Wahrhaft wehrhaft
Wenn am Sonntag in Rumänien die Wahlurnen öffnen, könnte dies nicht nur dem ultrarechten Kandidaten George Simion in der Stichwahl den Sieg im Rennen um das Präsidentenamt bescheren – es könnte auch dem Konzept der „wehrhaften Demokratie“ einen empfindlichen Schlag versetzen. Ursprünglich sollte genau das verhindert werden: Die erste Wahl im Dezember 2024 wurde annulliert, weil der rechtsextreme Kandidat Călin Georgescu überraschend die meisten Stimmen erhalten hatte. Für die Wiederholungswahl wurde er dann ausgeschlossen.Bereits vor dem ersten regulären Urnengang war mit Diana Șoșoacă eine weitere rechtsextreme Bewerberin aus dem Rennen genommen worden. Diese nicht unumstrittenen Entscheidungen konnten der Ultrarechten letztendlich nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Simion ließ im ersten Wahlgang der Wiederholungswahl mit fast 41 Prozent der Stimmen seine Konkurrenz weit hinter sich. Bitter-sarkastisch könnte mancher bemerken: Die Demokratie wehrt sich anscheinend gegen ihre Wehrhaftigkeit.Auch in Deutschland laufen die Rennmotoren der Parteiverbotsverfechter derzeit auf Hochtouren – befeuert durch die offizielle Hochstufung der AfD durch den Verfassungsschutz vom Verdachtsfall zur „gesichert rechtsextremistischen Bestrebung“. Doch es wäre höchste Zeit, etwas Kühlflüssigkeit nachzufüllen, um eine politische Überhitzung zu vermeiden und nicht aus der Kurve zu fliegen.Als genuin undemokratische Maßnahme innerhalb einer Demokratie unterliegt das Parteiverbot besonders hohen Anforderungen – das hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wiederholt betont, zuletzt im NPD-Urteil von 2017, und wie folgt zusammengefasst: „[A]lleine die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ideen [genügt] hierfür nicht. Hinzukommen müssen eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der freiheitlich demokratischen Grundordnung, auf deren Abschaffung die Partei abzielt, sowie konkrete Anhaltspunkte dafür, dass ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheint.“ Als „Wesenselemente“ dieser Grundordnung definierte das BVerfG zuletzt die Menschenwürde, das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip. Eine Partei, die gegen mindestens eines dieser drei Prinzipien agiert und dabei nicht chancenlos ist, wird verboten.Wie etwa der Verfassungsrechtler Foroud Shirvani betont, muss dazu nachgewiesen werden, dass eine „qualifizierte Vorbereitungshandlung und ein strategisches Konzept der Partei zur planvollen Umsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Zielsetzungen“ vorliegt. Selbst wenn der Verfassungsschutz meint, diesen Nachweis nun erbracht zu haben, gilt: Das Bundesverfassungsgericht verlässt sich nicht blind auf dessen Einschätzungen, sondern lässt alle Tatsachen des Falls eigens überprüfen.Die Hochebene, die in der Debatte erstaunlich selten betreten wird, ist die menschen- und europarechtliche.Erfahrungsgemäß ist anzunehmen, dass der Belegstapel des Verfassungsschutzes im Gerichtsverfahren eher etwas abgetragen wird. Es liegt in der Arbeits- und Systemlogik der Behörde, den Fokus vor allem auf belastendes Material zu legen. Vor dem Bundesverfassungsgericht hingegen werden sämtliche entlastende Aspekte für die AfD berücksichtigt – etwa offizielle Distanzierungen, Beschlüsse oder andere gegenteilige Signale. Bei mehrdeutigen Äußerungen gilt zudem: Es wird regelmäßig die für die Person beziehungsweise Partei günstigere Auslegung zugrunde gelegt. Kurzum: Der Ausgang eines Verbotsverfahrens wäre zwar nicht ganz so unberechenbar wie auf hoher See – doch von Kentergefahr ist er keineswegs frei.Die Hochebene, die in der Debatte erstaunlich selten betreten wird, ist die menschen- und europarechtliche. Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat zum Parteiverbot als Eingriff in die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nach Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eine eigene Rechtsprechung entwickelt.Das Bundesverfassungsgericht hat diese zwar im NPD-Verbotsverfahren 2013 bis 2017 in Teilen berücksichtigt – insbesondere indem es nun auch auf die grundsätzliche Fähigkeit einer Partei abstellt, die Demokratie zu gefährden. Dennoch, so der Jurist Theo Rust, habe das Gericht zwei entscheidende Punkte nicht ausreichend behandelt: die Frage, ob von ihr tatsächlich eine hinreichend konkrete Gefahr ausgeht – und die Frage, ob die drastischen Folgen eines Parteiverbots in Deutschland in einem angemessenen Verhältnis dazu stehen.Während es dem Bundesverfassungsgericht also ausreicht, dass die Partei potenziell in der Lage wäre, die demokratische Ordnung zu untergraben, verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass von ihr tatsächlich eine unmittelbare und konkrete Bedrohung ausgeht. Zudem fehle es, so Rust, an einer sorgfältigen Abwägung, ob ein Verbot wirklich das geeignete und verhältnismäßige Mittel ist – ein Maßstab, den die Europäische Menschenrechtskonvention ausdrücklich verlangt.Besonders sticht dabei der automatische Verlust der Mandate für AfD-Abgeordnete im Falle eines Parteiverbots ins Auge. Denn, wie der Parteienrechtler Sebastian Roßner bereits 2012 im Kontext des NPD-Verbotsverfahrens betonte: „Der EGMR sieht eine solche Regelung als Verstoß gegen das Recht auf freie Wahlen an, welches Artikel 3 des von Deutschland unterzeichneten 1. Zusatzprotokolls zur EMRK garantiert.“ Stattdessen müsse bei jedem einzelnen Abgeordneten individuell geprüft werden, ob ein Mandatsverlust gerechtfertigt wäre. Eine pauschale Regel widerspricht somit dem europäischen Menschenrechtsstandard.Im Falle einer Beanstandung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entstünde eine politisch und rechtsstaatlich hochproblematische Konstellation.Im Falle einer Beanstandung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entstünde eine politisch und rechtsstaatlich hochproblematische Konstellation: Das deutsche Verfassungsrecht könnte in diesen Punkten als menschen- und völkerrechtswidrig eingestuft werden. Zwar wäre ein entsprechendes Urteil formal nicht direkt bindend für das Bundesverfassungsgericht. Doch dass ein Gründungsmitglied der Europäischen Union eine Entscheidung durchsetzt, die im Widerspruch zu grundlegenden menschen- und völkerrechtlichen Standards steht, erscheint kaum vorstellbar.Ob ein Parteiverbotsverfahren – rein strategisch betrachtet – überhaupt klug wäre, ist nicht nur deshalb mehr als fraglich. An der Jahresangabe des NPD-Verbotsverfahrens lässt sich auch die zeitliche Perspektive für ein mögliches Verfahren gegen die AfD ablesen, die der Partei in epischer Länge Stoff für eine Märtyrererzählung in elektoraler Bestsellerqualität liefern würde.Hinzu kommt: Angesichts der tatsächlichen wie wahrgenommenen gesellschaftlichen Spaltungslinien und der politischen wie sozialen Konfliktursachen, die zum Erfolg der AfD beigetragen haben, droht ein gefährlicher „Aus den Augen, aus dem Sinn“-Effekt. Selbst wenn der politische Wille zur Ursachenbearbeitung vorhanden ist, zeigt das rumänische Beispiel: Ein Verbot garantiert nicht einmal, dass dafür die nötige Zeit gewonnen wird.Hingegen können Verbote und Wahlausschlüsse sogar zum Bumerang werden. Was sich in Rumänien schon in Wahlergebnissen zeigt, verdichtet sich gerade in Frankreich, wo der voraussichtliche Le-Pen-Ersatzkandidat Jordan Bardella die aktuellen Umfragen anführt. Sucht man ein mahnendes historisches Beispiel, wird man in der Türkei fündig: Die Verbote der erfolgreichen islamistischen Wohlfahrtspartei im Jahre 1998 und ihrer Nachfolgerin, der Tugendpartei, im Jahre 2001 hat den Aufstieg der daraus hervorgegangenen AKP nicht verhindert. Im Gegenteil, der gescheiterte Versuch eines AKP-Verbots im Jahre 2008 hat Erdoğans Macht noch weiter gefestigt.Hingegen können Verbote und Wahlausschlüsse sogar zum Bumerang werden.Darüber hinaus wirft ein Parteiverbot grundsätzliche demokratietheoretische und politische Fragen auf. Dabei geht es nicht allein um die Tatsache, dass gewählte Parlamentarier schlagartig ihre Mandate verlieren und ein Viertel der Wählerschaft ihrer politischen Repräsentation beraubt würde – sondern um etwas Grundsätzlicheres.Weitgehender politikwissenschaftlicher Konsens ist, dass sich keine Demokratie ihren Feinden gänzlich schutzlos ausliefern darf. Doch wie dieser Schutz am demokratischsten und zugleich effektivsten ausgestaltet werden kann, ist durchaus umstritten.„Wehrhaftigkeit“ in der ausgeprägten deutschen Variante ist weder ein natürlicher Aggregatzustand noch historisch-empirische Normalität in Demokratien westlichen Zuschnitts – und auch keineswegs eine überlegene Schutzvorrichtung. Ein Blick auf Länder wie das Vereinigte Königreich oder Australien zeigt: Auch ohne Parteiverbotsverfahren nach deutschem Muster stehen diese Staaten bislang stabil als freiheitliche Demokratien.Dort dominiert ein sogenanntes „liberales Modell“ des Umgangs mit extremistischen Parteien, wie es der Rechtswissenschaftler Bohdan Bernatskyi beschreibt. In diesem Modell dürfen Parteien grundsätzlich jede Art von Zielsetzung verfolgen – selbst solche, die demokratie- oder verfassungsfeindlich sind. Grenzen setzt allein das Strafrecht. Nur wenn eine Partei strafbare Handlungen begeht, greift der Staat regulierend ein. Mit Schweden und Dänemark machen uns übrigens europäische Nachbarn mit einem sehr ähnlichen politischen System vor, wie man gänzlich ohne das Instrument des präventiven Parteiverbots sogar höhere Platzierungen als Deutschland im Economist-Demokratie-Index erreichen kann.Vielleicht ist es an der Zeit, zur Rettung der Demokratie (wieder) den Fokus auf die Stärkung einer freien und konstruktiven politischen Auseinandersetzung zu richten – auf reflektierte, rationale Diskussion und praktische Problemlösungsfähigkeit. Dafür muss man nicht einmal in die Ferne schweifen. Im berühmten Wunsiedel-Urteil von 2009 hat das Bundesverfassungsgericht hierzu bemerkenswerte Sätze formuliert: „Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien. […] Den hierin begründeten Gefahren entgegenzutreten, weist die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes primär bürgerschaftlichem Engagement im freien politischen Diskurs sowie der staatlichen Aufklärung und Erziehung in den Schulen gemäß Art. 7 GG zu.“In diesem Verständnis liegt der Herzenskern und die eigentliche Stärke der Demokratie. Sich auf diesen freiheitlich-demokratischen, aufklärerischen Geist unserer Verfassung zu besinnen – und ihn im politischen Alltag wie in der Gesellschaft tagtäglich zu leben und zu kultivieren –, wäre womöglich der wirksamste Weg, unsere Demokratie wirklich wehrhaft zu machen.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal