„Warum sollte ein Premier seine Meinung nicht ändern?“

14.05.25 17:00 Uhr

Der britische Premierminister Keir Starmer hat Pläne für eine verschärfte Migrationspolitik vorgestellt. Was hat ihn zu diesem Schritt bewogen?Ich glaube, man muss zwei Dinge unterscheiden. Zum einen die Substanz: Das nun vorgelegte Whitepaper zur Begrenzung der Migration war schon länger in Vorbereitung. Es ist keine unmittelbare Reaktion auf aktuelle Entwicklungen. Zum anderen aber scheint mir die Art und Weise der Vorstellung – insbesondere die Rhetorik von Starmer – eine Antwort auf die jüngsten Erfolge der Reform UK-Partei von Nigel Farage zu sein. Dessen Partei, der ja als Mister Brexit bekannt wurde, liegt derzeit in nationalen Umfragen sowohl vor Labour als auch den Tories und hat bei den Kommunalwahlen am 1. Mai überraschend viele Wahlkreise gewonnen. Seine Partei stellt durchaus eine ernstzunehmende Bedrohung dar – nicht nur für die Konservativen, sondern zunehmend auch für Labour. Vor diesem Hintergrund ist die ungewöhnlich scharfe Rhetorik Starmers meines Erachtens als Reaktion auf diese Entwicklung zu verstehen. Inhaltlich allerdings ist aber schon länger klar, dass Starmer Migration begrenzen will – das hatte er bereits im Wahlkampf betont. Wir sehen jetzt also vor allem die Ausarbeitung dessen, was er langfristig angekündigt hatte.Was soll sich in Einwanderungsfragen künftig konkret ändern?Grundsätzlich geht es Starmer darum, die Einwanderung zu reduzieren. Man darf nicht vergessen: Großbritannien verzeichnet Rekordzahlen bei der legalen Zuwanderung – insbesondere über Arbeits- und Studentenvisa. Im Jahr 2022/23 kamen rund 906 000 Menschen ins Land, im darauffolgenden Jahr waren es immer noch über 700 000. Das ist enorm viel, vor allem wenn man bedenkt, dass sowohl Konservative als auch Labour in den vergangenen 15 Jahren immer wieder versprochen hatten, die Migration zu senken – ohne Erfolg.Großbritannien verzeichnet Rekordzahlen bei der legalen Zuwanderung.Jetzt soll tatsächlich gehandelt werden. Eine zentrale Maßnahme betrifft die Zuwanderung in soziale Berufe, insbesondere in die Pflege. In diesem Bereich bestehen nach wie vor große Engpässe, viele Stellen sind unbesetzt. Gleichzeitig sind in Großbritannien rund neun Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter nicht erwerbstätig. Darunter sind sicherlich viele, die nicht arbeiten können – aber auch viele, auf die das nicht zutrifft. Starmer will gezielt in deren Qualifizierung investieren und sie in den Arbeitsmarkt integrieren. Für ihn ist das auch eine Frage der Fairness: Statt weiterhin Menschen aus dem Ausland zu holen, die in diesen Sektoren oft zu niedrigeren Löhnen arbeiten, sollen britische Staatsbürger zu guten Bedingungen in Arbeit gebracht werden. Das versteht er ausdrücklich als sozialdemokratisches Anliegen.Wie realistisch ist es, dass sich der heimische Arbeitsmarkt kurzfristig für Berufe wie die Pflege mobilisieren lässt? Ausbildung, Qualifizierung und Vermittlung brauchen ja Zeit.Das lässt sich schwer sagen. Natürlich: Die Menschen müssen erst motiviert werden, den Schritt aus dem Sozialbezug heraus zu machen – und dann qualifiziert werden. Das ist kein kurzfristiger Prozess. Aber auch bei zugewanderten Menschen bestehen Herausforderungen. Etwa bei Pflegekräften aus Ländern wie Nigeria: Auch hier muss überprüft werden, ob Qualifikationen und Zertifikate tatsächlich dem Standard entsprechen, bevor jemand im britischen Pflegesystem arbeiten kann. Außerdem müssen diese Menschen sozial wie kulturell integriert werden. Es handelt sich also in beiden Fällen um mindestens mittelfristige Aufgaben. Und genau deshalb ist es sinnvoll, schon jetzt an diesen Stellschrauben zu drehen. Migration hat langfristige Auswirkungen. Und darauf versucht Starmer politisch zu reagieren.Premierminister Starmer hat in der Vergangenheit deutlich offenere Positionen zur Migration vertreten. Wie glaubwürdig ist seine Kehrtwende?Das stimmt. Sowohl im Ton als auch inhaltlich klingt er heute ganz anders als noch vor zwei, drei Jahren. Aber warum sollte ein Premier seine Meinung nicht ändern, wenn die Rahmenbedingungen heute klar andere sind? Zum einen sind die Zuwanderungszahlen in den letzten Jahren auf ein historisches Rekordniveau gestiegen. Zum anderen gewinnt Nigel Farages Reformpartei mit genau diesem Thema an Zustimmung. Vor diesem Hintergrund finde ich es legitim, dass Starmer seine Position angepasst hat.„Take back control“ war einst der Slogan der Brexit-Befürworter. Nun wird Keir Starmer von progressiven Stimmen – auch aus den eigenen Reihen von Labour-Abgeordneten – wegen seiner Migrationspläne kritisiert und des Rechtsrucks bezichtigt. Wie schätzen Sie das ein?Ohne Frage handelt es sich um einen Rechtsruck. Die entscheidende Frage ist jedoch: Führt er Labour aus der politischen Mitte heraus – oder bringt er die Partei gerade zurück dorthin? Meiner Einschätzung nach trifft Letzteres zu. Starmer versucht nicht erst jetzt, sondern schon seit Längerem, die politische Mitte Großbritanniens zurückzugewinnen – und zwar von links. Labour hatte bei vielen Wählerinnen und Wählern zuletzt nicht mehr den Ruf, eine Partei der Arbeiter oder der unteren und mittleren Einkommensschichten zu sein. Vielmehr wurde sie als eine Kraft wahrgenommen, die eher in kosmopolitischen Ideenwelten zu Hause ist.Wenn Starmer Labour mehrheitsfähig machen will, muss er die Partei in die gesellschaftliche Mitte führen.Wenn Starmer Labour mehrheitsfähig machen will, muss er die Partei in die gesellschaftliche Mitte führen. Damit hat er schon vor seiner Amtszeit als Premier begonnen. Er hat die Partei entschlossen von radikal linken Positionen befreit, die sie unter Jeremy Corbyn vertreten hat. Zahlreiche Corbyn-Anhänger wurden aus Partei und Fraktion gedrängt. Auch gegen Antisemitismus ist Starmer kompromisslos vorgegangen. Sein Vorgehen ist also keine neue Strategie, sondern Teil eines größeren strategischen Plans, Labour wieder in der Mitte mehrheitsfähig zu machen.Wie erfolgreich ist diese Strategie bisher? Labour hat die letzten Wahlen zwar haushoch gewonnen, doch die Umfragewerte sind seither in den Keller gerutscht.Im Moment ist die Strategie noch überhaupt nicht erfolgreich. Und eine Klarstellung ist wichtig: Labour hat die Wahl nicht wirklich gewonnen – die Tories haben sie krachend verloren. Das ist zentral für das Verständnis der politischen Lage in Großbritannien. Es gab und gibt hier keine Liebe für Labour, sondern vor allem eine tiefe Abneigung gegenüber den Tories. Viele Wähler haben Labour nur deshalb gewählt, weil sie zu diesem Zeitpunkt die einzig realistische Alternative waren. Die Reform UK-Partei von Nigel Farage hat sich erst fünf Wochen vor der Wahl zur Kandidatur entschlossen. Sie hatte deshalb noch nicht in allen Wahlkreisen Kandidaten aufgestellt – war also gar nicht flächendeckend wählbar. Umfragen deuteten aber schon damals darauf hin: Hätten die Menschen eine dritte Option gehabt – eine glaubwürdige, konservativere Partei –, dann hätten viele diese gewählt.In Großbritannien existiert eine strukturell konservative Mehrheit. Und Starmer weiß, dass er diese ansprechen muss. Seine Strategie ist also langfristig angelegt. Er hat noch vier Jahre Legislatur vor sich – und ich glaube, er will diese Zeit nutzen, um mit solider Politik die politische Mitte dauerhaft für Labour zu gewinnen.Die Entwicklungen, die Sie beschreiben, sind kein rein britisches Phänomen. Die dänischen Sozialdemokraten verfolgen seit Jahren eine restriktive Migrationspolitik. Labour scheint sich nun an diesem Modell zu orientieren. Welche Lehren könnten andere europäische Sozialdemokraten, etwa die SPD, daraus ziehen?Das dänische Beispiel ist in der Tat sehr aufschlussreich. Die rechtspopulistische Dänische Volkspartei war noch vor zehn Jahren politisch tonangebend – heute ist sie zu einer marginalen Kleinstpartei geschrumpft. Das widerspricht der oft – auch in den Medien – verbreiteten These, wonach eine strengere Migrationspolitik populistische Kräfte stärke. Die Realität zeigt eher das Gegenteil. Die AfD ist in einer Zeit stark geworden, in der Angela Merkel eine der liberalsten Einwanderungspolitiken der Nachkriegszeit betrieben hat. Ich glaube viel eher, dass gerade Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterschicht sich mehr Kontrolle über Einwanderung wünschen. Ich würde nicht einmal von restriktiver Migrationspolitik sprechen, sondern von regel- und gesetzeskonformer Einwanderungspolitik.Erst letzte Woche habe ich mit vielen Menschen in einem klassischen Labour-Stadtteil von Liverpool gesprochen. Diese Leute sind nicht gegen Einwanderung an sich, sie sind auch nicht rassistisch. Aber immer wieder kam das Wort „Fairness“ auf. Wie kann es sein, dass wir keine Wohnungen für unsere Kinder finden, Migranten aber Unterkünfte bekommen oder in Hotels untergebracht werden? Das empfinden viele einfach als ungerecht.Und wenn das Problem durch immer mehr Zuzug noch größer wird, dann leidet das Vertrauen in die Fähigkeit der Politik, es zu lösen. Hier in Großbritannien ist das Problem nicht nur ungelöst geblieben – es wurde durch verschiedene Regierungen seit dem Brexit sogar noch verschärft. Deshalb gibt es eine enorme Frustration im Land. Ich finde es deshalb auch nicht populistisch, sich dieser Frage ernsthaft zu widmen. Es ist ein echtes Problem, das die Menschen bewegt – nicht, weil sie menschenfeindlich wären, sondern weil sie ein ganz basales Gerechtigkeitsempfinden haben.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal