Niederländer sagen "Nein" zu Assoziierungsabkommen - Kommt der "Nexit"?

Die ablehnende Haltung der Niederländer beim Referendum über das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine hat nach Einschätzung der Commerzbank noch eine größere Tragweite.
Kritiker und Gegner der Europäischen Union werten das Nein der Niederländer zum EU-Handelsabkommen mit der Ukraine als Bestätigung. Britische EU-Skeptiker sahen in der breiten Ablehnung ein positives Zeichen für das Referendum über die EU-Mitgliedschaft ihres Landes im Juni. Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament, Manfred Weber, forderte am Donnerstag mehr Bürgernähe und -beteiligung in der EU und sah in dem Ergebnis vor allem eine Niederlage für die Regierung in Den Haag. Nach Darstellung der russischen Regierung zeigt das Ergebnis hingegen die Skepsis der Europäer gegenüber dem politischen System in der Ukraine. Dessen Präsident Petro Poroschenko kündigte in Tokio an, dass sich sein Land trotzdem weiter in Richtung EU bewegen werde.
Wie es mit dem Abkommen weitergeht, das die übrigen 27 EU-Staaten schon ratifiziert haben, war zunächst ungewiss. EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte, er warte auf eine Erläuterung des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, wie dessen Regierung nun vorgehen wolle. Die schon eingeleiteten Erleichterungen für die Ukraine aus dem Abkommen blieben in Kraft.
Bei dem von EU-Skeptikern organisierten Referendum hatten am Mittwoch 64 Prozent engere Beziehungen zur Ukraine abgelehnt. Die Wahlbeteiligung lag bei 32 Prozent und damit knapp über dem nötigen Minimalwert. Das offizielle Endergebnis stand am Donnerstagvormittag noch aus. Sollte das Quorum erreicht werden, will Ministerpräsident Rutte die Ratifizierung des Abkommens überdenken. Auch wenn das Ergebnis der Volksbefragung nicht bindend sei, könne er es nicht einfach ignorieren, erklärte Rutte im Fernsehen. Es sei eindeutig. Er kündigte an, sich Zeit zu nehmen, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Dies könne Wochen dauern. Spätestens im März 2017 stehen in den Niederlanden Parlamentswahlen an.
Rutte müsste Änderungen an dem Ukraine-Abkommen durch beide Kammern des Parlaments bringen. Im Senat verfügt seine ohnehin fragile Koalition aber über keine Mehrheit. Ein Kompromiss müsste zudem die Zustimmung der EU-Institutionen, der anderen Mitgliedsländer sowie der ukrainischen Regierung finden. Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders sah deshalb schon den Anfang vom Ende der Regierung Rutte kommen. "Wenn zwei Drittel der Wähler 'Nein' sagen, dann ist das eine Abstimmung der Menschen gegen die Elite in Brüssel und Den Haag", twitterte er.
ZWEITER DENKZETTEL DER NIEDERLÄNDER
Das Nein der Niederländer gilt als Spiegel für die Unzufriedenheit und Skepsis mit der Europäischen Union. EU-Gegner hatten das Referendum als Möglichkeit präsentiert, der EU und der aktuellen Einwanderungspolitik einen Denkzettel zu verpassen.
Morgenluft witterten die Befürworter eines EU-Austritts Großbritanniens. Der Chef der EU-skeptischen Ukip-Partei, Nigel Farage, twitterte: "Hurra!" Die Briten stimmen am 23. Juni über den Verbleib ihres Landes in der EU ab.
Auch über die EU hinaus schlug der Ausgang des Referendums in den Niederlanden, die derzeit den EU-Ratsvorsitz haben, Wellen. Eine erste Version des Abkommens zwischen der Ukraine und der EU hatte 2013 den Sturz des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch nach sich gezogen. Die anschließende Hinwendung der neuen ukrainischen Regierung zur EU hatten zum Bruch mit Moskau, der Annexion der Krim durch Russland und dem Aufstand prorussischer Rebellen in der Ostukraine geführt. Der Ausgang des Referendums zeige nun, was die Europäer über das politische System in der Ukraine dächten, twitterte der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew.
FLIEGENDE HOLLÄNDER?
Volkswirte sehen im Nein der Niederländer vor allem einen Denkzettel für die Regierung und einen Beleg für die zurückhaltende Einstellung gegenüber der EU. "Einen Austritt aus der EU werden die Niederländer wohl kaum anstreben", sagte Commerzbank-Ökonom Marco Wagner. "Wohl aber dürfen sie fortan versuchen, wieder mehr Entscheidungsgewalt auf die nationale Ebene - weg von Brüssel - zu verlagern und im nationalen Interesse mehr Vorteile und Vergünstigungen zu erhalten." Es ist nicht das erste Mal, dass die Niederländer in anderen EU-Hauptstädten für Kopfzerbrechen sorgen. So lehnten sie 2005 den Entwurf für eine EU-Verfassung ab, so dass sich die EU-Staaten stattdessen mit dem Vertrag von Lissabon behelfen mussten.
Unklar ist die Haltung der 68 Prozent der wahlberechtigten Niederländer, die nicht an der Befragung teilgenommen haben. Einige Beobachter werteten dies als weiteres Zeichen der EU-Skepsis in den Niederlanden, zumal Rutte dazu aufgerufen hatte, mit "Ja" zu stimmen und nicht dazu, der Wahl fernzubleiben.
Der europapolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Norbert Spinrath, sieht in der geringen Wahlbeteiligung ein grundsätzliches Problem für Abstimmungen über EU-Themen: So hätten nur 2,5 Millionen der Niederländer Nein zu einem Abkommen gesagt, dem die Regierungen und die Parlamente aller anderen EU-Staaten sowie das EU-Parlament bereits zugestimmt hätten. Diese repräsentierten etwa 380 Millionen Wahlberechtigte. "Dies zeigt, wie problematisch Referenden sind, die über rein nationale Belange hinausgehen."
(Dow Jones Newswires)(Reuters)Weitere News
Bildquellen: jan kranendonk / Shutterstock.com, Kaonos / Shutterstock.com