Urteil mit Nebenwirkung
Der Oberste Gerichtshof Argentiniens hat am 10. Juni 2025 die ehemalige Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (CFK) in Letztinstanz wegen Betrugs und unlauterer Auftragsvergabe zu sechs Jahren Hausarrest verurteilt. Politisch betrachtet ist weitaus bedeutender, dass sie durch das Urteil auch lebenslang von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen wird. Drei Monate vor einer entscheidenden Provinzwahl und fünf Monate vor den nationalen parlamentarischen Zwischenwahlen wird die zentrale Oppositionsfigur damit zur Persona non grata erklärt. Bereits im Dezember 2022 wurde Kirchner in erster Instanz wegen Betrugs verurteilt. Die Ermittlungen, die laut Kirchner und ihren Unterstützern „Unregelmäßigkeiten“ aufwiesen, kamen zu dem Schluss, dass sie 51 öffentliche Aufträge in ihrer Heimatprovinz Provinz Santa Cruz an ein Unternehmen vergeben hatte, das ihrem Bekannten Lázaro Báez gehört. Nach dem Urteil des Obersten Gerichtshof sind Cristina Kirchners Rechtsmittel damit in Argentinien erschöpft. Sie könnte ihren Fall noch vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem autonomen Justizorgan der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), bringen.Cristina Kirchner spaltet Argentinien genau wie der aktuelle Präsident Javier Milei. Der Hass auf Cristina ist allerdings auch auf eine über mehr als zwei Jahrzehnte aufgebaute, gezielte Dämonisierung ihrer Person in den Leitmedien zurückzuführen. Traditionell speist sich diese Stimmung aus einem historischen Anti-Peronismus; in ihrem Fall kommt noch eine große Portion Abwertung ihrer Person, die man nicht anders als Frauenfeindlichkeit bezeichnen kann, hinzu. Es kam sogar zu Gewalt gegen ihre Person, mit einem versuchten Mordanschlag im September 2022 als traurigem Höhepunkt. Aufgrund ihrer Verurteilung sind jedenfalls ihre vielen Gegner – das gesamte anti-peronistische Spektrum von Milei und seinen Schergen, über die konservative Partei PRO, bis hin zur bürgerlich-liberalen Radikalen Partei UCR – in enormer Feierlaune. Und glauben, dass der Gesellschaft endlich Gerechtigkeit im Justizsinne widerfahre. Ihre Anhänger hingegen, aber auch ein relativ breites Bündnis an Personen und Gruppen, die nicht peronistisch sind, bezeichnen das Verfahren als politische Verfolgung. Sie sehen die Verurteilung als Versuch, die zentrale Oppositionsführerin und Anführerin des Peronismus auszuschalten. Das Verfahren ähnelt dem gegen den brasilianischen Präsidenten Lula sehr stark – auch deshalb, weil keine direkten Beweise gegen CFK aufgeführt wurden.Es ist daher ein weiterer Fall von Justizialisierung der Politik in Lateinamerika. Der Fall, der dem Gericht seit Monaten vorlag, wurde scheinbar per Eilverfahren ein paar Tage nach der Ankündigung der CFK-Kandidatur für die Provinzwahlen wieder schnell hervorgekramt. Die Rechtsstaatlichkeit Argentiniens wird in diesem besonderen Fall nicht gestärkt, sondern durch die politische Dimension des Urteils geschwächt. Unlauteres klientelares und korruptes Fehlverhalten ist in Argentinien leider keine Seltenheit, Korruption ist kein exklusives Vergehen der Kirchner-Regierungen. Das Land rangiert auf Platz 99 von 180 Ländern des Corruption Perception Index, es gibt unzählige Korruptionsfälle, in denen politische Vertreter verschiedener Couleur involviert waren. Allerdings ist CFK die erste ehemalige Präsidentin, die vom Obersten Gericht tatsächlich verurteilt wird. Ein Novum – es scheint, dass hier selektiv sanktioniert und mit zweierlei Maß gemessen wird: trotz Anklagen und nach einem fünfmonatigen Hausarrest wurde der ehemalige Präsident Menem 2001 vom Obersten Gericht freigesprochen; trotz verschiedener laufender Ermittlungen gegen den Ex-Präsidenten Macri scheinen die Gerichte keine Eile zu haben. Kein Ex-Präsident, kein konservativer Gouverneur, kein Unternehmer steht vergleichbar zur Rechenschaft.Kirchner wird damit sowohl für ihre Fehler als auch für ihre Erfolge verurteilt. Und ihre Erfolge sind ihren Gegnern noch immer ein Dorn im Auge. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: soziale Umverteilung, Begrenzung der wirtschaftlichen Macht einiger Weniger und ein zaghaftes Reform-Modell zum Wohle einer Mehrheit. Auch mit der Justiz hatte sie sich angelegt, als sie 2013 als Präsidentin per Eilverfahren die Justiz „demokratisieren“ wollte (ähnlich dem aktuellen Modell Mexikos) und sich damit das Oberste Gericht zum Feind machte. Dass die argentinische Justiz aufgrund von Intransparenz, langen Verfahrensdauern, hohen Gehältern und Pensionen sowie einer Vielzahl weiterer Privilegien für Richter immer wieder in der Kritik steht, sollte an dieser Stelle erwähnt werden. Vor allem aber wird ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit immer wieder durch Präsidial-Dekrete (von CFK bis Milei) mit Füßen getreten. Aktuell umfasst das Oberste Gericht aufgrund von Rücktritten nur drei Richter statt die nötigen fünf – die Nominierungen von Milei wurden durch den konservativen Senat blockiert. Bei allen aktuellen Obersten Richtern kann eine Nähe zu wirtschaftlichen Eliten mit einer eindeutigen politischen Agenda nachgewiesen werden – also eine offensichtliche personelle Verstrickung zwischen Justiz und den politischen Gegnern von CFK.Während weltweit die Verurteilung der ehemaligen Präsidentin als Nachricht verbreitet und die Moralkeule gegen Korruption geschwungen wird, geht es um etwas ganz anderes. Das Urteil des Gerichts muss politisch und wirtschaftlich gelesen werden. Hinter fast allen Richtern der verschiedenen Rechtsinstanzen im Falle Vialidad – so heißt der Rechtsfall gegen CFK - verstecken sich beinharte wirtschaftliche, also Unternehmens-Interessen. Der Investigativ-Journalist Ari Lijaldad kann aufzeigen, welche Reisen von wem gesponsort wurden, wer mit wem Fußball spielt, per Dekret ernannt wurde usw. Die Vereinnahmung der Demokratien in Lateinamerika durch die größten profitorientierten Unternehmen und Vermögensgruppen ist ein Problem, und sollte im heutigen Argentinien, in dem Präsident Milei den Staat zum Feind erklärt hat, einmal mehr erforscht werden. Der Wirtschaftsjournalist Alejandro Bercovich argumentiert, dass die heutigen größten Unternehmens-Eigentümer Argentiniens nicht an der Wohlfahrt des Landes interessiert seien, sondern den Staat als politischen Gegner im Disput um die Wertschöpfungskette sehen.Argentinien ist in Bewegung – aber auch in Erstarrung. Während sich Journalisten, Politiker und politisch Aktive in Aufruhr sind, scheint in weiten Bevölkerungskreisen vor allem Gleichgültigkeit vorzuherrschen. Als Reaktion auf die Demonstrationen von Kirchner-Anhängern auf der Straße schickt Milei eine gewaltbereite Gendarmerie vor und verbarrikadiert die Casa Rosada (das Präsidialamt). Dadurch wird die Stimmung noch aufgeheizter und es kann zu gefährlichen Szenen kommen. Doch das Schlimmste, was CFK und der Opposition eigentlich passieren kann, das ist Gleichgültigkeit. Und derzeit scheint diese beim Durchschnittsbürger doch eher vorzuherrschen. Für viele Argentinierinnen und Argentinier, vor allem für die unter 30-Jährigen, ist das Urteil kein historisches Ereignis – sondern eine Tatsache, die zur Geschichte gehört: Sie verweist auf eine Figur aus ferner Vergangenheit, die nichts mit ihren aktuellen Empfindungen und Prioritäten zu tun hat. Im Prinzip ist den meisten egal, ob sie nun in Handschellen abgeführt wird oder nicht. Die schweigende Mehrheit interessierte sich am Tag der Urteilsverkündung im sonst so politischen Argentinien definitiv mehr für das Fußball-Länderspiel Argentinien gegen Kolumbien.Cristina Fernández de Kirchner mag juristisch gestürzt worden sein. Doch politisch bleibt sie für viele ein bedeutsames Symbol – für Umverteilung und, soziale Gerechtigkeit und Widerstand gegen die Ökonomisierung der Politik. Die Frage ist nicht nur, wie sich der Peronismus ohne seine Gallionsfigur neu aufstellen kann. Die Frage ist auch, ob sich die progressive und liberale Opposition angesichts dieses Manövers endlich einen Ruck gibt – und ebenso geeint wie glaubwürdig gegen ein libertär-autoritäres Projekt antritt, das den Staat zerstören will. Die Entpolitisierung der Öffentlichkeit, die Fragmentierung der Opposition, die Instrumentalisierung der Justiz, die Individualisierung der Gesellschaft – all das sind keine argentinischen Spezifika. Es ist ein weit verbreitetes, lateinamerikanisches Muster. Und ein globales Warnsignal.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal