Ordnung schafft Zusammenhalt

26.06.25 14:45 Uhr

Im Mai trat der britische Premierminister Keir Starmer an das Rednerpult vor Downing Street 10 und erklärte, dass er die bisherige Einwanderungspolitik seines Landes für einen Irrweg halte. Großbritannien habe „im Alleingang mit offenen Grenzen experimentiert“, obwohl die Britinnen und Briten dafür nie ihre Stimme gegeben hätten. Starmer kündigte eine Reihe von Maßnahmen an: Verschärfung der Grenzkontrollen, höhere Qualifikationsanforderungen an Zuwanderer und ein wirksamer Stopp der Massenmigration.Urheber des Maßnahmenpakets ist die britische Labour-Partei, die zur linken Mitte zählt und lange für Offenheit gegenüber Migranten eintrat. In dieser Hinsicht war sie ein Spiegelbild ihrer modernen, aus urban-progressiven Menschen bestehenden Wählerbasis. Für diese war mehr Zuwanderung wirtschaftlich vor allem deshalb vorteilhaft, weil sie für stabil niedrige Preise sorgte und ihrem menschenfreundlichen Weltverständnis entsprach.Das Problem ist: Diese Haltung steht tendenziell konträr zur Meinung vieler Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterschicht. Diese weniger gut betuchte Wählergruppe stellt seit Jahren kritische Fragen zu den Folgen der Massenmigration und äußert Sorgen über ihre Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt, die öffentliche Versorgung, die Löhne und das soziale Gefüge. Auf diese kritischen Fragen reagierten die progressiven Stadtbewohner in Großbritannien so wie in anderen Teilen Europas und in den USA: Sie stellten die Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterschicht als borniert hin oder diffamierten sie als Rassisten. Dass sich ihre politischen Präferenzen daraufhin verschoben, ist wenig überraschend. Das Thema Zuwanderung steht mehr als jedes andere Thema sinnbildlich für das Auseinanderdriften der Parteien der linken Mitte und der Gesellschaftsschicht, die traditionell ihre Stammwählerschaft war.Mit Blick auf die progressiven Linken und auf alles, wofür sie stehen, macht Keir Starmer mit seiner Ankündigung ein entscheidendes Eingeständnis: Es braucht einen Politikwechsel und eine andere politische Ausrichtung.Der Weg zu einer gleichberechtigteren und gerechteren Gesellschaft führt über Stabilität und sozialen Zusammenhalt.Politische Beobachter und Gegner deuteten Starmers Ankündigung als Abwehrmanöver, mit dem der rechten Anti-Einwanderungspartei Reform U.K. der Wind aus den Segeln genommen werden soll. An dieser Einschätzung ist etwas Wahres dran. Dass Labour es bei den Wahlen im vergangenen Jahr geschafft hat, Rückhalt in der Arbeiterschicht zurückzugewinnen, lag zum Teil daran, dass die Partei sich frühzeitig für eine restriktivere Grenzpolitik ausgesprochen hat. Doch dieser Rückhalt gerät nun ins Wanken, seit Labour Regierungsverantwortung trägt. Innerhalb der Partei wächst die Sorge, Großbritannien könnte denselben Weg einschlagen wie Deutschland, Italien und die Niederlande, wo die Rechten zuletzt die Mitte-links-Parteien überholt haben.Dennoch wäre es verkürzt, Labours neue Politik allein als taktisches Manöver zu betrachten. Beim Thema Zuwanderung Ernst zu machen, kann Teil einer stringenten progressiven Vision sein – mehr als nur ein Zugeständnis an die Arbeiterschicht, um den Rechten das Wasser abzugraben. Der Weg zu einer gleicheren und gerechteren Gesellschaft führt über Stabilität und sozialen Zusammenhalt.Wichtig ist, dass Keir Starmer zugleich gegen die Auswüchse der einwanderungsfeindlichen Rechten vorgeht. Als es im Sommer landesweit zu migrationsfeindlichen Ausschreitungen kam, reagierte er schnell und entschlossen. Er half, die Ordnung wiederherzustellen, und beruhigte die Ängste, statt die Spannungen weiter anzuheizen. Damit unterschied sich sein Vorgehen grundlegend von der fragwürdigen Taktik der Trump-Regierung im Umgang mit den Protesten in Los Angeles.Dennoch steht beim Thema Zuwanderung häufig die politische Rechte näher an der öffentlichen Meinung, weil Teile der Linken eine grundlegende Wahrheit ausblenden: Dass ein Land in der Lage ist, die eigenen Grenzen zu kontrollieren und zu entscheiden, wer einreisen darf und wer nicht, ist für eine Demokratie von zentraler Bedeutung. Gelingt das nicht, verlieren die eigenen Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, die Kontrolle über ihr Land zu haben. Ohne starken Grenzschutz wird der in der Nachkriegszeit geschaffene Sozialstaat zusammenbrechen – den es deswegen gibt, weil die Bevölkerung sich bewusst Steuern auferlegt hat, um den eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu helfen. Wenn die Menschen nationale Regierungen als machtlos