Willkommen in der Wolfswelt

26.06.25 14:50 Uhr

Die Tragik der deutschen Debatte besteht darin, dass quer durch das politische Spektrum kaum jemand die richtigen Schlüsse aus der veränderten strategischen Lage Europas nach dem Ende der Pax Americana zieht.Die Trump-2.0-Regierung legt die Axt an die Säulen der liberalen Weltordnung. Der Rückzug aus der Weltgesundheitsorganisation und dem Pariser Klimaabkommen zeigt, dass der liberale Hegemon die von ihm geschaffene Global Governance-Architektur nicht länger trägt. Der Zollkrieg verdeutlicht den Bruch mit der offenen Weltwirtschaftsordnung zugunsten eines protektionistischen Regimes. Der Austritt aus dem UN-Menschenrechtsrat und die Angriffe auf die US-Entwicklungsagentur USAID sowie auf die Denkfabrik National Endowment for Democracy markieren das Ende des Anspruchs, Demokratie und Menschenrechte weltweit zu fördern. Der Hegemon erklärt die von ihm begründete und über Jahrzehnte garantierte liberale Weltordnung für obsolet.Wer glaubt, dieser Kurs werde mit dem Ablauf von Trumps Amtszeit enden, irrt jedoch. Der Rückzug der USA als Weltpolizist begann vor Trump und wird ihn überdauern – unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt. Der Wiederaufstieg von China, Indien und Russland bedingt den relativen Abstieg des Westens. Der unipolare Moment nach dem Kalten Krieg ist unwiderruflich vorbei. Die USA haben sich in ihrer Hegemonie überdehnt – militärisch durch unnötige Kriege wie in Afghanistan und im Irak, ökonomisch durch den selbstverschuldeten Finanzkollaps und strukturell, weil sie der wachsenden Nachfrage nach globalen öffentlichen Gütern in einer hochvernetzten Welt nicht mehr gerecht werden können. Im Jahr 2024 überstieg der Schuldendienst erstmals die Militärausgaben – für Historiker wie Niall Ferguson ein Wendepunkt, an dem der Abstieg eines Hegemons unaufhaltsam wird.In dem Bonmot, Trump sei der amerikanische Gorbatschow, liegt ein Funken Wahrheit. Die Erkenntnis der Überdehnung und der Notwendigkeit strategischer Korrekturen setzt sich parteiübergreifend bei den klügeren Köpfen durch. Auch eine demokratische Regierung wird einsehen müssen, dass die Ressourcen einer Supermacht nicht ausreichen, um Dominanz in einer Welt mit zwei anti-hegemonialen Kriegen und einem drohenden dritten in Ostasien zu behaupten. Ob der MAGA-Kulturkampf gegen Sprechverbote tatsächlich mehr Meinungsfreiheit bringt (Glasnost), und ob der DOGE-Umbau des Staatsapparats (Perestroika) und der Rückzug aus internationalen Verpflichtungen nicht ebenso zum Kollaps des Imperiums führt, bleibt offen.Die globalen Umbrüche verändern die Rahmenbedingungen für Wirtschaft, äußere Sicherheit und innere Ordnung grundlegend.Niemand kann heute sagen, wie die Weltordnung von morgen aussehen wird – oder ob es überhaupt eine geben wird. Wird Europa zu einem eigenständigen Machtpol oder zum Spielball anderer Mächte? Ist die transatlantische Partnerschaft dauerhaft beschädigt, oder erleben wir eine Neuauflage mit neuer Lastenverteilung? Bleibt die Weltwirtschaft offen, oder zerfällt sie in konkurrierende Blöcke?Wir befinden uns in einer Phase strategischer Unsicherheit. Schon heute müssen Entscheidungen über militärische Beschaffung, Energieversorgung und die Gestaltung von Lieferketten getroffen werden, die jahrzehntelange Pfadabhängigkeiten schaffen, obwohl niemand vorhersagen kann, wie die Welt im nächsten Jahr aussieht.Klar ist: Die globalen Umbrüche verändern die Rahmenbedingungen für Wirtschaft, äußere Sicherheit und innere Ordnung grundlegend. Wer die deutsche Debatte verfolgt, kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass die Konsequenzen daraus bislang nicht ausreichend diskutiert werden.  