Der Trump-Effekt

26.05.25 14:00 Uhr

Im politischen System Polens hat der Präsident zwar ein starkes Mandat der Bevölkerung, aber nur wenig Macht. Laut Verfassung ist seine Rolle weitgehend auf repräsentative Aufgaben beschränkt. Er repräsentiert das Land, unterzeichnet Ernennungsurkunden für Richter, Diplomaten und Militärangehörige und fungiert als Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Ein wichtiges Machtinstrument hat er jedoch: Er kann jedes vom Parlament verabschiedete Gesetz ablehnen – außer den Staatshaushalt.Charakteristisch für die polnische Verfassung ist auch, dass der Präsident von allen politischen Amtsträgern im Land die größte demokratische Legitimität besitzt, weil er direkt gewählt wird und eine absolute Mehrheit – also mehr als 50 Prozent der Stimmen – braucht. Im ersten Wahlgang gaben 66 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab – das sind fast 20 Millionen Menschen. Folglich wird der Präsident am 1. Juni mit mehr als zehn Millionen Direktstimmen gewählt werden.Um die erforderliche Mehrheit zu erreichen, kommt es fast immer zu einer Stichwahl. Die erste und zweite Runde sind also faktisch zwei verschiedene Wahlen. In diesem Jahr traten 13 Kandidatinnen und Kandidaten zur ersten Runde an, die jeweils mindestens 100 000 Unterschriften von Wahlberechtigten bei der Nationalen Wahlkommission eingereicht haben. Die Wählerinnen und Wähler hatten ein breites Spektrum politischer Wahlmöglichkeiten. In der zweiten Runde geht es dagegen um eine Entweder-oder-Entscheidung, darüber, welchen Kurs das Land einschlagen soll.Die erste Runde diente also eher als politisches Stimmungsbarometer: Rafał Trzaskowski von Donald Tusks Bürgerplattform lag mit 31,3 Prozent an erster Stelle. Karol Nawrocki, der von Jarosław Kaczyńskis Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unterstützt wird, kam hingegen auf 29,5 Prozent. Sławomir Mentzen von der einwanderungs- und EU-feindlichen Konföderation (Konfederacja) belegte mit 14,8 Prozent den dritten Platz. Ein weiterer rechtsextremer Kandidat, Grzegorz Braun, der früher der Konfederacja angehörte und noch radikalere Positionen vertritt als Mentzen, erhielt 6,3 Prozent.Würden heute Parlamentswahlen stattfinden, hätte Tusk wahrscheinlich Probleme, sich eine Mehrheit zu sichern.Diese Ergebnisse sind in mehrerer Hinsicht aufschlussreich: Erstens hatte der liberale Kandidat vor dem nationalkonservativen Kandidaten nur einen knappen Vorsprung. Beide Kandidaten müssen noch mehrere Millionen Stimmen hinzugewinnen, um sich durchzusetzen zu können. Zweitens ist das Ergebnis ein Warnsignal für die Regierungskoalition von Ministerpräsident Donald Tusk. Zusammen erreichten die Kandidaten der Koalition etwas mehr als 40 Prozent der Stimmen. Würden heute Parlamentswahlen stattfinden, hätte Tusk wahrscheinlich Probleme, sich eine Mehrheit zu sichern. Ohne die immer populärer werdende Konfederacja könnten weder die PiS noch die Bürgerplattform eine Regierung bilden.Drittens erhielten die Kandidaten der Rechten und Rechtsextremen – also Nawrocki und andere – zusammen mehr als 50 Prozent der Stimmen. Das bedeutet zwar nicht, dass Trzaskowski chancenlos ist, wohl aber, dass ein Kopf-an-Kopf-Rennen zu erwarten ist. Bemerkenswert ist viertens der deutliche Zuspruch für Establishment-feindliche Kandidaten. Sie erhielten mehr als 25 Prozent der abgegebenen Stimmen. Bei den jüngsten Wählerinnen und Wählern gingen sogar fast drei Viertel der Stimmen an Anti-System-Kandidaten. In der Altersgruppe der über 60-Jährigen entfielen fast 90 Prozent der Stimmen auf die beiden führenden Kandidaten Trzaskowski und Nawrocki, die für die seit zwei Jahrzehnten bestehende politische Polarisierung zwischen Tusk und Kaczyński stehen. In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen ist dieser Stimmenanteil mit 22 Prozent allerdings deutlich niedriger.Bei den unter 39-jährigen Wählerinnen und Wählern lag der rechtsextreme Mentzen vorn. Wenn nur Polinnen und Polen unter 29 Jahren wählen dürften, würde Mentzen in der zweiten Runde wahrscheinlich gegen den radikal linken, antikapitalistisch ausgerichteten Adrian Zandberg antreten. Dies ist ein Hinweis auf einen ausgeprägten Generationenkonflikt in Polen, der möglicherweise das Ende des langjährigen politischen „Duopols“ aus Tusk und Kaczyński bedeuten könnte. Die Jugend fordert eine andere Politik. Sie ist der Meinung, die politischen Eliten der letzten drei Jahrzehnte hätten versagt und es brauche radikale Veränderungen.Ältere Wahlberechtigte stellen nach wie vor die Mehrheit. Menschen unter 40 Jahren machen 38 Prozent der Wählerschaft aus, die über 40-Jährigen hingegen 62 Prozent. Dennoch darf der demografische Wandel nicht ignoriert werden. Die jüngere Generation erteilt einer Politik, die von der Spaltung zwischen PO und PiS geprägt ist, eine Absage. Dennoch wird genau diese Spaltung bis zum 1. Juni die politische Landschaft Polens bestimmen.Weltweit ist die rechte Identitätspolitik auf dem Vormarsch.Denn zwischen diesen beiden Optionen werden die Polen sich am Ende entscheiden müssen – mit sehr weitreichenden Konsequenzen. Der Wahlausgang wird darüber entscheiden, ob der Durchbruch, den 2023 die liberale Koalition gegenüber der Dominanz der PiS erzielte, nur ein Ausreißer war – eine Ausnahmeerscheinung in der polnischen und vielleicht sogar in der europäischen Politik – oder ob der Sieg von Donald Tusk vor anderthalb Jahren einen echten Wandel eingeläutet hat. Weltweit ist die rechte Identitätspolitik auf dem Vormarsch. Ein Sieg des PiS-Kandidaten Karol Nawrocki wäre möglicherweise ein Indiz dafür, dass der „Donald-Trump-Effekt“ sich nicht nur in Polen, sondern in ganz Europa zu verfestigen beginnt. Nawrockis Kampagne greift Trumps Rhetorik auf – etwa mit Forderungen nach einer „Revolution des gesunden Menschenverstands“ sowie der Ablehnung der „Woke“-Kultur und einer Politik, die sich von DEI (Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion) leiten lässt.Es sollte nicht vergessen werden, dass Trump – ein höchst ungewöhnlicher Schritt – Nawrocki offenbar seine Unterstützung signalisierte, indem er sich am 3. Mai, dem polnischen Nationalfeiertag, mit dem PiS-Kandidaten im Oval Office traf. Eine solche Geste gab es in der Geschichte der polnischen Wahlen noch nie. Selbst in den sozialen Medien des Weißen Hauses wurde ein offizielles Foto dieses Treffens gepostet.Ein Sieg für Trzaskowski hingegen würde beweisen, dass der wachsende Rechtsradikalismus gestoppt werden kann. Dann hätten es die polnischen Liberalen geschafft, die Wählerschaft davon zu überzeugen, dass sie die Herausforderungen besser bewältigen können, von denen die populistischen und nationalistischen Politikerinnen und Politiker behaupten, nur sie könnten sie lösen.Aus dem Englischen von Christine HardungWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal