Eine Stufe unter Kriegsrecht

Türkei im Ausnahmezustand: Welche Rechte hat die Erdogan-Regierung jetzt?

21.07.16 11:51 Uhr

Türkei im Ausnahmezustand: Welche Rechte hat die Erdogan-Regierung jetzt? | finanzen.net

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat nach dem gescheiterten Putsch den Ausnahmezustand in der Türkei verhängt. Welche Machtbefugnisse ermöglicht ihm diese Maßnahme jetzt?

Für die nächsten drei Monate befindet sich die Türkei im Ausnahmezustand. Diese Maßnahme gab der türkische Präsident Erdogan am Mittwochabend bekannt, nachdem ein Putsch gegen seine Regierung vor dem Wochenende niedergeschlagen worden war.

Ausnahmezustand stattet Regierung mit mehr Macht aus

Verhängt ein Staatschef über sein Land den Ausnahmezustand, sichert er sich für einen begrenzten Zeitraum Machtbefugnisse, über die er vor der Maßnahme nicht verfügte. Der Ausnahmezustand ist eine Stufe unter dem Kriegsrecht. Die Regierung hat nun einen größeren Handlungsspielraum und ist flexibler bei der Ergreifung von Maßnahmen. Verhängt werden darf der Ausnahmezustand laut Artikel 120 der türkischen Verfassung bei "weit verbreiteten Gewaltakten zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung" oder bei einem "gravierenden Verfall der öffentlichen Ordnung". Als solche stuft Erdogan den versuchten Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs gegen ihn und seine Regierung ein.

Diese Maßnahmen darf Erdogan aufgrund des Ausnahmezustandes ergreifen

Für Erdogan und seine Regierungsmannschaft bedeutet der Ausnahmezustand in der Türkei konkret eine Ausweitung ihrer Macht. Grundrechte der Bürger können während der Dauer eingeschränkt oder ausgesetzt werden, zudem muss sich die Regierung nicht zwangsläufig an Garantien halten, die in der Verfassung verankert sind. Nach dem Gesetz zum Ausnahmezustand dürfen nun Ausgangssperren verhängt werden. Zeitgleich kann der Fahrzeugverkehr verboten werden, auch ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot kann die Regierung nun verhängen. Verdächtige Personen, Immobilien und Fahrzeuge dürfen von türkischem Sicherheitspersonal durchsucht - eventuell gefundene Beweismittel dürfen beschlagnahmt werden. Der Ausnahmezustand ermöglicht darüber hinaus die Kontrolle des Land-, See- und Luftverkehrs sowie die Einschränkung der Pressefreiheit. Konkret darf die Erdogan-Regierung während des Ausnahmezustandes alle Arten von Presseveröffentlichungen kontrollieren, einschränken und verbieten - auch Zeitungen und Magazine könnten mit einer Auflage versehen und deren Erscheinen von einer Genehmigung abhängig gemacht werden.
Zudem gibt das Gesetz zum Ausnahmezustand dem Präsidenten das Recht, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. Das Parlament muss diese absegnen, ein Verfassungsgericht hat aber keinerlei Handhabe, gegen die Dekrete vorzugehen.

Recht auf Leben bleibt unverletzlich

Bei allen Maßnahmen, die die Regierung ergreift, bleibt das Recht auf Leben unverletzlich. Zudem muss sich Erdogan an Verpflichtungen nach internationalem Recht halten und darf keine Strafen rückwirkend verhängen. Unschuldig bleibt auch während der Zeit des Ausnahmezustandes jeder, dessen Schuld nicht von einem Gericht festgestellt wurde.

Erdogan beruhigt sein Volk

Trotz der drastisch erweiterten Machtbefugnisse, über die der türkische Präsident während die Dauer des verhängten Ausnahmezustandes verfügt, schickt Präsident Erdogan Beruhigungspillen in Richtung des eigenen Volkes. "Habt keine Sorge", erklärte er in einer Ansprache am Mittwochabend. Er garantiere dafür, dass es während des Ausnahmezustandes keine Einschränkungen für das Volk geben werde. Stattdessen sei die Maßnahme zum Schutz des Volkes und "nicht gegen Rechte und Freiheiten" gerichtet. Es handele sich nicht um die Ausrufung des Kriegsrechts, die Menschen könnten normal weiterleben. "Wir sind der Marktwirtschaft verpflichtet" verkündete Erdogan auch mit Blick auf die Talfahrt bei der türkischen Lira, die sich nach den neusten Ereignissen unvermindert fortgesetzt hat.

Erdogan-Gegner Gülen und seine Anhänger im Blick

Der Ausnahmezustand ziele konkret auf Anhänger des Predigers Fethullah Gülen ab, den man als führenden Kopf hinter dem missglückten Putschversuch vom Wochenende vermutet. Das bestätigte Vize-Ministerpräsident und Regierungssprecher Numan Kurtulmus gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Abend nochmals. Demnach soll insbesondere die Erlassung von Dekreten genutzt werden, um gegen Anhänger Gülens, der selbst im US-Exil lebt, vorgehen zu können. "Der Ausnahmezustand wird nur dazu genutzt, die Parallelstruktur zu bekämpfen", so Kurtulmus am Abend. Er betreffe nicht das Volk, nur den Staat.

Auch Frankreich im Ausnahmezustand

Auch in Frankreich hatte Präsident Hollande am 13. November vergangenen Jahres den Ausnahmezustand verhängt, nachdem es in Paris zu Terroranschlägen gekommen war. Mehrfach wurde die Regelung vom Parlament verlängert. Nach dem jüngsten Anschlag von Nizza dürfte die Maßnahme nun noch länger andauern. Mit Blick auf Frankreich verteidigte Erdogan die Verhängung des Ausnahmezustandes in der Türkei und wies Kritik und mahnende Worte von Seiten der EU zurück. Schon bei weniger gravierenden Anlässen als denen in der Türkei hätten andere europäische Länder den Ausnahmezustand verhängt. "Sie haben definitiv nicht das Recht, die Türkei zu kritisieren."
Auch der französischen Regierung wird im Zusammenhang mit dem verhängten Ausnahmezustand mehr Macht eingeräumt. So darf Präsident Hollande und seine Regierungsmannschaft unter anderem Veranstaltungsorte und Treffpunkte schließen lassen, Hausarreste verhängen und ohne richterlichen Beschluss Durchsuchungen anordnen. Zudem dürfen in Frankreich Schutzzonen eingerichtet und Waffen eingezogen werden. Auch die Sperrung von Websites liegt nun im Ermessen der Regierung. Bislang hat Hollande die Maßnahmen zur Aufklärung der Terroranschläge allerdings nur ansatzweise genutzt. In welchem Maße sein türkischer Kollege Erdogan die vermehrten Machtbefugnisse für sich einsetzen wird, bleibt abzuwarten.

Redaktion finanzen.net

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