Ein Überblick über die verschiedenen Denkschulen:Entspannungspolitiker verweisen zu Recht darauf, dass es langfristig zu einem Ausgleich mit Russland kommen muss, um eine friedliche Koexistenz auf dem europäischen Kontinent zu ermöglichen. Dabei übersehen sie jedoch, dass die Entspannungspolitik der 1970er Jahre Angebote zu Rüstungskontrolle und Abrüstung mit eigener Wehrfähigkeit verband. Nicht zufällig fällt die NATO-Nachrüstung in dieselbe historische Phase wie die ABM- und SALT-Verträge zur Rüstungskontrolle. Obwohl die USA damals noch klar zu ihren Sicherheitsgarantien standen, lagen die deutschen Verteidigungsausgaben während der Kanzlerschaft Helmut Schmidts bei über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Heute stellt die Trump-Regierung das amerikanische Beistandsversprechen offen in Frage und unterminiert damit die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der westlichen Allianz. Dennoch unterschätzen viele heutige Entspannungspolitiker die militärische Verwundbarkeit Europas nach dem Wegfall des amerikanischen Schutzschirms.Pazifisten stellen die Notwendigkeit, militärische Fähigkeitslücken zu schließen, grundsätzlich in Frage. Aus der berechtigten Sorge, dass höhere Verteidigungsausgaben durch Einschnitte im sozialen Sicherheitsnetz gegenfinanziert werden könnten, verurteilen sie die Wiederherstellung der nur bedingt verteidigungsfähigen Bundeswehr als Rückfall in Militarismus und Großmachtstreben. Dabei ist die strategische Bedrohungslage eine andere als zu den Hochzeiten der Friedensbewegung in den 1980er Jahren: Während sich die Sowjetunion damals bereits aus ihrer Überdehnung zurückzog, agiert Russland heute aggressiv und revanchistisch.Die Trump-Regierung arbeitet sogar mit Russland zusammen, um Druck auf die Europäer aufzubauen.Transatlantiker erkennen die Verwundbarkeit Europas und setzen daher alles daran, den amerikanischen Rückzug durch Zugeständnisse zu verzögern. Dabei übersehen sie die veränderte strategische Priorität der USA. Anders als im Kalten Krieg, als das atlantische Bündnis durch die gemeinsame Bedrohung aus Eurasien geeint war, sehen die USA heute China als zentrale Herausforderung. Die Verlagerung der Verteidigungslasten auf europäische Schultern ist in Washington längst parteiübergreifender Konsens. Die Trump-Regierung arbeitet sogar mit Russland zusammen, um Druck auf die Europäer aufzubauen. Selbst wenn sich Befürchtungen über eine Autokratisierung der USA nicht bewahrheiten sollten, kann Europa seine Sicherheit nicht mehr ausschließlich auf eine fragile Wertepartnerschaft mit einem erratischen Partner stützen, der längst auf den Exit Richtung Pazifik schielt.Multilateralisten erkennen, dass das aus Verträgen geformte Europa in einer regellosen Wolfswelt, in der das Recht des Stärkeren das Völkerrecht bricht, nicht bestehen kann. Doch die liberalen Fantasien der 1990er Jahre, die nach dem vermeintlichen „Ende der Nationalstaaten“ vom Ausbau globaler Governance träumten, haben sich als Illusion erwiesen. Völkerrecht und multilaterale Institutionen entstehen nicht von selbst, sondern sind auf die Durchsetzungsmacht eines Hegemons angewiesen – der jedoch inzwischen die von ihm geschaffene Ordnung selbst für obsolet erklärt hat.Auch die neoliberalen Freihändler glauben weiterhin an die wohlstandsschaffende und friedensstiftende Kraft wirtschaftlicher Verflechtung. Anders als in den 1990er Jahren fördert der liberale Hegemon jedoch keine Interdependenz mehr, sondern attackiert die offene Weltwirtschaftsordnung mit einem protektionistischen Zollkrieg. In der Ära der Geoökonomie richten sich Investitionsentscheidungen nicht mehr nach der Marktlogik, sondern nach geopolitischen Interessen.Menschenrechtler weisen zu Recht darauf hin, dass Demokratie und Grundrechte weltweit unter Druck stehen. Die linksliberale Fraktion übersieht jedoch, dass westliche Doppelstandards in Osteuropa und im Nahen Osten die Glaubwürdigkeit europäischer Rhetorik im Globalen Süden untergraben. Die neokonservative Fraktion, die heute in der Ukraine die Freiheit Europas verteidigen und den Iran mittels Regime Change befreien will, steckt geistig noch im „Krieg gegen den Terror“ fest – jener Phase, in der die USA versuchten, Demokratie mit militärischen Mitteln zu exportieren. Ob heute gelingen kann, was im Irak und in Afghanistan spektakulär gescheitert ist, ist zweifelhaft. Politisch übersehen die liberalen Interventionisten, dass MAGA die „endlosen Kriege der Globalisten“ beenden will – und die Neokonservativen im amerikanischen Deep State zum Hauptgegner erklärt hat.Europäische Föderalisten sehen Europa vor einem „Hamilton-Moment“ der Staatswerdung. Richtig daran ist, dass Europa einen Integrationsschritt vollziehen muss, wenn es sich in einem gefährlichen Umfeld behaupten will. Dabei übersehen sie jedoch, dass der Rückzug amerikanischer Schutzgarantien alte Ängste vor einem wiederbewaffneten und potenziell dominanten Deutschland neu belebt. Unterschiedliche Bedrohungsperzeptionen zwischen Ost-, West- und Südeuropa werden zudem die Fliehkräfte unter den europäischen Staaten verstärken.Europa muss lernen, die Geostrategien rivalisierender Mächte zu dekodieren.Neurechte Ethnopluralisten betrachten verschiedene Kulturen zwar als gleichwertig, wollen sie jedoch räumlich voneinander trennen, um deren „kulturelle Identität“ zu bewahren. Sie bewundern die Vitalität der neuen Nationalismen und feiern die „Verteidigung der westlichen Zivilisation“ gegen äußere und innere Feinde. Dabei übersehen sie, dass russische, israelische und amerikanische Neurechte den „verweichlichten“ Europäern häufig mit Verachtung begegnen. In Europas Krise wittern sie die Chance für einen EU-Austritt Deutschlands, verkennen jedoch, dass die europäischen Kleinstaaten auf sich allein gestellt zum Spielball der Großmächte würden. Gleichzeitig blenden sie aus, dass die US-Strategie darauf abzielt, Frontstaaten wie die Ukraine, Israel und Taiwan aufzurüsten, um sie als Stellvertreter zur Eindämmung russischer, iranischer und chinesischer Machtansprüche zu nutzen. Deutschland, die Golfstaaten und Japan sollen diese Frontstaaten unterstützen – mit dem Ergebnis, dass nationale Autonomie gerade nicht gestärkt, sondern amerikanischen Interessen untergeordnet würde.Keine dieser Denkschulen ist auf der Höhe der Zeit. Deshalb wirken ihre Analysen schief, ihre Debattenführung schrill und ihre Politikempfehlungen realitätsfern. Allerdings hat jede dieser Denkschulen tiefe Wurzeln. Sie können – ja, müssen – wiederbelebt werden, damit die deutsche Gesellschaft in ihrer Breite mental in der Wolfswelt ankommt.Europa muss lernen, die Geostrategien rivalisierender Mächte zu dekodieren, essentielle eigene Interessen zu formulieren und die Machtmittel bereitzustellen, um sich zu behaupten. Ein verwundbares Europa sollte grundsätzlich defensiv agieren. Die fragile, nur durch Verträge zusammengehaltene Union kann in einer regellosen Welt nicht überleben. Strategisch muss Europa daher Partner finden, um gemeinsam von der regelbasierten Ordnung zu retten, was zu retten ist.Taktisch muss Europa lernen, zwischen den Polen des Mächtekonzerts zu balancieren. Wird es von Putin und Trump in die Zange genommen, muss es die chinesische Karte spielen. Wird es von China und Russland bedroht, muss es sich den USA annähern. Eine multipolare Welt kann durch solche Gleichgewichtspolitik stabilisiert werden. Frieden entsteht also durch klug eingesetzte eigene Stärke – etwa indem man der anderen Seite ein Angebot macht, das zu einem stabilen Gleichgewicht führt. Wir werden Elemente aus allen – runderneuerten – Denkschulen brauchen, um in der Wolfswelt bestehen zu können.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal