Turbulent stabil
Südkorea hat mit Lee Jae-myung einen neuen Präsidenten – nach sechs Monaten politischer Turbulenzen infolge der Verhängung des Kriegsrechts durch den früheren Präsidenten Yoon Suk-yeol sowie dessen anschließender Amtsenthebung und Absetzung. Neben innenpolitischen und sozioökonomischen Herausforderungen übernimmt Lee die Präsidentschaft in einer internationalen Lage, die von Unsicherheit geprägt ist. Südkorea sieht sich in Fragen von Verteidigung, Sicherheit und Diplomatie einem schwierigen strategischen Umfeld gegenüber, das in der Übergangsphase vernachlässigt wurde. Die Beziehungen zu den USA sind durch Donald Trumps Zoll- und Handelspolitik sowie durch die mögliche Neuausrichtung der US-Streitkräfte belastet. Japan ist ein wichtiger Partner, doch historische Spannungen wirken im Hintergrund fort. Nordkorea hat seine militärischen Fähigkeiten – insbesondere im Bereich Nuklearwaffen und Raketen – weiterentwickelt und zeigt sich zunehmend feindselig. China ist zwar ein bedeutender Handelspartner, aber zugleich ein Unterstützer Nordkoreas und ein revisionistischer Akteur, der die regionale Stabilität gefährdet. Die regelbasierte internationale Ordnung, von der Südkorea profitiert hat, befindet sich in Auflösung.Klar gesagt: Sowohl in den USA als auch in Europa macht man sich Sorgen darüber, welchen außenpolitischen Kurs Lee einschlagen wird. Immer wieder hat er Signale gesendet, die auf eine allzu entgegenkommende Haltung gegenüber China hindeuten. Er hat beispielsweise infrage gestellt, ob eine Krise in der Taiwanstraße – trotz ihrer erheblichen Handelsimplikationen – Südkorea überhaupt betreffen würde. Besorgniserregend ist auch Lees frühere Haltung zur Annäherung an Nordkorea, die internationale Bemühungen, Pjöngjang für seine Verstöße gegen das Nichtverbreitungsregime zur Verantwortung zu ziehen, untergraben könnte. Hinzu kommt Lees zwiespältiger Umgang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er hat Präsident Selenskyj teilweise eine Mitschuld an der Eskalation gegeben und angedeutet, dass Südkoreas Interesse an dem Konflikt primär wirtschaftlicher Natur sei – nämlich mit Blick auf Wiederaufbauverträge in der Ukraine und die Wiederaufnahme des Handels mit Russland.Lee erkannte zunehmend die neue weltpolitische Lage mit einer engeren und offensiveren Zusammenarbeit zwischen China, Russland und Nordkorea.Zugegeben: Einige dieser Positionen sind überholt, und Lees Rhetorik im Wahlkampf hat sich weiterentwickelt. Er erkannte zunehmend die neue weltpolitische Lage mit einer engeren und offensiveren Zusammenarbeit zwischen China, Russland und Nordkorea. Doch Lee ist nicht als besonders integer bekannt – ob seinen Worten Taten folgen, bleibt abzuwarten. Aus europäischer Sicht besteht ein weiterer Anlass zur Sorge: Lee und sein außenpolitisches Team könnten Mittelmächte allgemein und Europa im Besonderen vernachlässigen. Das ist ein seit Langem bestehendes Problem unter südkoreanischen progressiven Spitzenpolitikern – unter anderem weil Europa in innerkoreanischen Fragen wenig Einfluss hat. Lees Demokratische Partei bildet hier keine Ausnahme. Sollte sich die Vergangenheit wiederholen, droht Europa unter seiner Präsidentschaft an Bedeutung zu verlieren.Wie also sollte Europa auf Lees außenpolitischen Kurs reagieren? Eine erste Gelegenheit, das außenpolitische Profil Lees einzuschätzen, könnte sich darin zeigen, ob er der Praxis seiner Vorgänger Yoon und Moon Jae-in folgt und einen Sondergesandten nach Europa entsendet. Yoons Präsidentschaft war innenpolitisch zwar umstritten, doch außenpolitisch setzte er positive Akzente – unter anderem durch die frühzeitige Entsendung eines Sondergesandten nach Brüssel, Straßburg und Paris. Die Gespräche umfassten sowohl die Beziehungen zwischen der EU und Südkorea als auch die Kooperation zwischen der EU und der NATO. Auch Moons Regierung hatte einen Vertreter nach Brüssel und Berlin entsandt.Ein positives Zeichen wäre es, wenn Lee zügig einen Vertrauten auf eine Reise nach Europa schickte – etwa nach Brüssel und eine Kombination aus Berlin, Paris, London oder Warschau. Neben der Festlegung des diplomatischen Tons und einem möglichen Signal für Lees Teilnahme am NATO-Gipfel Ende Juni könnten dabei zentrale Themen angesprochen werden: die regelbasierte Ordnung, Freihandel, Nichtverbreitung, Menschenrechte, ein gerechter Frieden in der Ukraine sowie die verschiedenen Kooperationsinstrumente zwischen der EU und Südkorea. Weitere Gesprächsthemen könnten Südkoreas verbleibende sechs Monate im UN-Sicherheitsrat, die Rivalität zwischen China und den USA sowie die multilateralen Gipfeltreffen im zweiten Halbjahr 2025 sein. Idealerweise würden bei solchen Kontakten auch gegenseitige Einladungen auf Regierungsebene thematisiert.Europa sollte ein klares Signal von Lee erwarten, dass ihm die EU wichtig ist.Europa sollte ein klares Signal von Lee erwarten, dass ihm die EU wichtig ist. Ebenso ermutigend wäre es, wenn sein außen- und sicherheitspolitisches Team die Bedeutung der Kooperationsmechanismen im Rahmen der strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Südkorea betont: das Rahmenabkommen, das Freihandelsabkommen, die Krisenmanagementvereinbarung, die Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft, die digitale Partnerschaft und der strategische Dialog. Auch die Personalentscheidungen Lees – etwa wer zum Nationalen Sicherheitsberater oder Außenminister ernannt wird – geben Aufschluss darüber, wie ernst es ihm mit Europa ist. Die EU sollte dabei ein besonderes Augenmerk auf den Einfluss von Wi Sung-lac legen, dem früheren südkoreanischen Botschafter in Russland, der sich wiederholt für enge Beziehungen zu Europa ausgesprochen hat.Ein dritter Gradmesser für Lees europapolitisches Engagement ist sein Umgang mit der anstehenden „Gipfelsaison“: dem G7-Treffen (Mitte Juni), dem NATO-Gipfel (Ende Juni), der UN-Generalversammlung (September), APEC (Oktober, ausgerichtet von Südkorea) und dem G20-Gipfel (Ende November). Auch wenn Südkorea kein G7-Mitglied ist, bestehen viele gemeinsame Interessen. Die europäischen G7-Staaten sollten aufmerksam beobachten, wie die Regierung Lee vor dem Gipfel auf sie zugeht – insbesondere in Fragen des Handels und im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine. Ein entscheidender Test wird sein, ob Lee am NATO-Gipfel in Den Haag teilnimmt. Als globaler Partner der NATO und Mitglied der „Indo-Pacific 4“ (mit Japan, Australien und Neuseeland) ist Südkorea seit 2022 auf Gipfelebene vertreten. Eine Abwesenheit Lees 2025 wäre ein schlechtes Omen.Die UN-Generalversammlung und der G20-Gipfel bieten Südkorea die Möglichkeit, sich mit europäischen Partnern zu globalen Themen wie Frieden und Sicherheit, Umwelt, Handel und neuen Technologien abzustimmen. Als Gastgeber des APEC-Gipfels könnte Südkorea auch ein Zeichen in Richtung Europa setzen, etwa durch die Einladung eines europäischen Gasts. Frankreich mit seinem weitreichenden pazifischen Einflussgebiet wäre ein naheliegender Kandidat – aber auch Vertreter der EU, Deutschlands oder des Vereinigten Königreichs wären sinnvolle Optionen. Eine solche Einladung wäre ein deutliches Signal für eine global orientierte, europafreundliche Haltung zu wirtschaftlichen Fragen im Indo-Pazifik.Unabhängig davon, wie sich die Regierung Lee positioniert, sollte Europa aktiv werden. Falls Lee keinen Sondergesandten entsendet, sollte die EU oder ein Mitgliedstaat ihrerseits eine hochrangige Delegation schicken – etwa aus dem Europäischen Auswärtigen Dienst oder von Indo-Pazifik-Beauftragten aus Deutschland, Frankreich oder Schweden. Zweitens sollte Europa die Relevanz der genannten Kooperationsmechanismen betonen – insbesondere mit Blick auf die Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft sowie den strategischen Dialog. Drittens sollte Lee beim NATO-Gipfel in Den Haag mit offenen Armen empfangen werden – inklusive bilateraler Gespräche auf Augenhöhe. Auch ein diskreter Hinweis darauf, dass seine Präsenz südkoreanischen Rüstungsexporten nach Europa nutzen könnte, wäre nicht verkehrt. Schließlich sollten sich die europäischen G20-Mitglieder im Vorfeld eng mit Seoul abstimmen – insbesondere in jenen wirtschaftspolitischen Bereichen, die anfällig für mögliche störende Einflüsse eines US-Präsidenten Trump sind.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal