Weder abwegig noch empörend

13.06.25 17:26 Uhr

Der mediale und politische Tumult um das Manifest zur Ukraine-Politik von Ralf Stegner, Rolf Mützenich und weiteren Mitunterzeichnern offenbart vor allem eines: Der deutschen öffentlichen Reflexion und Debatte zur internationalen Politik mangelt es an Niveau – sowohl inhaltlich als auch im Umgangston. Beides steht in einem engen Zusammenhang.Bei einer kritischen Lektüre treten zunächst Schwächen des Manifests selbst zutage – und diese sind durchaus gravierend. Die Größte: Das Manifest propagiert zwar sehr entschieden Diplomatie als Weg zur Beendigung des Krieges, blendet aber die Frage aus, welches Interesse der Kreml derzeit überhaupt an Verhandlungen haben kann. Wie in dieser Lage diplomatisch ein Frieden angebahnt und gleichzeitig die Souveränität der Ukraine gewahrt werden soll, wird durch eine vage Formel umgangen.Auch die Rekapitulation des Zerfalls der KSZE-Ordnung, deren Reaktivierung die Autoren fordern, lässt historisch zu wünschen übrig. Es werden nahezu ausschließlich Verfehlungen des Westens aufgezählt – vom NATO-Einsatz in Serbien bis zur Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen. Völkerrechtsverletzungen Russlands, etwa bei der Annexion der Krim oder im Zusammenhang mit den Kriegen in Georgien und Syrien, bleiben hingegen unerwähnt und werden allenfalls durch ein vages „auch“ angedeutet. Ob das Scheitern der Minsker Vereinbarungen ebenfalls einseitig dem Westen oder der Ukraine zugeschrieben wird, bleibt angesichts der unpräzisen Formulierungen offen.Diese Mängel verleihen dem Papier in der Tat einen tendenziösen Anstrich und wirken zumindest sehr unglücklich. Andererseits wäre es falsch, das ganze Manifest nur anhand seiner Schwachstellen zu beurteilen, ohne auch seine generellen politischen Forderungen in Anschlag zu bringen und sie in einen breiteren politischen Kontext zu stellen.Der eingeforderte Primat der Diplomatie wird konsequent mit dem Ziel einer eigenständigen europäischen Verteidigungsfähigkeit verknüpft.Was die konkreten politischen Elemente betrifft, so findet sich in ihnen weder abwegiges noch empörendes. Der eingeforderte Primat der Diplomatie wird konsequent mit dem Ziel einer eigenständigen europäischen Verteidigungsfähigkeit verknüpft. Die Autoren wenden sich lediglich gegen eine massive Aufrüstung, die – als Bereitschaft zum Angriff interpretierbar – selbst neue Sicherheitsrisiken heraufbeschwören könnte. Sie drängen auf eine baldige Wiederaufnahme der Rüstungskontrollverhandlungen, werben, in bewusster Abgrenzung zur Abschreckungsdoktrin, für Konzepte kollektiver Sicherheit in Europa und warnen davor, das Militärische isoliert zu betrachten: nicht nur aus strategischer Perspektive, sondern auch, weil damit verbundene Haushaltsmittel für soziale Aufgaben fehlen könnten, bis hin zu globalen Herausforderungen wie der Klimapolitik.All dies sind etablierte Positionen und Denkfiguren, wie sie in ähnlicher Form seit jeher von verschiedensten Akteuren der internationalen Politik vertreten werden. Sie stehen vor allem in der Tradition der „Tauben“, die im Unterschied zu den „Falken“ stärker auf Kooperation als auf Konfrontation setzen. Dass eine erfolgreiche Politik je nach konkreter Situation beide Aspekte zu kombinieren hat, liegt auf der Hand und wird auch vom aktuellen Friedensgutachten empfohlen, das flankierend zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit auf diplomatische Initiativen und Rüstungskontrolle setztZweifellos vertreten die heutigen „Tauben“ in Deutschland eine Minderheitsmeinung – doch das macht ihre Positionen nicht weniger legitim. Bezieht man die (Selbst-)Kritik an der NATO-Osterweiterung als weiteres Merkmal dieser Haltung mit ein, zeigt sich: Im englischsprachigen Diskurs ist diese Minderheit bereits deutlich breiter aufgestellt. Und global betrachtet dürfte das Meinungsspektrum weit ausgewogener sein – wie zahlreiche Stellungnahmen aus Ostasien und dem Globalen Süden vermuten lassen.Vor einem derart erweiterten Hintergrund stellt sich die Frage, was an den politischen Forderungen des Manifests von Stegner und Mützenich eigentlich so anstößig sein soll – wenn nicht die Tatsache, dass sie sich damit in Opposition zur Hauptlinie ihrer Partei und der Regierung begeben.Mit der gebotenen Skepsis betrachtet, zeigt sich auf beiden Seiten ein beachtliches Maß an Wunschdenken.Zurück zu den manifesten Schwächen des Papiers – an ihnen entzündet sich schließlich ein Großteil der oft vernichtenden öffentlichen Kritik. Doch wäre es nicht ein Gebot der Redlichkeit, auch die Gegenseite mit derselben Elle zu messen? Wo in diesem Manifest eine selektiv westkritische Darstellung historischer Fehler beanstandet wird, zeigt sich in der derzeit tonangebenden politischen Rhetorik das genaue Spiegelbild: ein systematisches Ausblenden möglicher eigener Mitverantwortung in der Entstehungsgeschichte dieses Krieges. Gerade dort, wo ein unbequemer Blick gefordert wäre, scheint keine der Seiten besonders genau hinsehen zu wollen.Auch in ihrer Unfähigkeit, die eingeforderten Politiken in durchführbare und nachhaltig erfolgversprechende Strategien zu übersetzen, nehmen sich Diplomatie-Tauben und Rüstungs-Falken wenig. Wo es der diplomatischen Seite an einem tragfähigen Konzept fehlt, wie Verhandlungen mit der Wahrung der ukrainischen Souveränität vereinbar sein sollen, mangelt es aufseiten des militärischen Primats an einem Szenario, das Kriegsbereitschaft ohne Eskalationsgefahr ermöglicht – an einer Vorstellung davon, wie ein Kriegsende ohne totale Erschöpfung im Abnutzungskrieg erreichbar wäre und wie bis dahin das fortgesetzte Sterben gerechtfertigt werden soll.Mit der gebotenen Skepsis betrachtet, zeigt sich auf beiden Seiten ein beachtliches Maß an Wunschdenken. Womöglich geht es kaum anders, denn wir befinden uns, so könnte man sagen, bereits in einer post-katastrophalen Situation. Die Katastrophe des Krieges ist eingetreten und nicht mehr rückgängig zu machen. Von der Illusion eines „guten Endes“ müssten sich realistischerweise alle politischen Lager verabschieden. Es geht längst nur noch darum, das am wenigsten schlechte Ergebnis zu erreichen.Insbesondere der Vorwurf, es handle sich um ein „Nachplappern russischer Propaganda“, greift zu kurz.Keine der genannten Schwächen des Manifests rechtfertigen jedenfalls das Toben und die Häme, das derzeit über den medialen Raum hereinbricht – von Vorwürfen der „Geschichtsklitterung“ über Begriffe wie „Fünfte Kolonne“ bis hin zur Unterstellung „russischer Propaganda“. So reagiert nur, wer die internationale Debatte nicht kennt oder nicht bereit ist anzuerkennen, dass es neben der eigenen Perspektive auf das Geschehen auch andere, mitunter konträre, Sichtweisen geben kann, die legitim sind.Insbesondere der Vorwurf, es handle sich um ein „Nachplappern russischer Propaganda“, greift zu kurz. Propaganda lässt sich nicht allein daran festmachen, dass bestimmte Aussagen mit den „Talking Points“ einer gegnerischen Seite übereinstimmen. Ihr Kennzeichen ist der manipulative, strategisch eingesetzte Sprechakt – kurz: die bewusste Lüge. Den Autoren ein solches Vorgehen zu unterstellen, ist absurd.Der Fehler, jegliche auch nur teilweise inhaltliche Übereinstimmung zum Anlass für den Vorwurf zu nehmen, Propaganda zu reproduzieren, durchzieht als roter Faden viele derartigen Debatten – und das nicht erst seit 2022. Ein Blick zurück auf die Nachrüstungsdebatte rund um den NATO-Doppelbeschluss der frühen 1980er Jahre lohnt in diesem Zusammenhang. Bereits damals machte der Philosoph Ernst Tugendhat – in einem virtuosen fiktiven Dialog zwischen „Falken“ und „Tauben“ im Spiegel – deutlich, dass der Vorwurf, Moskau in die Hände zu spielen, nur dann triftig wäre, „wenn alles, was Moskau nützt, dem Westen schadet, und umgekehrt.“Man muss gar nicht bis zur Frage des „Nutzens“ gehen: Wer eine Position allein deshalb tabuisiert, weil auch der Gegner etwas Ähnliches sagt, beraubt sich auf Dauer des klaren Blicks auf die politische und historische Realität.Die Bilanz bei der Lektüre des Manifests der SPD-Friedensgruppe bleibt gemischt. Bedauerlich ist, dass die Kritik an einer möglicherweise reflexhaften Übermilitarisierung der Außenpolitik mit entspannungspolitischer Nostalgie und einem allzu unkritischen Blick auf die russischen Anteile am Konflikt vermengt wird. Dabei wäre eine fundierte, differenzierte öffentliche Gegenposition zur Linie Merz ausdrücklich zu begrüßen – unabhängig davon, ob man sich ihr im Einzelnen anschließen möchte oder nicht.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal