Wissenschaftliche Erkenntnisse der Verhaltensökonomie
(Behavioral Finance) helfen zu erklären, warum Menschen
auf eine bestimmte Art und Weise handeln, und sie geben
Finanzberatern praktische Lösungen an die Hand, um
ihre Kunden dabei zu unterstützen, bessere Anlageentscheidungen
zu treffen. Die Idee dahinter ist, dass Menschen
nicht dumm sind, sondern schlicht menschlich handeln.
In diesem Kontext präsentieren wir die Odysseus-Strategie,
die auf den reflektierenden Verstand für rationale kurzund
langfristige Anlagestrategien setzt, um jene Fehler
zu vermeiden, die sich durch Einmischung des intuitiven
Geistes einschleichen können.
Mehr als nur Angst und Gier
Finanzberater wissen um die menschliche Herdenmentalität,
die dazu führen kann, dass Privatanleger zu hohen Kursen
kaufen und zu niedrigen verkaufen, indem sie dem fahrenden
Zug steigender Kurse hinterherrennen und bei fallenden
Märkten abspringen (Bikhchandani et al., 1992; Galbraith, 1993).
Beim Verhalten von Privatanlegern spielen jedoch auch andere
psychologische Aspekte eine Rolle, die über Angst und Gier
hinausgehen, Impulse, die dem intuitiven Geist entspringen.
Die Selbstüberschätzung (Overconfidence) ist beim
Menschen ebenso stark veranlagt wie der Herdentrieb. Sie
führt dazu, dass Anleger glauben, den Markt schlagen zu
können, und sie verführt sie dazu, Aktien mit irrational hoher Frequenz zu kaufen und zu verkaufen – eine kostspielige
Angelegenheit („hin und her macht Taschen leer“). Eine
Studie, die das Verhalten von 66.465 Privatanlegern in den
USA über einen Zeitraum von sechs Jahren untersuchte,
fand heraus, dass der durchschnittliche jährliche Portfolioumschlag
der Anleger bei 75 % liegt. Die bei diesen exzessiven
Käufen und Verkäufen anfallenden Transaktionskosten
schmälern die Netto-Performance im Vergleich zur
Gesamtmarktentwicklung um 3,7 %. Noch schlechter sieht
es bei den Anlegern mit der höchsten Zahl an Transaktionen
(oberes Quintil) aus: Der Portfolioumschlag lag hier bei
mehr als 200 % pro Jahr, wobei sich die Netto-Performance
um 10,3 % verringerte (Barber und Odean, 2000; siehe
auch Daniel et al., 1998).
Auch eine Untersuchung von Transaktionen an 19 großen
internationalen Aktienmärkten kam zu ähnlich mahnenden
Ergebnissen im Hinblick auf den Drang, den Markt durch
übermäßig viele Aktienkäufe und -verkäufe schlagen zu
wollen. Zwischen 1973 und 2004 lag die durchschnittliche
„Strafprämie“ bei mehrfachen Käufen und Verkäufen im
Gegensatz zu einer Kaufen-und-Halten-Strategie in diesen
Märkten bei 1,5 % (Dichev, 2007).
Angesichts der Fülle an Möglichkeiten sind Privatanleger
schlecht gerüstet, um rational zu entscheiden, welche
Aktien sie kaufen sollen. Die meisten Menschen verfügen
schlicht nicht über die Zeit oder die Expertise, um fair
bewertete oder unterbewertete Aktien aufzuspüren. Als
Ersatz für eine angemessene Analyse greifen viele Anleger
unbewusst auf eine einfache Faustregel oder heuristische
Methode zurück: sie kaufen Aktien von Unternehmen,
die gerade in den Nachrichten sind.
Offensichtlich spielt es keine Rolle, weshalb ein Unternehmen
in den Nachrichten erscheint – Einführung neuer Produkte,
starke Intraday-Kursschwankungen (nach oben oder unten)
oder sogar ein Skandal, in den der Vorstandsvorsitzende
verwickelt ist; die Aktien dieser Unternehmen werden übermäßig
stark von Privatanlegern gekauft (Barber und Odean,
2008). Hier schlägt der intuitive Geist den einfachen Weg der
Entscheidungsfindung ein, den der reflektierende Verstand
– sofern vollständig eingeschaltet – ablehnen könnte. Doch
diese durch erhöhte mediale Aufmerksamkeit induzierten
Käufe treiben die Kurse unweigerlich über ihren realen Wert
hinaus, wodurch Anleger erneut schlechter abschneiden,
als sie es erwartet hatten.
Der intuitive Geist ist auch an den häufigsten Fehlern beteiligt,
die von Anlegern beim Verkauf von Aktien begangen werden.
Ein rational handelnder Investor würde im Minus befindliche
Aktien verkaufen und gewinnträchtige Papiere halten.
Privatanleger gehen jedoch häufig anders vor: sie lassen
Verluste zu lange laufen und nehmen Gewinne vorschnell
mit, ein Verhalten, das man „Dispositionseffekt“ nennt.
Dieser Effekt funktioniert wie folgt: Ein Privatanleger, der eine
Aktie besitzt, die im Kurs deutlich gestiegen ist, steht vor der
Wahl, diese Aktie entweder zu halten oder sie zu verkaufen.
Bei einem Verkauf kann sich der Anleger über die Gewinnmitnahme
freuen, er vergibt damit jedoch auch die Chance
auf weitere Kursgewinne und er akzeptiert die Tatsache,
dass auf den realisierten Gewinn Ertragsteuern zu entrichten
sind. Rutscht eine Aktie dagegen ins Minus, dann muss
sich der Anleger einen potenziellen Verlust eingestehen,
wobei sich die meisten Anleger in diesem Fall allerdings
dafür entscheiden, die Aktie weiterhin zu halten. Sie stehen
nun vor der Möglichkeit eines weiteren Kursrückgangs
und der Gewissheit, einen Steuervorteil zu verpassen, der
entstünde, wenn sie die Verlustposition verkaufen würden,
was sie wahrscheinlich auch tun sollten.
Der Dispositionseffekt ist das Ergebnis der geistigen Kontenführung
(Mental Accounting). Der rational handelnde Anleger
wäre an der Gesamtrendite seines Portfolios interessiert und würde sich damit zufriedengeben, dass „man ein wenig
gewinnt, ein wenig verliert, aber insgesamt auf einem guten
Weg ist“. Der typische Anleger betrachtet die Transaktionen
in seinem Portfolio stattdessen als eine Reihe von Investment-„
Episoden“. Eine im Plus befindliche Aktie eröffnet eine
Verkaufsmöglichkeit und damit die Realisierung von Gewinnen,
was zu einer erfreulichen Erfahrung führt. Der Anleger
verkauft die Papiere und schließt damit eine positive Investment-
Episode ab. Eine im Minus befindliche Aktie eröffnet
die Wahrscheinlichkeit, einen Verlust zu erleiden, verbunden
mit der daraus resultierenden schmerzlichen Erfahrung. Der
Anleger hält an der Aktie fest und vermeidet dadurch eine
negative Investment-Episode (Barberis und Xiong, 2010).
Die Bewegungen der Aktienmärkte gehen häufig auf
zahl reiche Faktoren zurück, die nichts mit dem realen Wert
zu tun haben. So führt beispielsweise der Absturz eines
Passagierflugzeugs in den USA mit 75 Toten (oder mehr) in
der Regel zu kurzfristigen Kurseinbußen an der NYSE im
Volumen von etwa 60 Milliarden Dollar. Diesem Marktwertverlust
stehen tatsächliche volkswirtschaftliche Kosten
derartiger Katastrophen in Höhe von rund 1 Milliarde Dollar
gegenüber, die der Fluggesellschaft und den Versicherungskonzernen
entstehen (Kaplanski und Levy, 2010). In Ländern,
in denen Fußball die beliebteste Sportart ist, kann die
Niederlage der Nationalmannschaft zu einem markanten
Rückgang an den Aktienmärkten dieses Landes führen
(Edmans et al., 2007). Und auch die Beeinflussung der Aktienmärkte
durch das Wetter – ob Bewölkung oder Sonnenschein
– konnte mehrfach beobachtet werden (Laughran
und Schultz, 2004; Hirshleifer und Shumway, 2003).
Die Stimmung der Anleger scheint hier mit der irrationalen
Angst vor Flugzeugabstürzen oder mit der Schmach einer
Niederlage der Nationalmannschaft ihres Landes verbunden
zu sein. Die daraus resultierende gedrückte Stimmung
führt dazu, dass Anleger die zukünftigen wirtschaftlichen
Verhältnisse pessimistischer einschätzen, weshalb sie eher
zum Verkauf als zum Kauf von Aktien neigen.
Diese Beispiele decken sich auch mit der Beobachtung von
Kent Daniel, Professor an der Columbia School of Business:
„Der Einfluss der Anlegeremotionen auf die Aktienkurse wird immer gravierender.“ Selbst der ehemalige Präsident
der US-Notenbank, Alan Greenspan, äußerte sich in einer
Anhörung vor dem Ausschuss des Repräsentantenhauses
zur Aufsicht und Regierungsreform im Oktober 2008 in
dieser Richtung. Zu der Vorstellung sich selbst korrigierender
Märkte sagte er: „Das gesamte intellektuelle Gebäude
(...) stürzte im Sommer vergangenen Jahres ein“. Die
Verhaltensökonomie steht vor der Herausforderung, Wege
zu finden, um die Menschen dabei zu unterstützen, nicht
dem Herdentrieb und den Fehlern des intuitiven Geistes zu
unterliegen. Hierzu bieten wir eine Lösung an.
Die Odysseus-Strategie
Der Ausdruck „Odysseus-Vertrag“ bezieht sich auf eine in
der Gegenwart getroffene Entscheidung, mit der man
sich an bestimmte Maßnahmen in der Zukunft bindet. Der
Begriff geht auf eine Strategie des griechischen Helden
Odysseus zurück, die er während seiner Heimkehr aus dem
Trojanischen Krieg anwandte, als sein Schiff an den Inseln
der Sirenen vorbeisegelte. Die Sirenen waren berüchtigt
für ihren Gesang, der so betörend war, dass die Seeleute,
die ihn hörten, hingerissen ins Meer sprangen, um die
Küste der Sirenen zu erreichen. Alle, die dieser Versuchung
erlagen, bezahlten dies jedoch mit ihrem Leben, und so
wusste kein Sterblicher um die Natur des Sirenengesangs.
Odysseus wollte der erste Sterbliche sein, der diesen
Gesang hört und überlebt. Er wies seine Gefährten an, seine
Ohren mit Bienenwachs zu verschließen, ihn fest an den
Schiffsmast zu fesseln und ihn nicht loszubinden, ganz
gleich, wie eindringlich er sie dazu auffordern sollte. Der
Plan funktionierte. Odysseus vernahm die Sirenenklänge,
seine Männer ignorierten sein Flehen, ihn loszubinden, und
als sie außer Hörweite waren, gab er ihnen ein im Voraus
vereinbartes Zeichen, dass sie den Wachs aus seinen
Ohren nehmen und ihn befreien konnten. Odysseus hatte
sich während eines neutralen Zeitpunkts, d. h. bevor er
den Gesang der Sirenen hören konnte, zu einem rationalen
Verhalten verpflichtet, und er stellte sicher, dass er an
seiner Entscheidung festhielt. Diese im Voraus getroffene
Fest legung geht auf den reflektierenden Verstand zurück.
Auf diese Weise könnten Finanzberater ihren Kunden empfehlen,
ihren reflektierenden Verstand zu nutzen, um eine
rationale Anlagestrategie festzulegen, bevor die Bewegungen
des Marktes möglicherweise zu irrationalen Reaktionen
des intuitiven Geistes verleiten. Der Erfolg dieser Odysseus-
Strategie wurde mehrfach belegt, u. a. mit dem Save More
Tomorrow-Programm (Thaler und Benartzi, 2004), mit einem
Pilotprodukt für das Mikrosparen auf den Philippinen (Ashraf
et al, 2006) und mit einem Programm zur Raucherentwöhnung,
in dem die Teilnehmer Geld auf einem Konto hinterlegen
mussten, das sie bei einem Rückfall verlieren würden (Giné et al, 2008). Eine im Voraus getroffene Festlegung eines
rationalen Investmentplans ist wichtig, da der Impuls des
intuitiven Geistes zur späteren Verhaltensänderung stark ist.
Im ersten Schritt des Prozesses unterstützt der Finanzberater
seine Kunden darin, die Psychologie des Handelns
von Privatanlegern zu verstehen, die zu schlechten
Entscheidungen führen kann. Der Berater weist darauf
hin, dass diese hinderlichen Impulse des intuitiven Geistes
menschlich sind, dass es jedoch eine andere, bessere
Vorgehensweise gibt, und zwar jene, die vom reflektierenden
Verstand geleitet wird.
Der zweite Schritt besteht darin, sich auf eine Anlagestrategie
zu verständigen, die ein akzeptables Gleichgewicht
zwischen risikoreichen und konservativen Instrumenten
aufweist. Als Finanzberater sind Sie hiermit bereits bestens
vertraut. Neu ist für die meisten Berater dagegen die Festlegung
eines Notfallplans. Hierbei handelt es sich um eine
im Voraus getroffene Übereinkunft, welche Maßnahmen
für den Fall eines bestimmten Ereignisses oder einer
bestimmten Bedingung zu ergreifen sind, beispielsweise bei
einem Anstieg oder einem Rückgang des Marktes um 25 %.
Der dritte Schritt der Odysseus-Strategie ist die Formalisierung
dieser Vereinbarungen in einem Festlegungs-Memorandum,
in dem der Kunde und der Finanzberater als Parteien auftreten.
Die Forschung zeigt zwar, dass Finanzberater weniger
von Impulsen des intuitiven Geistes beeinflusst werden, dass
aber auch sie nicht vollständig immun dagegen sind (Barber
und Odean, 2000). Als Unterzeichner des Memorandums
verpflichten sich Finanzberater zu derselben Vorgehensweise
wie ihre Kunden. Dieses Memorandum ist zwar nicht
rechtlich bindend (im Sinne eines Vertrags), die schriftliche
Fixierung der Vereinbarungen und deren Unterzeichnung
helfen jedoch den Beteiligten, den verlockenden Sirenenklängen
des intuitiven Geistes zu widerstehen. Es unterstützt
Kunden dabei, am vereinbarten Plan festzuhalten, wenn
Veränderungen der Marktgegebenheiten sie dazu verleiten
könnten, der Herde zu folgen und unkluge Entscheidungen
zu treffen. Den Finanzberatern hilft das Memorandum, die
getroffenen Vereinbarungen zu würdigen.
Verhaltensökonomie in der Praxis:
1. Unterstützen Sie Ihre Kunden dabei, die mitunter impulsive
Natur von Anlageentscheidungen zu verstehen.
2. Besprechen und vereinbaren Sie die zu treffenden Maßnahmen
beispielsweise für den Fall eines 25-prozentigen
Marktanstiegs oder -rückgangs.
3. Fertigen Sie ein Festlegungs-Memorandum an, das vom
Kunden und vom Berater zu unterzeichnen ist.
Autor: Prof. Shlomo Benartzi
Der Verhaltensökonom ist Mitbegründer
des „Behavioral Finance
Forums“, einer Gemeinschaft von
80 prominenten Wissenschaftlern
und Finanzinstituten, und ist zugleich
Chief Behavioral Economist des
Allianz Global Investors Center for
Behavioral Finance.
Behavioral Finance:
Behavioral Finance ist eine Weiterentwicklung der Behavioral Economics. Bei dieser Forschungsrichtung
werden psychologische Erkenntnisse genutzt, um wirtschaftliche Theorien aufzustellen.
Daniel Kahneman, der 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Arbeiten
im Bereich Behavioral Economics erhielt, wurde erst als zweiter Psychologe überhaupt mit dem
Preis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Unter anderem erhielt Kahneman den
Preis dafür, dass er nachgewiesen hat, welche große Rolle Emotionen und Bauchgefühl bei der
Entscheidungsfindung spielen. Dies kann unter bestimmten Umständen zu systematischen
und vorhersagbaren Fehlern führen (Kahneman, 2003).
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