wahrnehmen, führt das nicht ins sozialistische Utopia, das sich manche Befürworter offener Grenzen erträumen, sondern in eine Situation, in der es nur noch ums bloße Überleben geht.Ungeordnete Grenzen erzeugen psychologische Instabilität.Ungeordnete Grenzen erzeugen psychologische Instabilität. Ich erinnere mich an die Schilderung eines Familienangehörigen, der beobachtet hatte, wie an dem steinigen Strand an Englands Südküste, an dem wir als Kinder gespielt hatten, überwiegend mit Männern besetzte Boote landeten. Die Männer stiegen aus dem Boot und machten sich auf den Weg landeinwärts. Der destabilisierende Effekt loser Grenzen hat überdimensional starke politische Auswirkungen.Auch Massenmigration hat handfeste Auswirkungen, die Angehörige der Arbeiterschicht stärker zu spüren bekommen. Inzwischen nimmt Großbritannien im Durchschnitt jedes Jahr so viele Bewohner auf, wie in der sechsgrößten britischen Stadt Sheffield leben. Zuwanderung in dieser Größenordnung strapaziert nahezu immer den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In Großbritannien wirkt sich die starke Zuwanderung schon jetzt auf das verfügbare Angebot an staatlich gefördertem Wohnraum aus, sie drückt auf die Löhne und stellt die Integrationsfähigkeit des Gemeinwesens vor Probleme. Wenn Großbritannien das bisherige Zuwanderungstempo zehn weitere Jahre beibehält, droht das Land die Akzeptanz der Bevölkerung zu verlieren, wenn es darum geht, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft benötigten staatlichen Ressourcen bereitzustellen. Entscheidend sind die Gesamtzahlen.Das Dilemma der modernen Progressiven hat seinen Ursprung in der Identitätsfrage. Die Linke hat die Bedeutung der gesellschaftlichen Klasse zugunsten anderer Faktoren heruntergespielt und damit viele Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterschicht verprellt. Angesichts der Gefährdung der liberalen Ordnung durch Autoritäre aus dem rechten und linken Spektrum muss sich eine neue progressive Politik herausbilden, zu der eine Verankerung in Identitäten gehört, die den Menschen ein stärkeres Gefühl von Sicherheit geben und ihre Solidarität untereinander stärken. Den Begriff der modernen Nation mit neuem Inhalt zu füllen, kann beim Verwirklichen dieses Ziels helfen. Ein möglicher Ansatzpunkt für eine neue progressive Zukunft ist die Vorstellung von einem Gemeinwesen, das Sicherheit bietet und Chancen eröffnet und dem wir genauso viel zu verdanken haben, wie wir andererseits von ihm erwarten.Aber auch die Linke täuscht sich mit einem Ultra-Globalismus, der nationale Identitäten und das Zugehörigkeitsgefühl untergräbt, die eine nationale Gemeinschaft stiften können.Die politische Rechte irrt, wenn sie Nationen ethnisch definiert oder Zuwanderer ausgrenzt. Aber auch die Linke täuscht sich mit einem Ultra-Globalismus, der nationale Identitäten und das Zugehörigkeitsgefühl untergräbt, die eine nationale Gemeinschaft stiften können. Eine moderne nationale Identität, die auf gemeinschaftlicher Verantwortung und erarbeiteter Staatsbürgerschaft aufbaut und die Basis dafür schafft, dass gemeinsam gewagt und gewonnen wird, kann eine Entwicklung in Gang bringen, die unsere Gesellschaften wieder zusammenbringt.Viele Progressive erkennen dies allmählich. In Dänemark arbeitet Premierministerin Mette Frederiksen seit 2019 an einem anderen Umgang ihrer Mitte-links-Partei mit der Zuwanderung und lässt sich dabei von dem Gedanken leiten, dass eine restriktive Zuwanderungspolitik etwas Progressives ist, weil sie zur Bewahrung des dänischen Sozialmodells beiträgt, das für die Bürgerinnen und Bürger einen hohen Stellenwert hat. Frederiksen hat diese Debatte für sich entschieden und die extreme Rechte in Dänemark geschwächt. Keir Starmer versucht im Grunde genommen, den gleichen Weg zu gehen. Auch in den USA beginnen einige Kongressabgeordnete der Demokratischen Partei, sich in diese Richtung zu bewegen.Progressive Kräfte sollten aufhören, um das Thema Zuwanderung einen Bogen zu machen, und stattdessen bestrebt sein, es zum eigenen Thema zu machen. Wenn sie es richtig anpacken, kann dies wie ein Katalysator für eine neue progressive Politik wirken, die das nationale Miteinander und den Bürgersinn ins Zentrum stellt. Dabei gibt es mehr zu gewinnen als das Zurückdrängen der Rechtspopulisten. Es eröffnet die Chance, aus den Fehlern einer grenzenlosen Globalisierung zu lernen und starke, selbstbewusste Nationen zu formen, die als Gesellschaft zusammenhalten.Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.Aus dem Englischen von Andreas BredenfeldWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal