„Wir machen einen Crashkurs in Realpolitik“
Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.Die Lage im Nahen Osten hat sich mit der US-Bombardierung der iranischen Nuklearanlagen deutlich verschärft. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?Die Lage hat sich in der Tat dramatisch zugespitzt, und wir wissen nicht, wohin die Reise führt. Die US-Regierung geht offenbar davon aus, dass die Angriffe auf die iranischen Atomanlagen eine einmalige Aktion waren und sich die USA nicht weiter in den Krieg hineinziehen lassen. Aber das ist keineswegs sicher. Israel setzt seine Angriffe fort, und auch der Iran beschießt weiterhin Israel. Der Schock des amerikanischen Angriffs war jedenfalls nicht groß genug, um den Krieg zu stoppen. Eine Ausweitung ist durchaus möglich. Optionen, die dem Iran bleiben, sind etwa eine Blockade der Straße von Hormus oder Angriffe auf amerikanische Ziele im Nahen und Mittleren Osten.Trump wollte ursprünglich einen besseren Deal mit dem Iran, hat die USA nun aber in den Krieg geführt. Warum dieser Kurswechsel?Er hat sich in Israels Krieg hineinziehen lassen. So hat es ja auch die New York Times beschrieben. Trump hat ernsthaft einen Deal gesucht. Er war überzeugt, dass er einen besseren Deal mit dem Iran aushandeln kann als Obama, die Europäer, die Russen und Chinesen damals im JCPOA. Er war auch zunächst nicht begeistert, dass Netanjahu den Krieg gegen den Iran begonnen hat. Aber am Ende hat er sich doch hineinziehen lassen. Er wollte den Erfolg offenbar selbst verbuchen und nicht den Israelis überlassen. Und jetzt steckt er mittendrin.Wenn man hört, was er unmittelbar nach den amerikanischen Schlägen gesagt hat, klang das allerdings nicht danach, als wolle er im Krieg bleiben. Eher wollte er sagen: Wir haben das jetzt getan, und damit ist es für uns erst einmal gut.Die Frage ist nur, ob der Iran das akzeptiert und sagt: Wir kehren jetzt zur Diplomatie zurück. Wünschenswert wäre das. Den Iranern könnte man es raten, aber ein souveräner Staat macht nicht immer das, was man ihm rät. Und es gibt innenpolitischen Druck: Aus dem Parlament kommen bereits Forderungen nach Vergeltung.Die Verhandlungen mit dem Iran über dessen Atomabkommen laufen seit über zwanzig Jahren. Haben wir es mit einem völligen Scheitern der bisherigen Eindämmungs- und Verhandlungsstrategie zu tun?Das Atomabkommen von 2015 hat das iranische Atomprogramm deutlich stärker eingeschränkt als das, was jetzt durch die Bombardierung vielleicht erreicht wurde. Das Abkommen hat ja gehalten, bis Trump es während seiner ersten Amtszeit aufgekündigt hat. In den Jahren zwischen 2015 und 2018 hat sich der Iran an seine Verpflichtungen gehalten. Das wäre sicherlich der sicherste Weg gewesen, eine nukleare Bewaffnung des Iran zu verhindern. Bislang kann man sagen: Mit Diplomatie wurde gegenüber dem Iran mehr erreicht als mit Gewalt.Ist der Iran jetzt eher angehalten, sein Atomprogramm tatsächlich zurückzufahren, oder könnten nicht auch die Stimmen überwiegen, die sagen: Wir müssen es jetzt erst recht beschleunigen?Beides ist möglich und wird auch so diskutiert. Es gibt das Libyen-Modell und das Nordkorea-Modell. Libyen hat damals seine Chemiewaffen abgegeben und wurde später, nach Gaddafis Vorgehen gegen friedliche Demonstranten, von einer internationalen Koalition unter französischer Führung angegriffen. Das Gegenbeispiel ist Nordkorea: Die haben ihr Atomprogramm nie aufgegeben. Selbst Trump war in seiner ersten Amtszeit bereit, direkt mit dem nordkoreanischen Führer zu verhandeln. Atomwaffen oder andere Arten der Massenvernichtungswaffen zur eigenen Sicherheit: Das ist eine Diskussion, die im Iran geführt wird, aber auch außerhalb.Strategisch sieht die Lage so aus: Schon seit dem kurzen Luftkrieg zwischen Israel und dem Iran, dem militärischen Sieg Israels über die Hisbollah und dem Fall des Assad-Regimes in Syrien hat sich das geopolitische Projekt des Iran, die sogenannte „Achse des Widerstands“ – also eine antiisraelische, antiwestliche Front vom Persischen Golf bis zum Mittelmeer – weitgehend aufgelöst. Einige dieser Akteure sind zum Teil gar nicht mehr handlungsfähig: das syrische Regime existiert nicht mehr, die Hisbollah ist militärisch massiv dezimiert.Der Iran muss sich entscheiden: Setzt er weiter auf Konfrontation, was nur noch kostspieligere Angriffe aus Israel und, wie wir jetzt sehen, auch aus den USA nach sich ziehen würde? Oder akzeptiert er – was dem Regime sicher schwerfällt – explizit oder implizit die Niederlage und konzentriert sich darauf, das eigene Land wieder aufzubauen? Genau das ist sicher der Wunsch der Mehrheit der iranischen Bevölkerung, die ja aus diesem Grund den halbwegs moderaten Präsidenten Peseschkian gewählt hat: damit er dem wirtschaftlichen Aufbau Priorität gibt, nicht der geopolitischen Konfrontation.Es wird viel über einen möglichen Regimewechsel im Iran diskutiert. Wie sinnvoll ist diese Diskussion?Sie zeigt, wie schnell politische Akteure und Kommentatoren vergessen. Wir hatten ja eine ganz ähnliche Debatte vor über 20 Jahren im Irak: Wenn man Saddam Hussein mit ausreichend militärischer Gewalt stürzt, würden freundliche, demokratische Kräfte übernehmen und alles wäre gut. Der Regimesturz ist den Amerikanern damals gelungen, aber danach folgten über ein Jahrzehnt Chaos, Bürgerkrieg und Terrorismus.Auch im Iran sollte man sich da keine Illusionen machen. Natürlich ist es theoretisch möglich, mit genügend Gewalt ein Regime aus der Macht zu bombardieren. Vielleicht nicht so leicht, wie sich das manche Schreibtischanalysten in den USA vorstellen – vor allem, wenn sie keine Bodentruppen einsetzen wollen. Dass die iranische Bevölkerung während solcher Bombardierungen eine Revolution anzettelt, halte ich für ausgeschlossen.Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit der Iraner sich durchaus ein besseres Regime wünscht. Aber dass sie möchten, dass Israelis und Amerikaner das mit Luftangriffen herbeiführen, das halte ich für unrealistisch. Die besten Chancen für einen Regimewechsel von innen bestehen dann, wenn der Iran sich nicht in einer äußeren Konfrontation befindet. Wenn das Regime also nicht behaupten kann: Jetzt geht es um die Nation, und wir müssen alle zusammenstehen.Während weiterhin sowohl im Iran als auch in Israel Raketen einschlagen, rufen mehrere europäische Staatschefs Teheran zu Verhandlungen auf. Wie können die Europäer zu einer Rückkehr zur Diplomatie beitragen?Ich glaube, die Europäer haben am Wochenende einen richtigen Schritt gemacht, indem sie sich mit dem iranischen Außenminister getroffen haben. Sie haben nicht nur gesagt, es müsse zurück zur Diplomatie gehen, sondern haben sich selbst aktiv darauf eingelassen – und die Iraner ebenfalls.Wichtig ist auch, dass zumindest einige europäische Außenminister, wie der französische, klar sagen: Wir glauben nicht an das Szenario eines Regimewechsels durch Krieg. Das ist das Mindestmaß an Signal, das die iranische Seite braucht, um zu sagen: Wir sind bereit, weiter mit euch zu reden. Denn wenn Verhandlungen am Ende nur eine sanftere Variante der Bombenkampagne wären, also Vorbereitung eines Regimewechsels, warum sollte Teheran dann verhandeln?Es ist vielleicht eine kleine Ironie der Geschichte: Die Iraner wollten ursprünglich gar nicht mehr mit den Europäern sprechen und haben sich ganz auf die Verhandlungen mit der Trump-Regierung konzentriert, in der Hoffnung, dort bessere Ergebnisse erzielen zu können. Und zeitweise sah es ja auch danach aus. Die Europäer wurden in Teheran ignoriert, zumal sie immer wieder sagten: Nach den Berichten der Internationalen Atomenergieorganisation kommt der Iran seinen Verpflichtungen nicht nach, etwa bei der Offenlegung von Vorräten und Produktionsprozessen. Die IAEO hatte viele offene Fragen, und die Europäer stellten fest, dass der Iran Verpflichtungen aus dem Nuklearwaffensperrvertrag und dem Zusatzprotokoll verletzt hat. In Teheran hieß es damals: Mit den Europäern sprechen wir nicht, das ist alles feindlich, wir reden mit der Trump-Administration.Das hat sich dann aber schnell geändert. Insofern ist es jetzt der richtige Weg zu sagen: Lasst uns die Gespräche weiterführen und gleichzeitig versuchen, auf die Amerikaner einzuwirken — ihnen deutlich machen: Ihr habt von „one off“, gesprochen und genug Schaden an den iranischen Atomanlagen angerichtet, jetzt gebt der Diplomatie eine Chance.In Deutschland sind viele auch dankbar für den Schlag gegen Irans Atomprogramm. Was bedeutet das israelische, aber auch das amerikanische Vorgehen für das Völkerrecht und die internationale Ordnung?Diejenigen, die das Vorgehen begrüßen, orientieren sich dabei offensichtlich nicht am Völkerrecht. Aber ehrlich gesagt tun das im Moment nur sehr wenige, egal ob wir über den Krieg zwischen Israel und Hamas sprechen oder jetzt über den Krieg zwischen Israel und dem Iran – wir haben es immer wieder mit Verletzungen des Völkerrechts zu tun.Ich glaube, es hilft auch nicht viel, das ständig zu beklagen. Das ist die Realität dieser Epoche. Seit 2022 führt Russland offen Krieg gegen die Ukraine. Dort weisen wir ja ebenfalls zu Recht darauf hin, dass das dem Völkerrecht widerspricht, weil die territoriale Integrität eines Staates verletzt wird. Es bleibt festzuhalten, aber wir müssen vielmehr Wege finden, wie wir Kriege beenden und das Recht dort, wo es gebrochen wurde, wiederherstellen.Sich in eine Fall auf das Völkerrecht zu berufen und im anderen darüber hinwegzusehen – zehrt das nicht an der Glaubwürdigkeit?Klar! Genau das wird uns ja aus großen Teilen des sogenannten Globalen Südens vorgeworfen: dass wir mit doppelten Standards arbeiten. Wir dürfen nicht an der einen Stelle kritisieren und an der anderen durchgehen lassen. Wir können nicht sagen: Nur Russland verletzt das Völkerrecht. Nein, das tun auch andere – das tut auch Israel, das tut Ruanda im Kongo. Es ist momentan keine gute Zeit für das Völkerrecht.Was können wir tun? Wir müssen sehen, dass wir die Gewalt beenden, die territoriale Integrität der Ukraine erhalten und die Perspektive auf einen palästinensischen Staat und eine Zwei-Staaten-Lösung aufrechterhalten. Es braucht ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern auf dem Territorium, über dessen Aufteilung sie sich irgendwann verständigen müssen. Auch der Iran wird nicht verschwinden, genauso wenig wie Israel. Wir müssen zurück zur Diplomatie.Sie haben gerade eine Realität skizziert, in der Stärke wichtiger ist als Recht. Wie vorbereitet ist Europa auf eine Welt, in der internationale Regeln immer weniger gelten?Wir machen in Europa seit 2022 einen Crashkurs in Realpolitik. Eigentlich hätte uns schon die erste Trump-Administration darauf vorbereiten müssen: darauf, dass Großmachtkonflikt und Großmachtgebaren zunehmend an die Stelle von regelgebundenem und völkerrechtsbasiertem Verhalten treten. Schon der erste Beginn des Ukrainekriegs, 2014, hätte ein Weckruf sein können, dass die europäische Ordnung, die wir mit der Charta von Paris, der OSZE und anderen als Friedensordnung verstanden haben, von zumindest einem Teilnehmer massiv verletzt wird.Aber es tut sich ja etwas: etwa mit dem Aufbau eines, wie Ursula von der Leyen sagt, „geopolitischen Europas“, mit der Bereitschaft, Verteidigungsforschung und Rüstungsbeschaffung aus europäischen Mitteln zu finanzieren, mit der Suspendierung von Schuldengrenzen für Verteidigungsausgaben. Aber auch auf politischer Ebene: Die deutliche Wiederannäherung zwischen Großbritannien und der EU zeigt, dass sich eine neue europäische Sicherheitsgemeinschaft herausbildet.Das alles zeigt, dass Europa diese Entwicklung hin zur Großmachtpolitik zwar nicht will, sich aber darauf einstellt und gleichzeitig alles tut, um so viel wie möglich von der regelbasierten und völkerrechtsgebundenen Ordnung zu bewahren. Wir leben in einer Zeit, in der das Völkerrecht nicht sehr viel gilt. Aber das heißt für uns nicht, es aufzugeben, sondern zu versuchen, es zu stärken – und zugleich uns selbst so zu stärken, dass wir nicht nur nach dem Recht rufen müssen.Ist die aktuelle Einigung hinsichtlich fünf Prozent Verteidigungsausgaben innerhalb der NATO das richtige Signal?Ich bin da eher skeptisch. Entscheidend ist doch, dass wir definieren, was wir an Rüstung, an Personal und an Infrastruktur tatsächlich brauchen – und dass wir dafür die nötigen Mittel bereitstellen. Ob das am Ende 2 Prozent, 3,5 Prozent oder 3,5 plus 1,5 Prozent sind, ist mir letztlich egal. Unsere Verteidigungsfähigkeit hängt nicht an Prozentzahlen, sondern daran, dass wir das finanzieren, was wir wirklich benötigen.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal