Euro am Sonntag-Interview

Aktionärsschützerin Bergdolt: "Wirecard hat im DAX nichts verloren"

21.05.19 01:00 Uhr

Aktionärsschützerin Bergdolt: "Wirecard hat im DAX nichts verloren" | finanzen.net

Seit mehr als 25 Jahren legt die Aktionärsschützerin Daniela Bergdolt auf Hauptversammlungen den Finger in die Wunden der DAX-Konzerne. Dafür bekommt sie nicht nur ­Beifall. Ihr Fazit ist dennoch positiv: Heute sind die ­Aktionäre wacher, nehmen ihre Rechte wahr.

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von W. Ehrensberger, Euro am Sonntag

Ihre Anwaltskanzlei hat Daniela Bergdolt in einer versteckten Villa nahe dem Nymphenburger Schloss in München. Seit mehr als 25 Jahren tritt sie für die Aktionärsvereinigung DSW auf Hauptversammlungen (HV) der bayerischen DAX-Konzerne auf - von Siemens über BMW, Allianz und Munich Re bis Linde - und am 18. Juni erstmals auch bei Wirecard.

Akribisch bereitet sich die Rechtsanwältin auf ihre Auftritte vor, wie beispielsweise zum Saisonauftakt in der Münchner Olympiahalle vor tausenden Siemens-Aktionären. "Da habe ich immer noch Lampenfieber", gesteht die gebürtige Münchnerin, die zum Interview ihre drei Zwergpudel mitgebracht hat. Die legen sich nach kurzer Begrüßung brav in eine Ecke und geben während des gesamten Gesprächs keinen Mucks mehr von sich.

€uro am Sonntag: Wie wird man Rednerin auf Hauptversammlungen (HV)? Das bekommt man ja nicht unbedingt in die Wiege gelegt.

Daniela Bergdolt: Also in meinem Fall wohl schon. Mein Großvater war Vorstand der Löwenbräu AG, mein Vater dort Vorstandsvorsitzender. Ich kann mich erinnern, dass mein Vater schon von Hauptversammlungen erzählt hat, als ich noch ein Kind war. Und mein Vater hat immer in Aktien investiert - US-Aktien, deutsche Aktien. Eines Tages, als ich etwa zwölf Jahre alt war, hat er zu mir gesagt: Jetzt bist du alt genug, das zu verstehen. Jetzt kaufen wir deine erste Aktie. Jetzt überleg mal, was du kaufst.

Und worauf fiel die Wahl?

Wir haben lange diskutiert. Dann habe ich Mannesmann-Aktien gekauft, meine erste Aktie. Wir haben sie später mit einem netten Gewinn wieder verkauft. Damit war die Grundlage gelegt. Ich habe mich für Wirtschaft interessiert, und wir haben zu Hause immer über Wirtschaft diskutiert. Es war also in gewisser Weise schon in die Wiege gelegt.

Erinnern Sie sich an Ihren ersten HV-Auftritt?

Ja, das war Anfang der 90er-Jahre beim Werkzeughersteller Einhell. Ich kann mich erinnern, dass die Einhell-Führung genauso aufgeregt war wie ich, weil es zufällig auch deren erste Hauptversammlung war. Danach ging alles sehr flott: Im selben Jahr war ich auf der Siemens-HV, habe alle DAX-Unternehmen aus Bayern übernommen und war innerhalb von vier Monaten Landesgeschäftsführerin der DSW.

Und die Aufregung hat sich gelegt?

Die hat sich langsam gelegt. Aber ein gewisses Lampenfieber habe ich auch heute noch, vor allem bei der ersten HV der Saison. Das ist hier in München immer Siemens, in der voll besetzten Olympiahalle - da hat jeder Lampenfieber.

Wie bereiten Sie sich darauf vor?

Ich schreibe meine Reden nicht nur selbst, ich trage mein ausformuliertes Redeskript im stillen Kämmerlein auch laut vor, um Betonungen und Sprechpausen festzulegen, aber auch, um zu sehen, wie lange sie dauert. Das ist bei den Redezeitbegrenzungen heute sehr wichtig. Ich rede meist nicht frei, auch zur Sicherheit, weil einem später dies und jenes vorgehalten wird. Da kann ich anhand des Manuskripts dagegenhalten.

Haben Sie vor der HV Kontakt zum Vorstand?

Ja, es gibt immer wieder Kontakte. Teilweise kommen die Unternehmen auch auf uns zu und sprechen Punkte an, die sie auf der HV diskutieren wollen. Das ist gerade bei den Vergütungsfragen und anderen komplexen Themen oft der Fall.

Sie treten markant und mit strengem Ton auf. Haben Sie Theatererfahrung?

Nein, habe ich nicht. Aber ein HV-Auftritt hat schon was Theatralisches.

Spielt Ihre Schleife auch eine Rolle?

Wenn ich nicht gut gelaunt bin mit einem Unternehmen, wenn Mist gebaut wurde oder etwas schiefgelaufen ist, dann trage ich eine rote Schleife, um zu signalisieren, dass ich das nicht gutheiße. Wenn es gut läuft, dann ist die Schleife Ton in Ton mit meinem Anzug. Wenn es nur halbwegs läuft, dann nehme ich gelb und rot. Aber es gibt auch noch weitere Abstufungen ...

Sie waren die erste Frau, die für professionelle Investoren auf Hauptversammlungen gesprochen hat. Was bedeutet das für Sie?

Ich war nicht nur die erste Frau, die gesprochen hat, sondern bin auch noch blond. Anfangs hatte ich die Haare noch offen getragen und war nicht so streng gekleidet. Da hat es vonseiten mancher Vorstände und mancher Aktionäre alle möglichen Bemerkungen gegeben. Einen werde ich nie vergessen, der hat gesagt: "Ich habe Ihnen immer zugehört und dabei Ihre blonden Locken betrachtet." Da habe ich mir gedacht: "Du sollst nicht meine Locken betrachten, du sollst mir zuhören." Als Frau wird man leider noch immer in eine gewisse Schublade gesteckt. Dem wollte ich auch mit der Bekleidung entgegenwirken.

Was ist sonst hängen geblieben?

Es gab mal eine AG, denen ging es eigentlich nie gut und die waren auch nie börsenfähig. Deren Gründer war auch Hauptaktionär und Aufsichtsratschef. Als ich auf einer Hauptversammlung mal wieder mit denen geschimpft habe, kam der auf mich zu und sagte: "Aktionärssprecherinnen, die die Mentalität einer Putzfrau haben und in unserem Unternehmen nur den Dreck sehen, können wir hier nicht gebrauchen."

Wie haben Sie da reagiert?

Geschluckt. Und mir gedacht: Jetzt reicht es. Es gibt schon Reaktionen, wo man sich nur noch wundert. Ich werde auch heute noch von Vorständen und Aufsichtsräten angegriffen, die erstaunt sind, dass ich den Finger in die Wunde lege.

Hat es auch Fortschritte gegeben?

Die Vorstände sind schon offener geworden und auch lockerer. Mit der damaligen Deutschland AG hatten wir viel weniger zu bewirken, als das jetzt etwa bei Bayer möglich war. Damals konnte man auf der HV einen Kopfstand machen, aber man konnte nichts bewirken, weil die Abstimmung über die Verflechtungen der Deutschland AG abgesichert war. Die Wahrnehmung der DSW hat sich zum Positiven gewendet, unsere Stimme zählt heute mehr.

Was dachten Sie, als bei Bayer kürzlich zum ersten Mal ein amtierender DAX-Vorstandschef nicht entlastet wurde?

Dass es nicht mehr so gemütlich wird für die Vorstände. Die Zeit ist einfach vorbei, als man Entlastungen einfach so durchgewunken hat. Die Aktionäre werden nicht unbedingt aggressiver, aber sie werden wacher, sie werden sich ihrer Rechte mehr bewusst. Darauf muss sich jeder Vorstandschef einstellen.

Die Aktionäre nutzen ihre Rechte heute besser?

Auf jeden Fall. In früheren Zeiten haben wir als DSW immer Missstände angeprangert, haben Opposition gemacht, mit Nein gestimmt - und alle anderen haben geschaut und sind trotzdem wie die Lemminge weitergerannt und haben Ja gesagt. Das hat sich geändert. Wir werden als DSW heute wesentlich präsenter wahrgenommen. Was wir sagen, hat mehr Gewicht. Und die Aktionäre nutzen heute auch ihr Stimmrecht immer häufiger selbst.

Rechnen Sie bei weiteren DAX-Firmen mit Nichtentlastungen?

Bayer war da schon herausragend. Ich sehe derzeit kein weiteres Beispiel. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sich das wiederholt.

Bislang hat eine Nichtentlastung der Gremien auf einer HV keine rechtlichen Folgen. Sollte das Aktiengesetz geändert werden, um Konsequenzen zu ermöglichen, beispielsweise eine Ablösung des Vorstandschefs durch die HV?

Das wäre ein gravierender Einschnitt in das ganze System der Gewaltenteilung zwischen Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung. Nach dem Aktienrecht bestellt der Aufsichtsrat den Vorstand. Legt man die Bestellung oder Abberufung in die Hand der Hauptversammlung, würde dies das System der Gewaltenteilung verändern, das in den vergangenen hundert Jahren gut funktioniert hat. Deshalb würde ich die Bestellung nicht auf die Hauptversammlung übertragen. Aber man könnte sagen: Eine Nicht­entlastung hat die Konsequenz, dass auch der Aufsichtsrat deutlich mehr in den Fokus rückt und der nächsten Hauptversammlung zur Rechenschaft verpflichtet ist, warum er an dem Vorstand festhält.

Sollte der Gesetzgeber das Aktiengesetz entsprechend ändern?

Eine Gesetzesergänzung im Aktienrecht in diese Richtung wäre aus Sicht der DSW sinnvoll. Im Moment ist es nur ein Appell für die nächste HV. Bei Bayer hat sich der Aufsichtsrat hinter den Vorstand gestellt und ihn trotz der Nichtentlastung unterstützt. Ich möchte aber schon auf der nächsten Bayer-HV die Gründe präzise wissen und welche Maßnahmen ergriffen wurden.

Bei Bayer haben Investoren die Entlastung verweigert, aber dann der Führung das Vertrauen ausgesprochen. Ist so ein Denkzettel hilfreich?

Ich glaube, dass es das richtige Zeichen war und man mit der Situation so sehr gut umgegangen ist.

Der Einfluss von Stimmrechtsberatern wie ISS oder Glass Lewis wird immer größer, die Abstimmungsempfehlungen für Großinvestoren abgeben. Alle großen Fonds halten sich mittlerweile daran. Sollten ­Investoren nicht besser selbst ihre Entscheidungen treffen, statt sie auf ihre Berater auszulagern?

Ja, ich würde mir wünschen, dass sie wieder mehr selbst die Entscheidungen treffen. Dazu gehört, dass man als Fonds auch selbst auf der HV präsent ist, um auch in der Versammlung reagieren zu können.

Inwiefern reagieren?

Die Stimmrechtsberater geben ihre Empfehlungen sehr frühzeitig ab - und die sind dann meist nicht mehr änderbar. Es fehlt an Flexibilität. Wir bei der DSW geben auch Stimmrechtsempfehlungen ab, behalten uns aber bei kniffligen Fragen vor, auf der HV anders abzustimmen.

Das heißt, wenn der Vorstand auf Kritikpunkte ernsthaft eingeht ...

... dann kann ich von einer Empfehlung "Nein" in eine Empfehlung "Ja" wechseln. Das können die Stimmrechtsberater nicht mehr. Daher fordern wir insbesondere institutionelle Investoren auf, ihr System zu überprüfen, damit diese noch während der HV flexibel auf Neuigkeiten reagieren können.

Wie bewerten Sie den zunehmenden Einfluss sogenannter aktivistischer Investoren wie den des US-Hedgefonds Elliott bei Thyssenkrupp?

Ich will die Aktivisten nicht per se verteufeln, auch weil es manchmal ganz gut ist, wenn jemand von außen mit neuen Ideen in ein Unternehmen kommt. Die Aktivisten gehen ja nur in Unternehmen, die sie für unzureichend geführt halten und bei denen sie Kurspotenzial sehen. Eigentlich müsste der Vorstand manchmal selbst auf diese Ideen kommen, dann müsste ihn niemand von außen anstoßen. Ich bin gegen Zerschlagung aus reiner Profitgier. Aber bei manchen Vorständen habe ich schon den Eindruck, dass sie ­einen Wake-up-Call benötigen.

Hat den auch BMW auf der Hauptversammlung am Donnerstag nötig?

Mit BMW bin ich nicht zufrieden. Die haben sich zu lange auf ihrer "Wir sind sowieso gut"-Mentalität ausgeruht und die Zeichen der Zeit zu spät erkannt. Sie waren mal richtige Vorreiter in der Elektromobilität, haben dann aber Angst vor der eigenen Courage bekommen. Jetzt ist BMW aus dem Tritt und muss erheblich in dieses Segment investieren. Auch das laufende Kartellverfahren ist eine Katastrophe. Die gebildeten 1,4 Milliarden Euro Rückstellungen sind eine Katastrophe - und werden bei Weitem nicht reichen. Und dann soll es eine Kapitalerhöhung nur mit Vorzügen geben. Dem werden wir nicht zustimmen.

Der Zahlungsabwickler Wirecard sorgt seit seinem DAX-Aufstieg im Herbst 2018 für Wirbel. Wird daraus je ein normaler DAX-Konzern?

Wirecard ist ein DAX-Unternehmen, das nicht DAX-fähig ist, weil es nicht die Struktur eines DAX-Unternehmens hat - nicht in der Compliance, nicht bei Corporate Governance, nicht bei internen Kontrollsystemen. Ich befürchte, dass die ziemlich gepatzt haben in Singapur und dass da noch mehr hochkommt. Der Vorstand hat das zu lange unterschätzt. Da steckt einfach zu viel Start-up-Mentalität drin, das macht anfällig für Vorwürfe und Fehler. Wenn die Finanzaufsicht Wirecard mit dem Aussetzen der Leerverkäufe nicht geholfen hätte, dann wäre der Kurs wahrscheinlich noch viel tiefer abgestürzt. Das alles hat der Aktie, der Börse und der Aktienkultur in Deutschland nicht gutgetan.

Muss die DAX-Aufnahme strenger geregelt werden?

Die Deutsche Börse sollte Wirecard tatsächlich zum Anlass nehmen, die DAX-Aufnahmekriterien zu überprüfen. Wirecard hat deutlich gezeigt, dass Börsenumsatz und Marktkapitalisierung des Streubesitzes als Aufnahmekriterien allein nicht mehr ausreichen.

Siemens hat angekündigt, den Konzern aufzuspalten und die Energiesparte separat an die Börse zu bringen. Halten Sie das für sinnvoll?

Das ist die Flucht nach vorn und bestätigt die Strategie von Konzernchef Joe Kaeser, den Konzern komplett digital auszurichten. In dieses Konzept passen Kraftwerke und Turbinen nicht rein. Die Aufteilung sehe ich insgesamt positiv. Genau weil Kaeser diese strategischen Schritte selbst anpackt, hat er auch keine Probleme mit aktivistischen Investoren wie Elliott.

Vita:

Aktien in der Wiege

Daniela Bergdolt ist gebürtige Münchnerin. Ihr Vater war von 1962 bis 1976 Vorstandschef der Löwenbräu AG. Schon ­während ihres Jurastudiums war ihr klar, dass die klassische Anwaltslaufbahn nichts für sie ist. Als die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) Anfang der 90er-Jahre Mitarbeiter suchte, bewarb sich die frischgebackene Juristin. Noch im selben Jahr besuchte Bergdolt für die DSW die ­ersten Hauptversammlungen, ­darunter Siemens, und stieg rasch zur Landesgeschäfts­führerin Bayern auf. Heute ist sie DSW-Vizepräsidentin.








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Bildquellen: Tobias Hase/DSW, CHRISTOF STACHE/AFP/Getty Images

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