produziert universelle Drohnenplattformen für militärische und zivile Missionen. Die verschlüsselten Funkgeräte von Himera gehören zur Standardausrüstung vieler Einheiten in russischen elektronischen Kriegsführungszonen.Andere setzen auf KI und Autonomie. Mantis Analytics bietet Echtzeit-Überwachung des Schlachtfelds und analysiert dabei sowohl Open-Source-Intelligenz als auch verschlüsselte Kanäle. Bavovna.ai nimmt sich eines der schwierigsten Probleme des Krieges an: die Drohnennavigation ohne GPS, ein häufiges Ziel russischer Störmaßnahmen. Auch Sine.Engineering entwickelt fortschrittliche Navigationssysteme für Drohnen, die mithilfe von Time of Flight-Technologie zuverlässige Ortung selbst in elektronisch gestörten Umgebungen ermöglichen.Auch im Bereich bodengestützter Robotik gibt es einen Boom. SkyLab Defense Robotics testet den Sirko-S1, ein halbautonomes unbemanntes Bodenfahrzeug (UGV), während der Ironclad-Roboter von Roboneers bereits in begrenztem Umfang im Einsatz ist. Auf dem Gebiet der elektronischen Kriegsführung stellt Kvertus mobile Anti-Drohnen-Systeme her, die nun an Frontpositionen eingesetzt werden.Zudem haben ukrainische Unternehmen ihr Know-how rasch angepasst, um verwundete Soldaten und Zivilisten zu unterstützen. So haben über 20 000 Ukrainer im Laufe des Krieges Amputationen erlitten. Ein herausragendes Beispiel ist Esper Bionics: ein Unternehmen, das sich ursprünglich auf den US-Markt konzentrierte, seit 2022 aber 70 Prozent seiner Aktivitäten in die Ukraine verlagert hat. Durch die Verbindung von Robotik, KI und Bionik entwickelt Esper Bionics Prothesentechnologie, die speziell auf die Realitäten kriegsbedingter Verletzungen zugeschnitten ist. Das Flaggschiff, die Esper-Hand, ist eine multifunktionale, KI-gesteuerte Prothese, die ukrainischen Amputierten zur Verfügung gestellt wird. Was all diese Startups eint, ist eine gemeinsame Denkweise: Agilität statt Perfektion und direktes Feedback vom Schlachtfeld statt top-down betriebener Forschung, mit einer Innovation, die schnell und zweckorientiert ist.Hinter vielen dieser Initiativen steht Brave1, die zentrale Plattform der ukrainischen Regierung für Verteidigungs-Technologie. Gegründet im Jahr 2023 dient Brave1 als Vermittler zwischen militärischen Bedürfnissen und zivilen Innovatoren. Die Regierungsplattform zur Förderung von Verteidigungs-Technologien hat in den letzten zwei Jahren rund 1 500 Unternehmen unterstützt und 3 200 militärbezogene Projekte gefördert. Brave1 senkt zudem die bürokratischen Hürden. Sie hilft Startups bei der Navigation durch militärische Zertifizierungsprozesse, Tests und sogar Exportkontrollen. Und sie verleiht Legitimität in einem System, in dem sogar inoffizielle Einheiten neue Technologien im realen Gefecht testen. Im vergangenen Jahr hat Brave1 zur Mobilisierung von über zwölf Millionen US-Dollar an privatem Kapital für Verteidigungs-Startups beigetragen. Auch wenn das noch bescheiden ist, zeigt es ein wachsendes Vertrauen von Investoren. Ein seltenes Zeichen von Optimismus in einer ansonsten düsteren Kriegswirtschaft.Für westliche Militärs, die an jahrzehntelange Beschaffungszyklen gewöhnt sind, ist der schnelle, feedbackgetriebene Ansatz der Ukraine eine Offenbarung.Die Renaissance in der Verteidigungs-Technologie der Ukraine findet nicht im luftleeren Raum statt und wird zunehmend nachgeahmt, insbesondere von NATO-Mitgliedern in Mittel- und Osteuropa. Das Vereinigte Königreich und Lettland führen mittlerweile gemeinsam eine Drohnen-Koalition an, die über 1,8 Milliarden Euro in die Beschaffung und gemeinsame Entwicklung ukrainischer Drohnen investiert. Europäische Rüstungsfirmen wie Tekever, Milrem und RSI testen bereits ihre eigenen Plattformen zusammen mit ukrainischen Truppen.Für westliche Militärs, die an jahrzehntelange Beschaffungszyklen gewöhnt sind, ist der schnelle, feedbackgetriebene Ansatz der Ukraine eine Offenbarung. Dabei geht es nicht nur um Drohnen, sondern um ein neues Paradigma zum Aufbau und zur Skalierung dualer Technologien. Doch das Modell hat auch Grenzen. Während ukrainische Ingenieure im Bereich Autonomie – insbesondere Navigation und Zielerfassung – große Fortschritte machen, bleibt der Einsatz vollautonomer tödlicher Waffen eine rote Linie. Die meisten Systeme bleiben „human-in-the-loop“, aus ethischen Gründen und um das Vertrauen in ihre Zuverlässigkeit auf dem Schlachtfeld zu erhalten.Auch das Skalieren stellt eine Herausforderung dar. Nicht alle Startups schaffen den Sprung vom Prototyp zur Serienfertigung. Lieferketten sind fragil, Kapital ist begrenzt, und der rechtliche Rahmen für Beschaffungen bleibt im Aufbau. Und doch beweist die Ukraine, dass Bottom-up-Verteidigungs-Innovation funktionieren kann – selbst in einem Land im Krieg. Ein Meilenstein ist die Zusage der Europäischen Kommission, im Rahmen des Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) 2024, 910 Millionen Euro zu investieren, um Europas Verteidigungs-Industrie zu stärken und zu modernisieren. Diese Mittel sollen kritische Fähigkeitslücken, etwa bei Truppenmobilität und Drohnenabwehr, durch enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie schließen.Erstmals dürfen auch ukrainische Verteidigungs-Unternehmen an EDF-Projekten teilnehmen. Ein Signal für eine tiefere Integration der Ukraine in das europäische Verteidigungs-Ökosystem. Diese verstärkte Zusammenarbeit baut auf der Arbeit des EU Defense Innovation Office in Kiew auf, das enge Partnerschaften fördert und die Ukraine fest in Europas Innovationslandschaft für Verteidigung einbettet. Hand in Hand treiben sie gemeinsame Sicherheitsziele voran und gestalten eine vereinte Vision technologischen Fortschritts.Wenn Drohnen für das 21. Jahrhundert sind, was Panzer für das 20. waren, dann setzt die Ukraine sie nicht nur ein – sondern sie prägt, wie diese entwickelt, getestet und verbessert werden. Und vor allem: Die hier entstehenden Innovationen werden weit über die Grenzen der Ukraine hinauswirken. Europa darf die Durchbrüche der ukrainischen Verteidigungs-Technologie daher nicht als bloße Kriegsanomalie oder Einbahnstraßenhilfe betrachten. Hier zeigt sich, wie militärische Innovation erschaffen, erprobt und skaliert wird.Statt seine Rüstungsindustrie hinter bürokratischen Mauern und trägen Beschaffungsprozessen zu verstecken, muss die EU eine noch tiefere Integration mit ukrainischen Innovatoren vorantreiben, mehr Dual-use-Finanzierungs-Instrumente öffnen und sie direkt in langfristige strategische Planungen einbetten. Der Krieg hat die Ukraine zu einem Testfeld für agile und frontnah entwickelte Technologien gemacht. Diese wird Europa irgendwann unweigerlich selbst benötigen. Nicht nur, um die Ukraine zu unterstützen, sondern um sich selbst zu verteidigen. Je länger die EU zögert, desto mehr riskiert sie, die wichtigste Verteidigungs-Transformation einer ganzen Generation zu verpassen.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal