„Was zwanzig Jahre Verhandlungen nicht erreicht haben“

30.06.25 12:10 Uhr

Die Fragen stelle Nikolaos Gavalakis.Die Angriffe Israels und der USA haben den Iran schwer getroffen. Wie geschwächt ist das iranische Regime?Auf der einen Seite gibt es eine materielle Schwächung des Regimes, die vermutlich substanziell ist. Nach allem, was wir wissen, wurde das iranische Atomprogramm ernsthaft beschädigt, wenn auch wahrscheinlich nicht vollständig ausgeschaltet. Es geht dabei nicht nur um die drei bekannten Anreicherungsanlagen, sondern auch darum, dass die Israelis mit ihren Angriffen etwa 40 Generäle getötet haben, also einen erheblichen Teil der Führung der Revolutionswächter. Außerdem wurden viele Labore und zentrale Schaltstellen des Regimes getroffen, etwa das Innenministerium oder der Geheimdienst. Da ist viel kaputtgegangen, und es wird einige Zeit brauchen, um das wieder aufzubauen.Was das Atomprogramm betrifft, gibt es unterschiedliche Einschätzungen, und man wird in den nächsten Tagen und Wochen sehen, worauf sich der Konsens einpendelt. Ich glaube aber nicht, dass sich das Programm so einfach reaktivieren lässt. Die Vorstellung, der Iran könne jetzt übermorgen eine Atombombe bauen, halte ich für unrealistisch.Aber die eigentliche Gretchenfrage ist: Hat der Angriff das Regime auch politisch geschwächt? Also: Gibt es nun für die Opposition die Chance, sich besser zu organisieren und das Regime herauszufordern? Oder führt der Angriff eher zu einem „Rally-around-the-flag“-Effekt, bei dem sich die Bevölkerung – trotz allem – hinter das Regime stellt? Darauf habe ich keine abschließende Antwort – und ich glaube, viele außenstehende Beobachter auch nicht. Ich bin aber hoffnungsvoll, dass, wenn der äußere Druck nachlässt und die Angriffe etwas zurückliegen, die materiellen Schäden dem Regime auf lange Sicht zusetzen und der Opposition neue Spielräume eröffnen. Der Solidarisierungseffekt mit dem Regime – sofern es ihn überhaupt gibt – könnte mit der Zeit nachlassen und die inneren Widersprüche und Schwächen des Regimes wieder deutlicher hervortreten.Sie zielen auf einen möglichen Regimewechsel ab?Ja, ich glaube, dass sich dadurch irgendwann die Möglichkeit eines Regimewechsels eröffnen könnte. Allerdings nicht sofort – und nicht von außen. Ich denke da eher an Beispiele wie Jugoslawien in den 1990er-Jahren – etwa Serbien nach den NATO-Angriffen im Kosovo-Krieg 1999. Auch dort gab es zunächst einen Solidarisierungseffekt, den Milosevic für sich nutzen konnte. Aber nach ein, zwei Jahren ließ das nach. Die Defizite des Regimes wurden sichtbarer – und schließlich kam es zu einem Regimewechsel, der von der Bevölkerung selbst initiiert wurde. Vielleicht ist das ein Modell, das auch hier Anwendung finden könnte.In der westlichen Rhetorik ist oft vom radikalen, unberechenbaren „Mullah-Regime“ die Rede – einem irrationalen Akteur. War die iranische Reaktion auf die Angriffe nicht überraschend zurückhaltend, fast schon besonnen?Ja, das könnte man tatsächlich so sehen. Der Vergeltungsschlag war gut kalibriert. Er war wichtig, auch zur Legitimation nach innen – um zeigen zu können: Wir haben zurückgeschlagen. Gleichzeitig war er aber so angelegt, dass er nach außen auch als Signal verstanden werden konnte: Der Iran will keine weitere Eskalation.Das ist ja in allen Kriegen wichtig – so zynisch es klingt: Kriege sind auch Kommunikation. Man sendet mit Militärschlägen Botschaften. Und das Signal hier war klar: Wir wollen nicht weiter eskalieren. Nach innen aber wurde dadurch deutlich gemacht: Wir lassen uns nicht demütigen, wir schlagen zurück. Und das verkauft das Regime jetzt als Erfolg. Sie behaupten, sie hätten den Westen in die Knie gezwungen und dass nach ihrem Gegenschlag die israelischen Angriffe aufgehört hätten – was natürlich absurd ist. Aber genau dieses Narrativ wird nun verbreitet.Kriege sind auch Kommunikation. Man sendet mit Militärschlägen Botschaften.Insofern: Ja, dieser Gegenschlag war strategisch sehr geschickt gesetzt. Und es war auch nicht das erste Mal. Schon 2020, nach der Tötung von General Soleimani durch die Trump-Administration, war es ähnlich: ein symbolischer Vergeltungsschlag auf eine US-Basis im Irak, bei dem niemand getötet wurde. Auch damals war das eine sorgfältig kalkulierte Reaktion.Seit zwei Jahrzehnten heißt es, der Iran stehe kurz vor der Atombombe. Doch politisch schien das Regime nie bereit, den letzten Schritt zu gehen. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass – gerade nach den jüngsten Angriffen – nun die Stimmen im Iran überwiegen, die sagen: Für unsere Sicherheit brauchen wir die Bombe?Ja, sicherlich gibt es einige Hardliner, die ganz offen sagen: Das alles wäre nicht passiert, wenn wir eine Atombombe hätten. Aber die entscheidende Frage ist ja nicht nur, was der Iran will, sondern auch, was er kann. Ist das Regime überhaupt in der Lage, sein Atomprogramm schnell wieder hochzufahren und daraus eine Waffe zu machen? Und vor allem: Würden Israel oder der Westen das zulassen?Die Antwort auf die letzte Frage ist natürlich: Nein. In dem Moment, in dem Israel oder die USA Hinweise bekommen, dass der Iran sein Atomprogramm reaktiviert – mit dem Ziel, eine Waffe zu bauen –, gehe ich fest davon aus, dass sie erneut militärisch eingreifen würden.Wir befinden uns jetzt in einer neuen Phase: Die Verhandlungslogik der vergangenen 20 Jahre wurde abgelöst durch eine militärische Logik. Die sagt: Es ist egal, was Irans Absichten sind – sobald es konkrete Hinweise auf ein aktives Atomprogramm gibt, wird es zerstört. Man kann diese Entwicklung natürlich kritisieren. Aber das ist letztlich die ordnungspolitische Konsequenz dieses Zwölftagekriegs.In Deutschland wurde das Vorgehen Israels von vielen begrüßt – auch von Kanzler Merz. Könnten solche Aussagen Israel nicht ermutigen, künftig militärische statt diplomatische Wege zu bevorzugen?Ich glaube, das hängt vor allem davon ab, wie viel Toleranz es dafür vonseiten des amerikanischen Präsidenten gibt. Erstens müssen wir als Europäer – auch als Deutschland – akzeptieren, so schwer es uns fällt: Wir haben in diesem Konflikt zuletzt praktisch keine Rolle gespielt. Wir waren keine aktiven Akteure und haben nichts beigetragen, weder positiv noch negativ. Zweitens: Wenn die militärische Logik künftig dominiert, werden wir auch weiterhin kaum Einfluss auf die Entwicklungen in der Region haben. Und drittens: Israel wird das tun, was Donald Trump erlaubt. Strategisch betrachtet gibt es für Israel nur eine echte Begrenzung – und das sind die USA. Die Israelis wissen genau, dass sie von Amerika abhängig sind. Sie brauchen Trumps Zustimmung, seine Unterstützung. Wenn Trump etwas für in Ordnung befindet, wird Israel es tun. Wenn Trump ein Veto einlegt, dann nicht.Das haben wir ja auch am Ende des Konflikts gesehen: Trump hat gesagt, jetzt ist Schluss. Die Israelis wollten weitermachen, aber Trump hat Nein gesagt. Und dann haben sie aufgehört. Es hängt also nicht von Deutschland, Frankreich oder Großbritannien ab, sondern fast ausschließlich von den Vereinigten Staaten.Sie haben kürzlich gesagt, Donald Trump habe womöglich mehr erreicht als zwei Jahrzehnte westlicher Diplomatie. Woran machen Sie das fest?Das war natürlich etwas zugespitzt formuliert. Aber ich glaube schon, dass da etwas dran ist – je nachdem, wie stark das Atomprogramm tatsächlich beschädigt wurde. Wenn es so zerstört ist, dass es nicht in kurzer Zeit wieder hochgefahren werden kann, und dafür gibt es durchaus Hinweise, dann wäre das de facto ein Ende des iranischen Atomprogramms.Und ich denke, dass das Regime auch materiell massiv geschwächt wurde. Das ist etwas, was zwanzig Jahre Verhandlungen nicht erreicht haben. Ob es letztendlich zu einem Regimewechsel kommt, weiß natürlich niemand. Aber die Voraussetzungen dafür sind vermutlich besser als zuvor. Insgesamt muss man sagen: Es ist eine Zäsur. In meiner gesamten Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt war das iranische Atomprogramm immer ein Dauerthema. Seit über zwanzig Jahren gibt es endlose Verhandlungsrunden. Diese werden abgebrochen, dann geht es wieder weiter, neue Vorschläge, es passiert wieder nichts – ein ewiger Kreislauf.Jetzt, erstmals, besteht die Möglichkeit, dass dieses Thema tatsächlich für eine gewisse Zeit vom Tisch ist. Aber wie gesagt: Das hängt davon ab, wie stark das Programm wirklich zerstört wurde.Außenminister Wadephul sieht die Europäer bei möglichen neuen Atomverhandlungen mit dem Iran in einer starken Position – Zitat: „Wir haben ein ganz gutes Blatt.“ Teilen Sie diese optimistische Einschätzung?Bei allem Respekt für den Außenminister: Nein. Ich glaube nicht, dass die Europäer aktuell viel zur Situation beitragen – vor allem, weil wir es derzeit mit einer militärischen Logik zu tun haben, nicht mit einer diplomatischen. Und da haben die Europäer schlicht keine Rolle gespielt. Wenn es jetzt doch zu neuen Verhandlungen kommt – und die Chance dafür ist durchaus da, weil alle Seiten eigentlich mehr Interesse an Gesprächen als an einer Fortsetzung des Konflikts haben –, dann müsste Europa überhaupt erst einmal dafür sorgen, dass es am Tisch sitzt. Das war bei den letzten Gesprächen zwischen den USA, die vor ein paar Wochen geendet haben, ja auch nicht der Fall.Wenn Europa eine Rolle spielen will, braucht es neue Ideen, neue Vorschläge – sonst bleibt es außen vor.Und dann müsste Europa erklären, was es überhaupt konkret einbringen kann – gerade im Kontext dieser militärischen Dynamik? Mir fällt da im Moment ehrlich gesagt wenig ein. Ein Vorschlag, den man als europäische Idee verstehen könnte, kam zuletzt ausgerechnet von den Amerikanern: Sie hatten vor Beginn des Konflikts in einer Verhandlungsrunde mit dem Iran vorgeschlagen, dem Land zwar den Zugang zur friedlichen Nutzung von Kernenergie zu ermöglichen – aber nur in einem regionalen Verbund, also gemeinsam mit anderen Staaten, die sich quasi gegenseitig überwachen. Das ist im Prinzip eine ur-europäische Idee – es erinnert stark an den Schuman-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg: Kohle und Stahl sollten gemeinsam verwaltet werden, damit kein Land – besonders natürlich Deutschland – heimlich aufrüsten kann. Das war der Ursprung der europäischen Einigung.So ein Modell hätte eigentlich von Europa kommen müssen, nicht von den USA. Und das ist genau der Punkt meiner Kritik, die viele andere teilen: Die Europäer haben noch nicht verstanden, dass sie in dieser aktuellen Situation keine echte Rolle mehr spielen. Es fehlt ihnen an eigenständigem, kreativem diplomatischem Denken. Die Europäer wollen zurück zum JCPOA von 2015. Das ist ihre nostalgische Wunschvorstellung. Aber dieses „Zurück“ gibt es nicht mehr. Wenn Europa eine Rolle spielen will, braucht es neue Ideen, neue Vorschläge – sonst bleibt es außen vor. Denn im Moment ist das ein Konflikt zwischen Israel, unterstützt von den USA, und dem Iran. Europa steht daneben.Zuletzt wächst die Sorge, dass mit den Angriffen auf den Iran auch die islamistische Terrorgefahr in Europa wieder zunehmen könnte. Wie sehen Sie das?Ich glaube, die islamistische Terrorgefahr nimmt schon seit einiger Zeit wieder zu – und zwar seit der Terroroffensive vom 7. Oktober 2023 und dem anschließenden Konflikt. Seitdem sehen wir eine deutliche Zunahme versuchter Anschläge in Europa. Und ehrlich gesagt wundert es mich, dass nicht schon mehr passiert ist. In Deutschland gab es den Anschlag in Solingen, dazu mehrere kleinere, vereitelte oder missglückte Anschläge. Wenn man das vergleicht mit der Wut, die online spürbar ist – Wut auf den Westen, auf Israel, auf die USA –, dann haben wir bislang noch Glück gehabt.Ich bin überzeugt, dass uns ein weiterer Anstieg islamistischer Anschläge bevorsteht. In der Vergangenheit gab es meist eine gewisse Verzögerung zwischen einem Schlüsselereignis und den tatsächlichen Anschlägen. Nach dem 11. September 2001 etwa folgten die großen Anschläge in Europa erst 2004 in Madrid und 2005 in London. Nach Beginn des Syrienkonflikts 2011 kam es zu den Anschlägen in Paris, Brüssel, Barcelona und Berlin zwischen 2014 und 2016. Es dauert offenbar immer eine gewisse Zeit, bis eine Mobilisierung so weit voranschreitet, dass tatsächlich etwas passiert.Wir hatten jetzt den 7. Oktober 2023 und den daraus folgenden Konflikt. Man sieht auf sozialen Medien, in Internetforen, aber auch im islamistischen Milieu selbst: Nach Jahren der Demobilisierung und Frustration gibt es wieder Zulauf, vor allem von jungen Menschen. Diese Wut muss quasi nur noch abgeholt und in eine gewisse Richtung gelenkt werden. Bisher ist das nicht in großem Stil passiert, aber ich befürchte, dass uns da möglicherweise noch etwas bevorsteht.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal