Zwischen Schimmel und Stimmenfang: Wie Sozialbetrug bekämpft wird

25.09.25 16:28 Uhr

HAGEN (dpa-AFX) - Um den Schimmel unter der abgeblätterten Tapete im Schlafzimmer kümmert sich der Vermieter seit Monaten nicht, im engen Hausflur vor dem längst kaputten Aufzug stapelt sich Sperrmüll bis zur Decke. Im feuchten Keller des Mehrfamilienhauses in Hagen im Ruhrgebiet steht ein speckiges Kunstledersofa neben einem provisorischen Nachtlager auf einer alten Sitzbank - ein benutzter Aschenbecher auf dem Tisch zeugt davon, dass dies ein Wohnraum ist, wo eigentlich keiner sein sollte.

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Razzia im Ruhrgebiet: Behörden zeigen Präsenz

An diesem Tag findet in Hagen - wie in sieben weiteren Städten des Ruhrgebiets - eine großangelegte Kontrollaktion der Behörden statt. Das Ziel: Kriminellen Geschäftsmodellen mit Schrottimmobilien und Sozialbetrug zu Leibe rücken. Es sind Missstände, mit denen fast alle Ruhrgebietskommunen seit Jahren zu kämpfen haben - und die jetzt im Kommunalwahlkampf in Nordrhein-Westfalen erneut zum prägenden Thema geworden sind.

Auch die AfD dürfte mit den plakativen Bildern von heruntergekommenen Wohnhäusern, vermüllten Hausfluren und dem Vorwurf des systematischen Sozialleistungsmissbrauchs für den ersten Wahlgang vor eineinhalb Wochen erfolgreich Wähler mobilisiert haben. In drei der betroffenen Städte - Gelsenkirchen, Hagen und Duisburg - kann die in Teilen rechtsextreme Partei einen Kandidaten in die Stichwahl um den Oberbürgermeisterposten am Sonntag schicken.

Armutsmigration als Geschäftsmodell

So ist die großangelegte Vor-Ort-Kontrolle mit Ordnungsamt, Feuerwehr, Zoll, Bauaufsicht und Polizei - begleitet durch einen großen Tross aus Kamerateams und Journalisten - auch ein deutliches Signal, dass man die Probleme ernst nehme und angehe. Auch Landesbauministerin Ina Scharrenbach (CDU) begleitet die Aktion in Hagen. Ihr Ministerium koordiniert die Aktion. Nordrhein-Westfalen gehe mit allen verfügbaren Mitteln gegen Problemimmobilien und Ausbeutung vor, betont sie.

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Von Scharrenbachs Partei CDU tritt am Sonntag Dennis Rehbein um das Amt des künftigen Oberbürgermeisters im Hagen an. Er hatte in der ZDF-Talkshow "Markus Lanz" davon berichtet, dass ihm Bürger spiegelten, sie fühlten sich in der Stadt rund um den Hauptbahnhof wie in "Klein Bukarest". Dort, wo heute auch kontrolliert wird, leben besonders viele Familien in abbruchreifen Schrotthäusern. Dahinter stehe "organisierte Kriminalität", so Rehbein.

Unisono beschreiben die Oberbürgermeister und -meisterinnen des Ruhrgebiets das gleiche Phänomen: Viele der Familienmitglieder gehen nur einige Stunden einer Arbeit nach und stocken dann ergänzende Sozialleistungen auf.

Die Unterbringung in Schrottimmobilien, in denen die Zugewanderten - meist mangels Alternativen - hausen, ist dabei längst Teil des kriminellen Geschäfts.

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Ministerin Scharrenbrach beschreibt es so: "Besitzer von Problemimmobilien sorgen für die gezielte Zuwanderung von Armutsmigranten unter Ausnutzung des Arbeitnehmerfreizügigkeitsrechts." Seit dieses EU-Recht des uneingeschränkten Zuzugs von Arbeitnehmern auch für Bulgarien und Rumänien gilt, hat sich die Zahl der in NRW lebenden Menschen von dort in etwa auf mehr als 276.000 verdreifacht - Dynamik zuletzt abnehmend, wie es aus dem Bauministerium heißt.

"Die Leute werden viel zu schnell in die Sozialleistungssysteme aufgenommen, ein Datenaustausch zwischen Meldebehörden und Sozialbehörden existiert nicht." Da bleibe nur der Hebel solcher Kontrollen: "ein aufwendiges Hinterherarbeiten, um unberechtigte Leistungsempfänger wieder aus dem System zu kriegen", so Scharrenbach.

Sebastian Kurtenbach, Professor für Politikwissenschaft an der FH Münster und Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Zuwanderung aus Südosteuropa - und den Herausforderungen für Kommunen vor Ort. Er glaubt, dass die Probleme vor allem daher rühren, dass "armutsgeprägte Mobilität", wie er es nennt, in Europa nicht mitgedacht worden sei.

"Im Klartext bedeutet das, dass EU-Zugewanderte im Zweifel durch alle Netze fallen. Das führt in den Kommunen zu erheblichen Problemen, die mit Armut einhergehen". Er nennt etwa fehlende Krankenversicherungen und unklare Wohnverhältnisse als Beispiel: "Das reicht bis hin zu Autos, in denen übernachtet wird."

In "einzelnen Straßenzügen einzelner Quartiere" komme es zu belastenden Situation durch Lärm und Verschmutzung und dadurch zu Konflikten vor Ort, sagt Kurtenbach. "Das erzeugt Bilder, die dann in der Öffentlichkeit kursieren. Häufig steckt aber mehr dahinter, als auf den Bildern zu sehen ist", etwa fehlende Möglichkeiten der Müllentsorgung durch den Vermieter, betont er.

Und: Betrachte man die Größe der Gruppe der Zugewanderten aus Südosteuropa, gebe es zwar ernstzunehmende Fälle, die die Kommunalverwaltungen vor Herausforderungen stellten, sie seien aber kein "ausgreifendes Phänomen". Angesichts des Wahlkampfes sei die Debatte nun aufgeheizt, "da man sich profilieren kann", so seine Einordnung.

Auch Bundespolitik will "mafiöse Strukturen" in den Blick nehmen

Auch Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas, selbst Duisburgerin, hat unlängst angekündigt, den Sozialmissbrauch, den es auch in ihrer Heimat in manchen Gegenden gebe, stärker zu bekämpfen. Dahinter steckten "ausbeuterische Strukturen", erklärte die SPD-Politikerin vor einigen Monaten im "Stern"-Interview, "die Menschen aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland locken und ihnen Mini-Arbeitsverträge anbieten. Gleichzeitig lassen diese Menschen Bürgergeld beantragen und schöpfen die staatlichen Mittel dann selbst ab. Das sind mafiöse Strukturen, die wir zerschlagen müssen."

Wie das gehen könne, ist seit Jahren Gegenstand zahlreicher Projektgruppen und Taskforces auf Landes- wie auf kommunaler Ebene: Allein in Hagen gibt es laut dortigem Ordnungsamt Kontrollaktionen wie die heutige seit zehn Jahren. Auch Gelsenkirchen kontrolliert Problemhäuser mit seinem "Interventionsteam EU-Ost" seit 2014. Die anderen Städte verfolgen ähnliche Strategien.

Fördermittel für Abriss und Neubau

2021 hat das Landesbauministerium mit dem Wohnraumstärkungsgesetz versucht, Kommunen das präventive Einschreiten gegen Schrottimmobilien zu erleichtern, indem es Mindestanforderungen festlegte und Kontrollmöglichkeiten stärkte. Viele Städte versuchen auch, solche Gebäude zu kaufen und abzureißen. Das Land NRW unterstützt das mit Fördermitteln in Millionenhöhe.

Der Politikwissenschaftler Kurtenbach ist überzeugt: "Die alte Weisheit, dass Integration vor Ort stattfinden muss, stimmt nach wie vor, aber die Kommunen müssen auch in die Lage versetzt werden, das zu bewerkstelligen." Das sei offensichtlich nicht überall der Fall. "Die Folge sind Frust, Konflikt und die Hinwendung zu Populisten", sagt Kurtenbach./fld/DP/stw