Börse Frankfurt-News: "Das zweite Halbjahr kann nur ruhiger werden oder?"

FRANKFURT (DEUTSCHE-BOERSE AG) - Fondsmanager Peeters wagt einen Ausblick auf das Börsenhalbjahr und findet
ebenso triftige Argumente, dass die Börsen dem Herrchen Konjunktur vorweg
laufen (um dann wieder eingeholt zu werden) wie, dass die Hausse Bestand haben
könnte.
13. Juli 2020. FRANKFURT (pfp Advisory). Es ist keine zehn Handelstage her, als
das erste Halbjahr 2020 vorbei war. Nicht zu spät, um ein Fazit für den
Kapitalmarkt zu ziehen, zumal es sicher kein Semester wie jedes andere war. Was
sich binnen weniger Monaten an Aufregern ereignet hat, reicht normalerweise für
mehrere Jahre. Da gemäß einer Redensart in jeder Erfahrung ein Schatz begraben
liegt, haben wir alle zumindest in dieser Hinsicht Reichtümer angehäuft. Nun
kann es gerne etwas ruhiger zugehen in der zweiten Hälfte des Jahres, hört man
oft. Doch ist das realistisch? Gibt es auch von der Volatilität und Aufregung
her einen "Mean Reversion"-Effekt oder wäre es zwangsläufig, dass das Pendel
nun ähnlich stark zurückschlägt?
Nun, bezogen auf die reine Entwicklung der Kapitalmärkte ist eine ebenso
schwunghafte Gegenbewegung bereits eingetreten und eben weil alles in solch
einer rasanten Abfolge und hohen Intensität verlief, war das Halbjahr so
besonders. Die Kurse stürzten global in einem ausgesprochen rasanten Tempo ab,
was mit dem einher gehenden zeitlich leicht verzögerten aber nicht weniger
dramatischen Einbruch der Realwirtschaft zu Gegenmaßnahmen der Staaten und
Notenbanken geführt hatte. Auch diese hatten ein nie gesehenes Ausmaß.
Lücke zwischen Börse und Realwirtschaft
Diese rasante Abfolge führt dazu, dass viele Betroffene bei dem Geschehen nicht
mehr ganz mitkommen in mentaler Hinsicht. So wollten oder konnten viele Anleger
erst nicht wahrhaben, dass der neuartige Corona-Virus wirklich zu dermaßen
gravierenden politisch angeordneten Einschnitten in die wirtschaftlichen
"Muskelstränge" rund um den Globus und somit zu einer Jahrhundert-Rezession
führen wird. Bis in den März war Corona für viele eine Grippe mit zu viel
Aufregung darüber. Doch auch die Gegenreaktion vermochte man schnell zu
unterschätzen. Zinssenkungen und "Deficit Spending" der intensivsten Art ließen
die Hoffnung auf eine "V-Erholung" der Wirtschaft hochkochen und die Börsen in
dieser Hinsicht weit voraus eilen und eben dieses V vollenden, dass jetzt
gemessen an einer Vielzahl von konventionellen Bewertungsmaßstäben eine
ordentliche Lücke klafft zwischen den haussierenden Börsen und der
angeschlagenen Realwirtschaft als dem sprichwörtlichen "Spaziergänger", dem der
"umherlaufende Hund" Börse sich immer wieder nähert laut Kostolany.
Was folgt nun? Werden die Börsen von einer anhaltend schwachen Wirtschaft nach
unten gezogen und in den kommenden Monaten wieder ähnlich intensiv abdriften,
wie sie seit Mitte März in die Höhe geschnellt sind? Oder verhält es sich doch
ganz anders und sind die Börsen angesichts des durch den Lockdown nochmal
beschleunigten technologischen Wandels (Digitalisierung zahlreicher Prozesse)
und einer noch mal intensiver ausgeprägten Niedrigzinspolitik erst am Beginn
eines neuen Zeitalters mit einer dauerhaft höheren Aktienbewertung? Natürlich
haben beide Betrachtungen ihre Berechtigung, im Sinne davon, dass sie
konsistent sind. Recht haben wird am Ende indes wie stets der Markt und niemand
sollte sich gegen ihn stellen, egal wohin er sich bewegt. Dies sollten Anleger
nach dem Markt-Ab-und-Auf nicht nur für die zweite Jahreshälfte verinnerlichen.
Verschärfte Gesetze nach Wirecard
Eine Vielzahl von Lehren können Anleger aus dem spektakulären Fall Wirecard
mitnehmen, acht wichtige Punkte hat mein Geschäftspartner Christoph vor zwei
Wochen an dieser Stelle zusammengetragen. Nun ist Wirecard, die deutsche
Einzelwertstory des ersten Halbjahres schlechthin, sicherlich weitgehend
Geschichte. Aber auch diese Sache wird nachwirken, wohl über die kommenden
Monate hinaus. Zwar glaube ich nicht, dass es auf dem deutschen Kurszettel noch
eine zweite Firma dieser Größenordnung gibt, bei der sich ein vergleichbarer
Abgrund auftun kann, aber es wird möglicherweise Gegenreaktionen der Behörden
im Sinne von verschärften Gesetzen und Regulatorien geben, die auch vollkommen
unschuldigen und ehrbaren Firmen durchaus zur Last werden können. Auch deshalb
sollten wir den (Kriminal-)Fall Wirecard nicht gänzlich abhaken.
Abhaken sollte auch niemand Covid-19, was sich global in einer noch nicht
gesehenen Intensität ausbreitet. Auf dem Börsenparkett indes scheint die
Pandemie tatsächlich ein Stück weit ihren Schrecken verloren zu haben. Nahezu
überall sind die Indizes weit von den Tiefs im März entfernt und ausgerechnet
in den USA, dem Land mit den meisten Opfern der Krankheit, sind mit Blick auf
viele Tech-Firmen wie den so genannten "FANG-Aktien" oder auch Tesla die
Hausse-Exzesse am krassesten, umgangssprachlich ausgedrückt. Ende auch hier:
offen. Man sollte mit Blick auf den sehr zentrierten Run auf die Apples und
Microsofts dieser Welt auch nicht vergessen, dass wir mit dem ETF-Boom einen
weiteren Katalysator im Markt haben, der bestehende Trends forciert. Auch die
sich seit Jahren weitende Schere zwischen "Growth" und "Value" deutet bei aller
berechtigten Grundlage im Strukturwandel (Stichwort noch mal Digitalisierung)
durchaus auf Trendverstärker hin.
Was ich mit dieser sicher nicht vollständigen Abhandlung des ersten Halbjahres
sagen will: Es war intensiv, was nicht zwingend heißt, dass es jetzt ruhiger
werden muss. Viele Intensivbewegungen könnten vielmehr der Humusboden für
weitere deutliche Veränderungen in den kommenden Monaten sein. Eine abermals
turbulente zweite Halbzeit scheint durchaus möglich.
von Roger Peeters, 13. Juli 2020, © pfp Advisory
Roger Peeters ist geschäftsführender Gesellschafter der pfp Advisory GmbH.
Gemeinsam mit seinem Partner Christoph Frank steuert der seit über 20 Jahren am
deutschen Aktienmarkt aktive Experte den DWS Concept Platow Fonds (WKN DWSK62),
einen 2006 aufgelegten und mehrfach ausgezeichneten Stock-Picking-Fonds.
Weitere Infos unter www.pfp-advisory.de. Peeters ist weiterhin Mitglied des
Vorstands der Deutschen Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management
(DVFA) e.V.. Roger Peeters schreibt regelmäßig für die Börse Frankfurt
(Für den Inhalt der Kolumne ist allein Deutsche Börse AG verantwortlich. Die Beiträge sind keine Aufforderung zum Kauf und Verkauf von Wertpapieren oder anderen Vermögenswerten.)