Zwischen den Fronten
Die Auswirkungen Künstlicher Intelligenz (KI) auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sind längst nicht mehr nur Gegenstand wissenschaftlicher Debatten, sondern für viele Menschen und Unternehmen spürbare Alltagsrealität. Insbesondere Large Language Models wie ChatGPT von OpenAI oder Gemini von Google unterstützen uns täglich beim Erstellen von Texten, Bildern, Präsentationen, Tabellen oder beim Programmieren. Auch in der Wirtschaft nehmen KI-Anwendungen eine immer wichtigere Rolle ein. Chatbots übernehmen Kundenanfragen, Algorithmen analysieren Bewerbungen und KI optimiert Produktionsabläufe in Echtzeit. In der Industrie ermöglicht KI vorausschauende Wartung, automatisierte Qualitätsprüfung und reibungslosere Logistikprozesse. In der Kultur- und Kreativwirtschaft generieren KI-Tools Texte, Bilder und Musikstücke, was zunehmend urheberrechtliche Fragen aufwirft, da die Systeme mit bestehenden Werken trainiert wurden.Mit dem rasanten technischen Fortschritt gewinnen die damit verbundenen Herausforderungen immer mehr an Bedeutung – etwa Verstöße gegen das erwähnte Urheberrecht und den Datenschutz, aber auch Phänomene wie Halluzinationen und Deep Fakes. Hinzu kommen Diskriminierung und Vorurteile, die sich in KI-gestützten Entscheidungsprozessen manifestieren können, beispielsweise bei der Anwendung prädiktiver KI im Sicherheitsbereich. Das verdeutlicht: Fernab all des medialen Hypes und manch philosophischer Spekulationen über Superintelligenz stellen sich zukunftsweisende Fragen: Wie entwickeln wir vertrauensvolle KI? Wer definiert die Standards für vertrauensvolle KI? Und: Kann Europa ideelle, gesellschaftliche und technische Vorteile ins Feld führen und sogar als Wettbewerbsvorteil ausspielen?Künstliche Intelligenz ist die Fortführung der Digitalisierung mit ähnlichen Mitteln.Ohne Umschweife: US-amerikanische Technologiekonzerne („Big Tech“) beherrschen die KI-Landschaft. Sie definieren technologische Standards und bestimmen Nutzungsbedingungen. Das verwundert kaum, denn Künstliche Intelligenz wurde erst durch die Grundlagen der Digitalisierung möglich – die Bereitstellung großer Datenmengen bei gleichzeitiger Weiterentwicklung der Rechenpower und Chipleistung. KI nutzt somit die größtenteils nicht-europäische Infrastruktur, die Internet und digitale Kommunikation geschaffen haben. Oder anders formuliert: KI ist die Fortführung der Digitalisierung mit ähnlichen Mitteln. Sie verstärkt die im Zuge der Digitalisierung sicht- und spürbar gewordenen gesellschaftlichen Herausforderungen – und wirft neue auf.Die US-amerikanische Definitionshoheit bei KI erzeugt einseitige – und nicht nur europäische – Abhängigkeiten, etwa beim Umgang mit personenbezogenen Daten, die nach amerikanischen Datenschutzstandards verarbeitet werden, sowie bei der Implementierung von KI-Systemen, deren Funktionsweise und Entscheidungslogik ausschließlich von US-Unternehmen bestimmt wird. Einerseits profitiert die amerikanische KI-Landschaft unter Trump von einer deregulierungsfreundlichen Politik mit minimalen Vorschriften, üppigen Subventionen und beschleunigten Genehmigungsverfahren. Andererseits schaffen Trumps politische Volten erhebliche Unsicherheiten in kritischen Bereichen: Immigrationsblockaden hemmen die Rekrutierung ausländischer Fachkräfte und die „America-First“-Politik blockiert internationale Forschungskooperationen. Für die Wirtschaft, die eben nicht nur aus KI-affinen „Early Adopters“ besteht, produziert all das Unsicherheit.Parallel dazu etabliert China eigene KI-Modelle und -Standards. Europa gerät zwischen die Fronten zweier „KI-Systeme“, die schneller agieren und unterschiedliche Werte verkörpern. Während die USA und Europa weitgehend auf proprietäre Modelle setzen, baut China auf Open Source („Deep Seek“). Die Open Source-Strategie Chinas ist auch eine Antwort auf die US-amerikanischen Exportkontrollen. Die Entwicklung ist rasant: Zwölf der 15 führenden Open-Source-KI-Modelle stammen mittlerweile aus China. Der Datenpool, aus dem das chinesische Regime schöpfen kann, ist schier unbegrenzt und wird durch die Einführung digitaler IDs, die die Online-Aktivitäten der Bürger dokumentieren sollen, noch erweitert. Neben fehlenden datenschutzrechtlichen Beschränkungen und fragwürdiger Einsatzzwecke, kann der chinesische Ansatz auch nicht das Abhängigkeitsproblem lösen. China bleibt trotz eigener Alternativen wie Gitee von westlichen Open-Source-Plattformen wie GitHub abhängig, während chinesische KI-Modelle gleichzeitig keine Inhalte generieren dürfen, die „die Einheit des Landes und die gesellschaftliche Harmonie schädigen“.Die geringe Anzahl europäischer KI-Patente spiegelt nicht nur Innovationsdefizite wider, sondern auch die wachsende Abhängigkeit von ausländischen Technologien.Und die Europäische Union? Hinkt hinterher. Weder werden hier die neuesten KI-Modelle entwickelt, die größten Rechenzentren gebaut noch ambitionierte Open-Source-Projekte angestoßen. Die Investitionslücke, Patentschwäche, Infrastrukturdefizite und Talentabwanderung stellen strukturelle Herausforderungen dar. Während die USA und China Hunderte von Milliarden in KI-Forschung investieren, bleiben europäische Mittel fragmentiert zwischen nationalen Programmen. Die geringe Anzahl europäischer KI-Patente spiegelt nicht nur Innovationsdefizite wider, sondern auch die wachsende Abhängigkeit von ausländischen Technologien. Der Mangel an Hochleistungsrechnern und Rechenzentren erschwert es europäischen Unternehmen, mit globalen Konkurrenten zu konkurrieren. Gleichzeitig wandern Spitzenkräfte nach Silicon Valley ab (und nicht umgekehrt). Das kann digitale Abhängigkeiten verschärfen und erschwert es, die oben erwähnten Probleme bei Datenschutz, Urheberrecht, Diskriminierung, aktiv anzugehen.Diese Verschiebung eröffnet Europa aber auch neue Möglichkeiten. Die Europäische Union kann sich als vertrauenswürdige Alternative positionieren. Das ist kein Selbstzweck, sondern expliziter Wunsch der Wirtschaft – die von Großunternehmen bis Mittelstand unabhängige digitale KI-Infrastrukturen (Modelle, Rechenzentren, Cloud-Platformen) fordern. Klar ist: Die Chancen, die Künstliche Intelligenz für unsere Gesellschaft und Wirtschaft bietet, sind vielversprechend. Der 2024 beschlossene AI Act ist keine bürokratische Entwicklungs- und Wachstumsbremse, sondern schafft überhaupt erst die Bedingungen für eine vertrauensvolle, sichere und marktgängige KI. Die Regulierung folgt einem risikobasierten Ansatz und setzt klare und vor allem dauerhaft verbindliche Regeln für KI-Entwickler und -Nutzer. Kritik am AI Act, vor allem dessen nationalstaatlicher Umsetzung, ist willkommen, sollte aber nicht in eine pauschale, wohl vertraute Bürokratieschelte gen Brüssel ausarten. Erinnert sei hier auch an Diskussionen um die Datenschutz-Grundverordnung, die aufgrund ihrer Tragweite und Compliance-Kosten eifrig gescholten wurde, um wenig später als globales Vorbild für den Umgang mit Daten zu dienen.Ja, amerikanische und insbesondere chinesische Modelle sind anwendungsorientierter und werden schneller in kommerzielle Anwendungen überführt. Aber die europäische Ausgangslage ist exzellent: Eine einzigartige Wirtschaftsstruktur mit einem hohen KMU-Anteil, vielen hidden Champions (vor allem in Deutschland), die sich in zentralen Aspekten von den konzerndominierten USA und der staatlich gelenkten chinesischen Massenproduktion unterscheiden. Diese dezentrale, spezialisierte Industriebasis schafft ideale Bedingungen für KI-Anwendungen, da die Unternehmen hochwertige „Nischendaten“, flexible Entscheidungswege und langfristige Denkweise verfügen – perfekt für passgenaue KI-Lösungen.Um im KI-Wettbewerb mit den USA und China aufzuholen, muss die EU ihre Investitionsstrategie grundlegend neu ausrichten.Diese rechtliche und wirtschaftlich-industrielle Basis löst gleichwohl nicht das Problem der Abhängigkeit bei Infrastruktur und Technologie. Die EU muss ihre Investitionsstrategie grundlegend neu ausrichten, um im KI-Wettbewerb mit den USA und China aufzuholen. Ein erster wichtiger Schritt ist der Aufbau von mindestens 13 AI-Factories bis 2026, von denen eine bereits in Jülich angesiedelt ist, und fünf noch leistungsstärkeren AI-Gigafactories. Der geplante InvestAI-Fonds in Höhe von 20 Milliarden Euro stellt einen wichtigen ersten Schritte dar, jedoch erfordert nachhaltiger Erfolg eine verstärkte Förderung von Open-Source-Ansätzen zur Demokratisierung der KI-Technologie. Europa muss mit größerem Ehrgeiz als Vorreiter für gemeinwohlorientierte digitale Infrastrukturen fungieren und das Prinzip „Public Money, Public Code“ konsequent in der öffentlichen Verwaltung implementieren, um sowohl technologische Souveränität als auch demokratische Partizipation zu gewährleisten. Diese strategische Ausrichtung würde nicht nur die Abhängigkeit von proprietären US-amerikanischen Systemen reduzieren, sondern auch ein nachhaltiges Modell für transparente, partizipative Technologiegestaltung etablieren, das anderen Regionen als Referenz dienen könnte.Daneben muss Europa massiv in die Grundlagenforschung investieren, um ressourcensparende KI-Modelle zu entwickeln, die den europäischen Nachhaltigkeitsstandards entsprechen. Der Schutz europäischer Daten ist ein entscheidender Wettbewerbsvorteil, der eine souveräne digitale Infrastruktur ermöglicht und gleichzeitig das Vertrauen der Bürger in KI-Systeme stärkt. Europas kritische Haltung gegenüber prädikativer KI könnte sich als strategischer Vorteil erweisen, da entsprechende Systeme in den USA und China bereits mit fragwürdigem „Erfolg“ und erheblichen ethisch-moralischen Problemen zum Einsatz kommen. Darüber hinaus erfordert die digitale Souveränität Europas eine strategische Plattformregulierung, die nicht nur das Vertrauen in KI erhöht, sondern auch die Entwicklung eigenständiger europäischer Plattformen und Cloud-Infrastrukturen vorantreibt, um die strukturelle Abhängigkeit von amerikanischen und chinesischen Tech-Giganten zu durchbrechen.Europa kann im globalen KI-Wettbewerb nur bestehen, wenn es konsequent auf vertrauenswürdige, transparente und nachhaltige KI-Systeme setzt. Die Kombination aus klarer Regulierung, starker industrieller Basis und Schutz europäischer Werte bietet die Chance, eine eigenständige und wettbewerbsfähige Alternative zu den USA und China zu schaffen. Die Fehler der vergangenen Digitalisierungs- und Netzpolitik dürfen sich nicht wiederholen – die Umwälzungen durch KI sind zu tiefgreifend.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal